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LAIRE/177: Ug99 - Antwort der Pilze auf die Industrialisierung des Weizenanbaus (SB)


Pflanzenforscher im "Rüstungswettlauf"

Neue Schwarzrostvariante hat bei Weizen wichtige
Resistenzeigenschaften überwunden


In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vernichtete ein Weizenpilz (Puccinia graminis - Schwarzrost) durchschnittlich 40 Prozent der Weizenernte der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanadas. Er war von Mexiko eingewandert, wo er zuvor schwere Ernteverluste ausgelöst hatte. Experten unter Leitung des US-amerikanischen Agrarforschers Norman Borlaug setzten sich zusammen und züchteten im Laufe von Jahren eine Weizensorte, die aufgrund eingekreuzter Eigenschaften des Roggens gegen diesen besonders gefährlichen Weizenpilz resistent war. Rasch wurde die Sorte in die Weizenbestände auf der ganzen Welt eingekreuzt. Borlaug, der "Vater der grünen Revolution" genannt wird, da er Sorten erzeugte, durch die die Menge an Weizen pro Hektar dramatisch stieg, erhielt dafür 1970 den Friedensnobelpreis.

Jahrzehntelang blieb es relativ ruhig an der Weizenpilzfront, die Verluste aufgrund des Befalls mit Schwarz-, Gelb- oder Braunrost hielten sich in Grenzen. Doch 1999 schreckte die Fachwelt auf. Der ugandische Forscher William Wagoire hatte erstmals eine neue Pilzvariante, Puccinia graminis f. tritici, entdeckt, welche die bis dahin als besonders widerständig geltende Weizensorte befallen und die Resistenzgene Sr24 und Sr31 überwunden hatte. Das Jahr darauf blieb noch ruhig, aber ab 2001 wurde der Ug99 genannte Pilz in Kenia und ab 2003 in Äthiopien entdeckt. In beiden Ländern sorgte er für empfindliche Ernteverluste.

In den Folgejahren trat er in immer mehr Staaten auf. Genannt werden Uganda, Kenia, Äthiopien, Sudan, Jemen, Iran, Tansania, Südafrika, Simbabwe, Mosambik und Eritrea. Unter dem Eindruck dieser neuen Pilzvariante, die besonders virulent war, innerhalb weniger Jahre weitere Varianten entwickelte und zu Totalverlusten der Ernte führen konnte, gründete Borlaug im Jahr 2005 die globale Pilzforschungsinitiative "Borlaug Global Rust Initiative" (BGRI). Vier Jahre darauf verstarb er im hohen Alter von 95 Jahren.

Ausgerechnet auf die Erfolge der Weizenzüchtung geht es zurück, daß heute 80 bis 90 Prozent der weltweiten Bestände dieses Getreides anfällig für Ug99 und seine inzwischen mehr als ein halbes Dutzend identifizierten Varianten sind. Sollte sich also der Pilz weiter ausbreiten und vom Wind in die großen Weizenanbaugebiete der zentralasiatischen Staaten, der Ukraine, Rußlands, Pakistans, Indiens oder Chinas getragen werden, wäre mit verheerenden Folgen für die Welternährung zu rechnen. Die ist sowieso schon völlig unzureichend: Jeder siebte Mensch leidet regelmäßig Hunger; Jahr für Jahr sterben zig Millionen Menschen als Folge von Mangelernährung; die Weltgetreidebestände schrumpfen und haben den niedrigsten Stand seit Beginn der regelmäßigen Erfassung erreicht. Gleichzeitig werden Weizen und andere Nahrungs- und Futtermittel schlichtweg verbrannt, um Motoren anzutreiben.

Daß heute 90 Prozent der Weizenbestände anfällig für eine einzige Pilzsorte sind, wurde durch eine an Profitinteressen orientierte Produktionsweise begünstigt. Die grüne Revolution hatte nicht einfach nur die Ertragszahlen steigen lassen, sondern auch den Verbrauch von Düngern und Pestiziden deutlich erhöht. Die gesamte Landwirtschaft von Ländern wie Indien wurde der Industriealisierung unterworfen, wovon die transnationalen Konzerne profitierten. Das wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn es bloß die Menschen satt gemacht hätte. Aber in einem Wirtschaftssystem, in dem Agrarunternehmen expandieren und nach Profiten streben müssen, um nicht niederkonkurriert zu werden, existiert eben nicht allein der Wunsch, mehr Getreide zu produzieren, sondern auch der, es zu einem guten Preis zu verkaufen.

