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EINSPRUCH/001: Staatliche Willkür in Sachen Naturschutz (SB)


Die Kleinen fängt man, die Großen läßt man laufen...

Staatliche Willkür in Sachen Naturschutz



Die Natur schützen? Natürlich! Sollte man jedenfalls meinen. Fällt es einem doch auf die eigenen Füße, träte man sie achtlos mit denselben. Längst nicht nur bei so offensichtlichen Dingen wie dem Schutz der Bäume und Wälder als Sauerstofflieferanten, der Bienen als Pflanzenbestäuber und der in der Erde wühlenden Tiere als Bodenauflockerer hat es sich als dringend notwendig erwiesen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und gegebenenfalls auch einmal zurückzustecken. Jede diesbezügliche Ignoranz könnte auch für das unmittelbare Lebensumfeld des Menschen viel weitreichendere Schädigungen nach sich ziehen als nur das Wegbleiben einer Tierart, die man vielleicht ohnehin kaum bemerkt hat.

Unterstützenswert ist deshalb sicherlich auch das Bemühen um vom Aussterben bedrohte Vogelarten wie etwa die Lachseeschwalbe. In den Elbvorländern Dithmarschens brüteten 2011 nur noch knapp über vierzig Paare dieser seltenen Schwalbenart (16 im Vorland von Dieksanderkoog und 25 im Neufelderkoog), höchstwahrscheinlich sind es die einzigen in ganz Mitteleuropa. Nachdem im Neufelderkoog ein Gebiet mit Hilfe von Warnschildern abgesperrt wurde, ist die Population dieses Zugvogels mit dem lachenden Ruf wieder angestiegen: 2012 wurden erstmals seit über zehn Jahren erfolgreich Junge aufgezogen. 38 Paare haben im Sommer gebrütet und etwa 30 Küken sind flügge geworden.

Erfreuliche Nachrichten. Jetzt aber mit erhobenem Zeigefinger Anwohner über die Richtigkeit dieses Engagements zu belehren und harte Strafen gegen jene zu fordern, die getroffene Schutzauflagen verletzen, unterstützt eine Willkür, die sich am besten mit dem sprichwörtlichen "Die kleinen Diebe fängt man, und die großen läßt man laufen" betiteln läßt. Mit der Redlichkeit, mit der herrschende Kräfte "Richtiges" für sich in Anspruch nehmen und "Falsches" anprangern, wird der Blick von weit größeren Naturschädigern fort gelenkt, hin zu Otto Normalverbraucher, der für die Verletzung von verhältnismäßig geringfügigen "Vergehen" eine saftige Strafe erhält.

So auch im Fall eines 62jährigen aus Neufelderkoog, der mehrmals dieses für die Lachseeschwalbe abgesteckte Gebiet betreten hatte, was Thomas Gall, Referent im Kieler Ministerium für Energiewende, Umwelt und Ländliche Räume einen "sehr schweren Verstoß gegen den Artenschutz eines ausgeschilderten Naturschutzgebietes" nannte [1].

Als "Verstöße gegen das Bundesnaturschutzgesetz" hätte sein Handeln, wäre ihm ein Vorsatz nachgewiesen worden, nicht als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat eingestuft werden können. Ihm drohte sogar eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren. Anfang Juli wurde der Neufelderkooger vor Gericht zitiert. Da die Chancen auf ein mildes Urteil als gering galten, zumal Zeugen gegen ihn auszusagen bereit waren, erklärte er sich mit dem Angebot des Richters einverstanden, das Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße von 1.000 Euro an den NABU einzustellen. Das bedeutete jedoch, daß er seine "Schuld" akzeptieren mußte. Er sei, hieß es in der Dithmarscher Landeszeitung dazu, noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen [1].

Ist der Schutz der Natur aber wirklich eine so klare Sache, wie angenommen? Da der Begriff "Natur" an sich eine recht schwer zu fassende Angelegenheit ist, läßt er viel Deutungsspielraum für jeweilige Interessen zu. Etymologisch heißt das Wort eigentlich "das ohne fremdes Zutun Gewordene, Gewachsene" [2] und wird im Gegensatz zu "künstlich" verwendet. Es läßt sich aber darüber streiten, ob dieses idealisierte "Gewordene, Gewachsene" nun ohne besagtes fremde Zutun durch den Menschen funktionieren würde. Da auch die Vogelarten sich untereinander oft feindlich gesonnen sind (territoriale Kämpfe, Freßfeinde, Nesträuber) bleibt das "Gewachsene, Gewordene" für viele Tierarten oft auch ohne Einflußnahme des Menschen lebensfeindlich.

