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LAIRE/137: Harmonie zwischen Biosprit- und Nahrungsproduktion ist ein Märchen (SB)


Eine Milliarde Hungernde - die Grundlage unseres Wohlstands

Forderung nach Förderung des Kleinbauerntums wirft Fragen auf


Afrika hat ein riesiges Potential an ungenutzten Flächen, auf denen Landwirtschaft betrieben und Pflanzen zur Produktion von Treibstoff angebaut werden könnten. Wenn das nur vernünftig gemacht würde und alle Beteiligten in den Entscheidungsfindungsprozeß, welches Land wofür verwendet wird, einbezogen würden, dann käme es auch zu keinen Vertreibungen und zu keiner Konkurrenz zwischen "Tank und Teller", das heißt, dann würde genügend Nahrung produziert, und es könnte zusätzlich Biosprit für den lokalen Verbrauch wie auch für den Export hergestellt werden. Das hätte sogar den Vorteil, daß sich die Bauern etwas dazuverdienen könnten, es würde also ihre Ernährungssicherheit festigen. So in etwa lauten die Kernargumente der Befürworter der Agrospritproduktion in den Ländern des Süden und der Verteidiger beispielsweise der Biospritziele der Europäischen Union, die bis 2020 zehn Prozent ihres Treibstoffverbrauchs auf diese Weise erzeugen will. Am Horizont lauert "peak oil", das Fördermaximum für fossile Treibstoffe, das zugleich das Ende des Erdölzeitalters markiert. Ein Ersatzbrennstoff soll her, damit das Getriebe nicht zum Stillstand kommt.

Warum handelt es sich bei obigen Vorstellungen um frommes Wunschdenken? Weil weltweit mehr als eine Milliarde Menschen hungern, zwei Milliarden verarmt sind, und diese Zahlen steigen. Es handelt sich um Menschen, die vom gegenwärtig praktizierten Wirtschaftssystem herausgedrängt wurden. Solange sich die Produktionsbedingungen nicht ändern, wird sich auch an diesem Verhältnis zwischen arm und reich nichts ändern. Das schließt keineswegs aus, daß hier und da andere Ideen aufkommen oder gar umgesetzt werden, die den Anspruch erheben, weniger ausbeuterisch zu sein, doch weltweit betrachtet ist nicht erkennbar, daß sich die Bedingungen, unter denen menschliche Arbeitskraft fremdverfügt wird, entscheidend ändern. Somit wird das System immer Menschen hervorbringen, die am Hungertuch nagen oder verhungern. Diese bilden ein Faustpfand in der Hand derjenigen, die von fremdnütziger Arbeit profitieren und sie verwalten. Durch die Androhung von Mangel bis hin zur Auslöschung der physischen Existenz, wie es die Hungerleider vermeintlich schicksalhaft getroffen hat, wird sichergestellt, daß sich Menschen fremdbestimmter Arbeit unterwerfen. Deshalb wird das Heer der Hungerleider gebraucht, sie halten den Betrieb aufrecht.

Umgekehrt gilt: Wenn alle Menschen in der Welt ausreichend versorgt wären und sie, egal was sie machen, nicht um ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit fürchten müßten, da kein Mangel herrschte, dann dürfte das das Ende jeglicher fremdbestimmten Arbeit bedeuten. Warum sollte sich irgend jemand, Werktag für Werktag, acht Stunden täglich, an ein Fließband stellen und Kotflügel an Autos anbringen? Oder in den brasilianischen Tropen zwölf Stunden am Tag Zuckerrohr mit der Machete abschlagen? Da das niemand freiwillig macht, lassen diese Beispiele auf den ungeheuren Zwang schließen, mit dem die Fremdbestimmtheit der Arbeit durchgesetzt wird. Daß die Menschen diesen Zwang als völlig normal empfinden, bestätigt nur die Aussage. Ihre Not ist bereits so groß, daß sie den Geschmack von Rebellion auf der Zunge spüren, wenn sie für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes demonstrieren.

Nun gibt es die beschriebene paradiesische Welt nicht, ließe sich einwenden. Es müsse nun mal gearbeitet werden, der Strom komme nicht aus der Steckdose, und das Essen falle nicht vom Himmel in den geöffneten Mund. Wohl wahr. Aber wer behauptet denn, daß, weil das so ist, deswegen das ganze Programm ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse akzeptiert werden muß? Warum wird nicht einmal die Frage nach den Produktionsverhältnissen gestellt?

Okay, es gibt Ansätze, bei denen das Kleinbauerntum gestärkt werden soll. Im Weltagrarbericht wird festgestellt, daß Kleinbauern mehr als die Hälfte zur globalen Nahrungsproduktion beitragen und daß es vernünftig wäre, das Kleinbauerntum und nicht die industrielle Landwirtschaft zu stärken. Aber könnten die Kleinbauern tatsächlich so viel produzieren, daß sie die agrarisch unproduktiven Städter mitversorgen? Wollen sie das überhaupt, oder liefe das nicht auf eine höhere Form von Ausbeutung der Kleinbauern hinaus? Denn irgendwie müßte ein System geschaffen werden, das ein Abgreifen des von ihnen produzierten Mehrwerts, den sie nicht zum eigenen Überleben brauchen, sicherstellt.

Mehr als die Hälfte der Menschheit lebt inzwischen in Städten, Tendenz steigend. Diese Menschen wollen essen, dreimal am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Mit dem Anlegen von urbanen Gärten läßt sich selbstverständlich die eine oder andere Nische füllen, und es werden teils erstaunliche Ernteerfolge verzeichnet. Da liegt sicherlich noch vieles brach an ungenutztem Potential zur Nahrungserzeugung. Aber eignen sich urbane Gärten, auch wenn sie vertikal ausgerichtet sind, um auf lange Sicht genügend Nahrung zu erzeugen, damit alle leeren Mägen gefüllt werden?

Es hat seinen Grund, daß die Menschen vermutlich recht bald nach der Entdeckung der Landwirtschaft Wanderfeldbau betrieben, da die Böden nicht genügend hergaben. Um eine Sippe oder ein Dorf zu versorgen, wurden große Flächen benötigt. Das gilt selbst heute noch in der intensiven Landwirtschaft, nur daß die Flächen, die zum Erreichen der im Vergleich zu den landwirtschaftlichen Anfängen ungeheuer hohen Ernteerträge gebraucht werden, weit entfernt und als solche nicht unmittelbar erkennbar sind. Doch es gibt sie. Sie finden sich in der Herstellung von Dünger, Pflanzenschutzmitteln und Saatgut, von landwirtschaftlichen Maschinen und Transportmitteln, die Asphalt, Schienen, Wasser und die Luft als Beförderungsmedium benötigen. In der globalisierten Welt sind die Flächen für die Herstellung von Nahrung entufert, aber sie sind berechenbar.

Kehren wir nach diesem Exkurs zurück zu der Vorstellung, es ließen sich Pflanzen für die Biospritproduktion anbauen, ohne daß dies negative Folgen wie Verdrängung, Vertreibung oder Nahrungsmangel zeitigte. Es sollte deutlich geworden sein, daß bei der Herstellung von Treibstoff auf dem Acker riesige Flächen in Anspruch genommen werden, die nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar sind, und daß, solange das Hungerproblem nicht gelöst ist, jede von der Nahrungserzeugung abweichende Nutzung potentieller landwirtschaftlicher Fläche einem Verwertungssystem Vorschub leistet, das bereits zu mehr als eine Milliarde Hungernden in der Welt geführt hat. Ihre Not ist Voraussetzung unserer Lebensqualität.

31. August 2010