Das ist in einem marktwirtschaftlichen System dann gegeben, wenn das Getreide verknappt wird. Der Mangel treibt die Preise nach oben, umgekehrt werden sie von Überangeboten gedrückt. Folgerichtig sind Agrarunternehmen bestrebt, eine Situation des Mangels herzustellen. Da weltweit eine Milliarde Menschen hungert, ohne daß die Staaten wirksam lenkend eingriffen, werden die notleidenden Menschen in der Lesart der Ökonomen gar nicht erst der Nachfrageseite zugerechnet. Die Hungernden sind so arm, daß sie in diesem Sinne nicht nachfragen können, auch wenn ihr Bedarf an Nahrung riesig ist. Würden hingegen die Staaten eine glaubwürdige Politik betreiben, durch die eine Versorgung aller Menschen gesichert wäre, wären Unternehmen eher bemüht, den Bedarf zu stillen.

Agrarwissenschaftler wie Borlaug handeln aus diesem System heraus, sie unterstützen es, was bedeutet, daß die von ihnen erzielten Fortschritte von vornherein in keinem gesellschaftskritischen Kontext zu verorten sind. Wenn die Forscher behaupten, daß sie den Hunger in der Welt bekämpfen wollen, dann mag das aus ihrer Sicht zutreffen, jedoch gilt das gleiche nicht zwingend für die Profiteure des vorherrschenden Wirtschaftssystems.

Daß in den 1950er Jahren ein Weizenpilz in den USA so hohe Ernteverluste verursachen konnte, war bereits einer weitreichenden Zentralisierung der Landwirtschaft geschuldet, hat doch die Politik Fusionen der Betriebe und Handelsgesellschaften zu immer größeren Unternehmen gefördert. Theoretisch hätte damals die Antwort auf den Weizenpilz auch in einer Re-Diversifizierung der Sorten, Rückkehr zu kleinräumlichen, den vorhandenen natürlichen Bedingungen (Klima, Boden) angemessenen Produktionsstandorten und zur Förderung lokaler Konsumstrukturen führen können.

Der üblicherweise an so einer Stelle erhobene Einwand, daß solche Ideen naiv, ja, nachgerade unverantwortlich sind, weil nur aufgrund der gesteigerten Erträge die USA Getreide exportieren und den Nahrungsmangel in anderen Ländern beheben konnten, setzt voraus, daß in jenen Ländern nicht ebenfalls ähnliche Agrarstrukturen entwickelbar wären. Mit anderen Worten, beim Einwand gegen die Re-Diversifizierung wird die Voraussetzung der Mangelproduktion, die Marktwirtschaft, zur Begründung ihrer vermeintlich unverzichtbaren Fortsetzung genommen. (Der Vollständigkeit halber sei hier angemerkt, daß das Gegenmodell zum Kapitalismus, der Realsozialismus, ebenfalls mit einer Industrialisierung und Zentralisierung - in diesem Fall der staatlich angeordneten - einherging.)

Die globale Getreideproduktion hat einen Weg gewählt, auf dem die Herstellung von Nahrung unter die Kontrolle von immer weniger Erzeugern gerät. Entgegen den Vorschlägen aus dem Weltagrarbericht [1], kleinräumliche Agrarstrukturen und Ökolandbau zu fördern, setzen die meisten Regierungen auf den alten Kurs der bloßen Mengensteigerung im Getreideanbau. Ähnliches gilt für die Bekämpfung des Weizenpilzes Ug99. Mit Hilfe modernster mikrobiologischer Methoden wird der Schwarzrost analysiert, um Getreidevarianten züchten zu können, die nicht von ihm befallen werden. Die Idee ist die gleiche wie die Borlaugs vor einem halben Jahrhundert: Sind die resistenten Eigenschaften bekannt, können sie weltweit in verschiedene Weizensorten eingebracht werden.

Allem Anschein nach gibt es tatsächlich erste Erfolge bei der Analyse von Ug99. Ronnie Coffman, Leiter des Projekts Durable Rust Resistance in Wheat (DRRW) an der Cornell University, wo die Fäden des internationalen Kampfes gegen Weizenpilze zusammenlaufen, deutete im Vorfeld einer am 13. Juni in Minneapolis begonnenen internationalen Fachkonferenz [2] an, daß ein Erfolg wohl nur noch eine Frage der Zeit sei: "Wir sind mit der Aussicht auf einen biologischen Feuersturm konfrontiert, aber es ist gleichfalls klar, daß die Forschergemeinde mit Spitzengeschwindigkeit auf die Bedrohung reagiert hat und erste resistente, um 10 bis 15 Prozent ertragreichere Varianten entwickelt wurden." [3] Die Arbeit sei noch nicht getan, warnte Coffman. In einigen Jahren könnte sich das Problem von neuem stellen, sollte die Agrarforschung keine ausreichende öffentliche Unterstützung erhalten. Man habe es mit einem sich permanent weiterentwickelnden Pflanzenpathogen zu tun und müsse ihm zu jeder Zeit mindestens einen Schritt voraus sein.

