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LAIRE/249: VW-Abgasskandal - Kollateralschaden des Individualverkehrs (SB)


Wer bestimmt aus welchem Interesse heraus den Grenzwert für (Er-)Stickoxide?


Da die individuelle Mobilität ein Geschäft ist, mit dem milliardenschwere Profite generiert werden können, sollte es niemanden wundern, wenn ein Unternehmen alle Mittel einsetzt, von denen es sich Vorteile erhofft. Beispielsweise durch die Manipulation von Abgaswerten, um die Grenzwerte des Gesetzgebers einzuhalten und zusätzlich als Bonus noch die Konkurrenz auszustechen. Die Rede ist vom VW-Skandal, dessen Ausmaß zur Zeit noch gar nicht absehbar ist, wurde doch allem Anschein nach nicht nur bei den Stickoxidwerten von 2-Liter-Diesel-Motoren geschummelt, sondern bei anderen Dieselfahrzeugen auch der vorgeschriebene CO2-Wert verfehlt. Selbst Benziner sind in den Strudel der Enthüllungen geraten.

Das alles sind keine Kavaliersdelikte. Hier geht es um Gesundheit und Leben von Menschen. Niemand vermag bestimmte Todesfälle auf die erhöhten Schadstoffemissionen zurückzuführen, aber nur weil die Namen und Gesichter der Verstorbenen oder Erkrankten in der Statistik verschwinden, bedeutet das nicht, daß es sie nicht gibt.

In einer US-Studie wurde versucht, die wahrscheinliche Zahl der als Folge der VW-Manipulation frühzeitig Verstorbenen in den USA zu berechnen. Es sind 59. Sie hätten ein längeres Leben gehabt, wenn es die von VW eingestandenen Täuschungen nicht gegeben hätte. Sollten die Verfehlungen bis Ende 2016 korrigiert sein, werden voraussichtlich um die 130 Personen weniger vorzeitig sterben. [1]

Die Forschergruppe des Massachusetts Institute of Technology und der Universität Harvard in Cambridge gingen davon aus, daß die Stickoxidemissionen der betreffenden Dieselfahrzeuge um den Faktor 10 bis 40 über dem von der US-Umweltschutzbehörde EPA liegen. Auf dieser Basis ermittelten sie die Verkaufszahlen der Fahrzeuge, schätzten die gefahrenen Kilometer pro Jahr und die dabei emittierten Schadstoffmengen ab. Auch wurden medizinische Daten wie Sterberate und Mortalität eingerechnet.

Die Forscher räumen ein, daß alle Berechnungsschritte mit Unsicherheiten behaftet sind. Dem ist auf ganzer Linie zuzustimmen. Denn, wie einige VW-Ingenieure erklärten, die Vorgaben ihres (damaligen) VW-Chefs Martin Winterkorn seien gar nicht zu erfüllen gewesen.

Davon ausgehend könnte man annehmen, daß VW die jetzt in Verruf geratenen Autos gar nicht hätte verkaufen können, die Kundinnen und Kunden also andere Modelle, vielleicht von anderen Herstellern erworben hätten. Nur einmal angenommen, die Bremsen dieser Autos wären nicht ganz so gut wie die von Volkswagen, dann wären womöglich noch mehr Menschen gestorben, nur eben aufgrund eines anderen Faktors. Mit so einer Erweiterung der Annahmen würde eine Rechnung, wie sie von der US-Studie aufgestellt wurde, hinfällig; allzu groß sind die Unsicherheiten aufgrund der möglichen Einflußfaktoren. Mit diesen Anmerkungen soll VW überhaupt nicht von seiner Verantwortung freigesprochen, sondern es soll lediglich aufgezeigt werden, wie problematisch das Untersuchungsergebnis ist, sobald man von ihm belastbare Zahlen erwartet.

Es wird Zeit, daß die Debatte auf eine andere Ebene gehoben wird. Selbst wenn VW und alle anderen Autokonzerne die Abgaswerte in den USA und der EU eingehalten hätten und weiter einhalten, würden Menschen aufgrund des Schadstoffausstoßes vorzeitig sterben. Vergleichbar mit radioaktiver Strahlung sind auch die Grenzwerte für Luftschadstoffe in erster Linie politisch determiniert und somit Ausdruck dessen, was die Politik als Kollateralschaden des Individualverkehrs noch für zumutbar hält.

Wohingegen für diejenigen, die auch dann noch vorzeitig an den Luftschadstoffen des Autoverkehrs sterben, wenn sich alle Unternehmen an die Regeln gehalten hätten, die Grenzwerte bei Null liegen dürften.

Die Verantwortung des VW-Konzerns für die zusätzliche Schadstoffbelastung ist unstrittig; für mögliche Schadenersatzforderungen kann eine solche Studie nützlich sein. Eine andere, grundlegende Frage wird durch sie jedoch nicht berührt, nämlich die, ob und wofür das Auto als individuelles, ressourcenverbrauchendes und potentiell gesundheitsgefährdendes Verkehrsmittel überhaupt benötigt wird.

Um so ein Auto fahren zu können, bedarf es einer Kultur der individuellen, schnellen Fortbewegung, für die eine Gesellschaft bestimmte, unter großem Aufwand herzustellende und aufrechtzuerhaltende Verkehrswege und Parkplätze, eine Zuliefer- und Entsorgungsindustrie, und vieles mehr bereitstellen muß. Nicht zuletzt erwirtschaften die Erdöl-, Stahl-, Aluminium- und Halbleiterindustrie und viele, viele Industriezweige mehr einen beträchtlichen Teil ihres Umsatzes daraus, daß sie den Individualverkehr beliefern.

Die Lohnempfänger wenden meist einen nicht zu unterschätzenden Teil ihres Einkommens nur dafür auf, ein Auto erwerben und finanziell unterhalten zu können ... vor allem, damit sie regelmäßig zur Arbeit fahren können!

Die Steigerung der Produktivkraft im Zeitalter der Automobilität wie auch allgemein des sogenannten technologischen Fortschritts hat die Menschen nicht etwa mehr und mehr vom Arbeitszwang emanzipiert, sondern sie im Gegenteil noch tiefer der Not einer Produktivkraftentwicklung unterworfen, deren Ernte an anderer Stelle eingefahren wird. Hieran sind die Menschen insofern beteiligt, als daß sie den Nutzen des Automobils nicht in Frage stellen und selber die Emissionen von Luftschadstoffen erzeugen, die für sie gesundheitlich ruinös sind.


Fußnoten:

[1] http://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/10/11/114005/pdf

10. November 2015


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