Philosophisch gesehen läßt sich der Begriff "Naturschutz" ad absurdum führen. Denn wäre nicht beim Menschen, da er ein Teil der Natur ist, auch jede seiner Handlungen natürlich? Die Praxis sieht anders aus. Zwar kämpft jedes Tier mit seinen spezifischen Strategien stets zu Lasten des anderen ums Überleben, doch fraglos erweist sich der Mensch als an der Spitze der Nahrungskette befindliches Wesen letztlich als der größte Räuber im System von Fressen und Gefressenwerden. Er trägt somit den größten Anteil schädigenden Fremdeinflusses an dem "Gewordenen, Gewachsenen", wie man am Raubbau der Böden, der Überfischung der Meere und unzähligen anderen Zerstörungen sensibler Ökosysteme sehen kann.

Der angeklagte Neufelderkooger muß sich ähnliches dazu überlegt haben, fand aber kein Gehör, als er die Absurdität dieser Strafverfolgung deutlich machte. Die "Perversion", wie er es nannte, bestehe darin, "die anderen Tiere wie Schafe erst aus dem Gebiet zu vertreiben, um dann die bedrohten Vögel retten zu müssen, weil sich dadurch deren Lebensbedingungen verschlechtert hätten"[1]. Will heißen: Die vom Staat geforderte und geförderte Entwicklung der Landwirtschaft, weg von kleinen Bauernhöfen hin zu regelrechten Agrarfabriken mit ihren großen Erntemaschinen, die weder Reh noch Kleingetier oder brütende Vögel entkommen lassen, stellt demgegenüber eine Schädigung im großen Stil dar.

Daß aufgrund intensiver Bodenbewirtschaftung dort rastende oder brütende Vögel wegbleiben, sollte also nicht weiter verwundern. Als Gegenmaßnahme besagtes Naturschutzreservoir abzugrenzen hilft zwar bedingt, geht aber eigentlich am verursachenden Problem vorbei. Dieses Gebiet hinterm Deich - wie es der Einheimische womöglich schon zigmal durchschritten hat, als es noch nicht den Titel "Naturschutzgebiet" trug - ist in seiner ursprünglicheren Form meist von Rindern und Schafen beweidet worden. Willkürlich ein Areal aus dem Marschland abzusperren, um innerhalb dessen ebenso willkürlich eine Tierart herauszupicken und diese im insgesamt räuberischen Freßsystem gegen ihre Feinde zu schützen ist ein Eingriff, wie er künstlicher kaum sein könnte.

Sich diesen behördlichen Anordnungen nicht zu beugen, mag eine Eigenart der Dithmarscher sein, die sich stets uneinsichtig gegen die Willkür der Obrigkeit zeigten. Daß der Neufelderkooger bei seinem Tun die Natur nicht im Sinn hatte, darf aber bezweifelt werden. So hat er einmal, als er "vorsätzlich" dieses Gebiet betrat, einem Schäfer geholfen, seine Schafe vor einem Hochwasser auf höher gelegenes Land zu bringen. Unterliegen Schafe denn nicht dem Schutz? Haben nicht auch die Füchse, Marder und andere Raubsäuger [3], die von Jägern geschossen wurden, weil sie eine Gefahr für die Küken der Lachseeschwalbe darstellen würden, als "Natur" ein Recht zu existieren? Zudem könnte der besondere Schutz einer ganz bestimmten Vogels andere Vogelarten, die diesen nicht genießen, verdrängen. Und nicht zuletzt: Was ist mit den unzähligen, meist als "Futtertiere" angesehenen Kleintieren wie Insekten oder Würmern?

Tausend Euro Strafe kostete es den Neufelderkooger, daß er sich gegen diese offensichtliche Willkür zur Wehr setzte. Ein hoher Preis für eine kleine Rebellion, von jenen verlangt, die an der "Natur" vor allem eines schützens- und erhaltenswert finden: das räuberische System. Und zwar insofern sie davon profitieren und nicht sein Opfer sind.

Fußnoten:

[1] Dithmarscher Landeszeitung vom 6. Juli 2012, S. 3

[2] Der große Duden Etymologie, S. 463

[3] www.shz.de/nachrichten/lokales/norddeutsche-rundschau/artikeldetails/artikel/lachseeschwalben-in-dithmarschen-leben-zwei-der-letzten-kolonien.html

28. September 2012