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LAIRE/224: Golfstrom als Wärmelieferant für Europa überschätzt (SB)


Die Wissenschaft modifiziert ihre Modelle

Sicherung der Deutungshoheit in Zeiten klimatischer Umbrüche



Der Golfstrom hat keinen so entscheidenden Einfluß auf das Klima in Westeuropa, wie man früher angenommen hat. Zu dieser Einschätzung gelangen Wissenschaftler anhand neuer Berechnungen sowie nach der Auswertung von Meßergebnissen des Projekts Argo, in dem die Temperatur- und Salzgehaltdaten von mehr als 3000 über die Weltmeere verteilten Bojen erfaßt werden. Demnach verdankt Westeuropa sein relativ mildes Klima weniger dem Wärmetransport mittels Meeresströmung, sondern vielmehr einem kräftigen Wind in etwa 10 bis 15 Kilometer Höhe oder auch einem bestimmten Verhältnis von Hoch- und Tiefdruckgebieten, wie das Magazin "Spektrum der Wissenschaft" unter Berufung auf mehrere Forschungstudien, die seit Beginn des vergangenen Jahrzehnts erschienen sind, berichtete. [1]

Die wissenschaftlichen Vorstellungen aus der jüngeren Zeit zur Bedeutung des Golfstroms für das Klima in Europa sind nicht vollkommen neu oder, anders gesagt, das alte "Golfstrom-Modell", das auf den Ozeanographen Matthew Fontaine Maury (18063) zurückgeht und seitdem durch Beobachtungen wiederholt bestätigt wurde, enthielt so große Auslassungen, daß reichlich Platz blieb, damit sich Wissenschaftler mit neuen Erkenntnissen plazieren konnten, ohne die Arbeit ihrer Kollegen im Grundsatz in Frage stellen zu müssen.

Nach der früheren Vorstellung, wie sie "Spektrum der Wissenschaft" noch vor kurzem selber verbreitete [2], befördert der Golfstrom die in den subtropischen Westatlantik eingestrahlte Sonnenenergie zunächst an der Küste der USA nach Norden und dann als sogenannter Nordatlantikstrom quer durch den Ozean nach Europa, wobei sich die Strömung mehrfach verzweigt und ihre Ausläufer unter anderem zwischen Island und Grönland, Grönland und Spitzbergen sowie Spitzbergen und Skandinavien hindurchfließen.

Dieses System wird gern mit einer Zentralheizung verglichen. In diesem Bild wären die Subtropen der Heizkessel, Golf- und Nordatlantikstrom das Heizkörperrohr und die verschiedenen Abzweige die Heizkörperrippen. Aber welches Modell auch immer zugrundegelegt wird, letztlich bildet die Luft das Trägermedium für die Wärme.

Nach dem klassischen Modell sind es die unteren Luftschichten, die vor den Küsten Europas aufgeheizt werden und die Wärme zum Festland bringen. Nach den neuen Modellvorstellungen geschieht das zwar immer noch, aber größere Wärmemengen werden bereits weiter westlich von einer kräftigen Windströmung, die Jetstream genannt wird und sich auf einer Breite von etwa 100 Kilometern in der oberen Atmosphäre um den Erdball schlängelt, aufgenommen und von West nach Ost transportiert. In einem weiteren Modell, über das "Spektrum der Wissenschaft" berichtet, wird der Wärmetransport einem komplizierten Luftdruckunterschied zwischen einem stationären Hoch über Nordostamerika und einem Tief über dem Westatlantik zugeschrieben.

Die Modifikation der Modelle ist im Rahmen der wissenschaftlichen Theoriebildung nicht unbedeutend. Denn wenn nach der heutigen Vorstellung der Golfstrom als Wärmequelle für Westeuropa nicht mehr so wichtig ist, würde auch sein Versiegen, wie es in dem Kinofilm "The Day After Tomorrow" als Auslöser einer Eiszeit in Szene gesetzt wurde, voraussichtlich zu keiner starken Abkühlung der hiesigen Durchschnittstemperatur führen. Damit ist die Gefahr einer katastrophalen Entwicklung nicht vorbei, sondern sie wurde in Bereiche verlagert, die möglicherweise noch weniger zu begreifen sind.

Mit dem theoretischen Modell des Golfstroms als Zentralheizung Westeuropas war die Wissenschaft bisher insofern gut gefahren, als daß darin die klimatischen und ozeanographischen Prozesse noch vergleichsweise eingegrenzt und überschaubar waren. Übernimmt nun innerhalb der Modelle der Jetstream oder gar ein komplexes System aus Windströmungen die Funktion des Golfstroms, wird die Wissenschaft ihre Forschungen neu ausrichten müssen. Zumal sich der Jetstream im Unterschied zur trägen Meeresströmung als ziemlich launisch erweist. Mal kapseln sich einzelne großräumige Mäander ab und bilden eigene Mini-Jetstreams, mal wird die Luftströmung von einer meteorologischen Blockade aufgehalten oder umgelenkt. Hatten die Wissenschaftler früher einen klaren Anhaltspunkt dafür, daß, wenn der Golfstrom versiegt, Europas Heizung ausfällt, so müssen diese scheinbar festen Verhältnisse nun als aufgelöst gelten.

Wie bereits erwähnt, fällt der Golfstrom als Wärmequelle für Westeuropa nicht ganz und gar unter den Tisch. Es verschieben sich aber die Gewichtungen und Bewertungen. Dabei mutet es schon merkwürdig an, wie schnell eine Vorstellung, die bislang als wissenschaftliche Wahrheit behandelt wurde, auf einmal nicht mehr gelten soll.

Anscheinend versucht die Wissenschaft angesichts der unbegreiflichen Entwicklungen, die zumindest erahnt und unter dem Titel Klimawandel subsumiert werden, vorsorglich den Interpretationsrahmen für ihre Prognosen zu erweitern und so den Eindruck zu erwecken, weiterhin Deutungshoheit über die nicht vorhersagbaren und schon gar nicht zu kontrollierenden Abläufe reklamieren zu können. Zweifelsohne wird einer solchen ordnungsstabilisierenden Wissenschaft von den herrschenden gesellschaftlichen Interessen der Vorzug gegeben.


Fußnoten:

[1] www.spektrum.de/artikel/1188740

[2] http://www.spektrum.de/alias/meeresforschung/fernheizung-europas-bleibt-aktiv/1173390

2. Juni 2013