"Auf der Wissenschaftsseite haben wir enorme Fortschritte erzielt, nun müssen wir auch auf der Entwicklungsseite Fortschritte sehen", mahnt der Weizenexperte Ravi Singh vom Internationalen Mais- und Weizenverbesserungszentrum (CIMMYT) in Mexiko an [4]. Und Robert Park, Weizenpathologe am Plant Breeding Institute der Universität von Sydney, erklärte bereits vor einem Jahr: "Wir können nicht erwarten, das Problem innerhalb von fünf Jahren zu lösen - Ug99-Forschung, -Überwachung und Züchtung ist eine laufende Anstrengung, ein Rüstungswettlauf, der durch nachhaltige Finanzierung unterstützt werden muß." [5]

Es findet also eine Art Wettrennen zwischen dem Pilz und den Pilzforschern statt, wie es hinlänglich aus der Medizin bekannt ist: Die Weiterentwicklungen des aus einem Schimmelpilz (Penicillium notatum) gewonnenen Antibiotikums Penicillin werden von den Bakterien, die regelmäßig ihre Abwehrkräfte verbessern, überwunden, so daß ausgerechnet die Krankenhäuser multi- oder gar totiresistente Bakterien hervorbringen, gegen die kein Kraut mehr gewachsen ist. Der Weizenrost kann auch mit Fungiziden bekämpft werden, aber das dazu erforderliche Kapital fehlt den meisten Bauern in Afrika und dem Mittleren Osten. Die Produktionskosten würden sich durch eine Fungizidbehandlung um rund 40 Prozent erhöhen [6].

Von Ug99 sind in den Regionen Südasien, Mittlerer Osten, China, Europa, Australien und Nordamerika schätzungsweise 225 Millionen Hektar Weizenfläche bedroht. Nun sei es eine Frage, ob die Länder bereit sind, in das erforderliche politische und ökonomische Kapital für eine Agrarforschung zu investieren, um die globale Weizenversorgung zu sichern, sagte Coffman.

Fachleute warnen, daß die aktuellen bürgerkriegsartigen Unruhen in Jemen die Verbreitung des Pilzes beschleunigen könnten, da eine genaue Überwachung der Weizenfelder vernachlässigt wird. Weizen ist nach Mais und Reis das drittwichtigste Getreide der Welt, für 1,4 Milliarden Menschen stellt es ein zentrales Grundnahrungsmittel dar. Sobald in irgendeiner Region der Erde Pilze resistent gegen die bis dahin als sicher geltenden Weizenpflanzen werden, besteht jedesmal eine Gefahr für andere Bestände, da die Arten sozusagen gleichgeschaltet sind.

Wie bei der Entwicklung von Antibiotika in der Medizin ist ein Ende dieses "Rüstungswettlaufs" nicht absehbar. Zwar werden die Resistenzeigenschaften des Weizens in die jeweiligen regionalen Sorten eingekreuzt, was den Variantenreichtum fördern könnte, aber angesichts des generellen Trends zu immer weniger Arten bleibt das Theorie. Umgekehrt wird womöglich ein Schuh daraus: Eben weil die gleichen Resistenzeigenschaften weltweit verbreitet und somit verschiedenen natürlichen ökologischen Bedingungen ausgesetzt werden, begünstigt das die Chance, daß sich in irgendeiner der vielen Ökotope Resistenz entwickelt, welche daraufhin die globale Weizenproduktion gefährdet. Ein Verlassen des globalen "Rüstungswettlaufs" mit den Pilzen scheint nur dann vorstellbar, wenn die profitorientierten Produktionsbedingungen aufgegeben und Wege eingeschlagen werden, wie sie auch der Realsozialismus nicht gegangen ist.


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Anmerkungen:

[1] Stephan Albrecht, Albert Engel (Hrsg.) (2009): Weltagrarbericht. Synthesebericht. Hamburg University Press, ISBN 978-3-937816-68-5.

[2] Zu dem Treffen in St. Paul sind Vertreter zahlreicher Initiativen zusammengekommen, unter anderem: Borlaug Global Rust Initiative (BGRI) an der Cornell University, International Maize and Wheat Improvement Center (CIMMYT), Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), Indian Council of Agricultural Research (ICAR) und International Center for Agricultural Research in the Dry Areas (ICARDA).

[3] "Super varieties of wheat expected to boost yields and block wheat rust", 13. Juni 2011
http://www.seeddaily.com/reports/Super_varieties_of_wheat_expected_to_boost_yields_and_block_wheat_rust_999.html

[4] "Ugly Wheat Rust Variants Blow Around the World", Environment News Service - ENS, 13. Juni 2011
http://www.ens-newswire.com/ens/jun2011/2011-06-14-01.html

[5] "Virulent New Strains of Ug99 Stem Rust, a Deadly Wheat Pathogen", ScienceDaily, 28. Mai 2010
http://www.sciencedaily.com/releases/2010/05/100526134146.htm

[6] "Kenya: Wheat Stem Rust Hits Rift Valley Farmers", IRIN, 28. Oktober 2010
http://allafrica.com/stories/201010310002.html

17. Juni 2011