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CHEMIE/368: EU-Pestizidregulierung lässt Haare zu Berge stehen (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2022
Vergiftete Profite: (K)ein Ende der Pestizidnutzung in Sicht?

PESTIZIDREGULIERUNG LÄSST HAARE ZU BERGE STEHEN
Die EU erneuert ihre Pestizidregulierung - und die europäische Zivilgesellschaft bringt ihre Forderungen ein

von Leo Schlichter, Wiebke Beushausen und Ronja Dietschmann


Pestizide werden nach wie vor im großen Stil in der Landwirtschaft eingesetzt - mit verheerenden Folgen für Mensch und Natur. Ein von der EU-Kommission vorgelegter Entwurf zur Erneuerung der Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pestiziden bietet die Chance, einen neuen Weg einzuschlagen. Doch der Kommissionsvorschlag bleibt hinter den Erwartungen der Zivilgesellschaft zurück, weswegen sich in ganz Europa kreativer Protest regt.

Wer in Zeiten einer globalen Ernährungskrise für den Umbau der Landwirtschaft und die Reduktion von Pestiziden argumentiert, erfährt viel Gegenwind. Gleichzeitig schreiten die Biodiversitäts- und Klimakrise in rasantem Tempo fort. Umso wichtiger ist es, jetzt entscheidende Weichen für eine nachhaltige Transformation der Landwirtschaft zu stellen, die eine langfristige und gesunde Welternährung sicherstellt. Dass dies notwendig und möglich ist, zeigen zahlreiche Studien (siehe Bassermann & Luig im Rundbrief II/2022).[1]

Da die industrielle Landwirtschaft maßgeblich auf Ackerchemie setzt, stellt die EU-Pestizidgesetzgebung einen wirkungsvollen Hebel dar, um das Agrar- und Ernährungssystem in der EU zu verändern.

Agrarpolitik im Europäischen Grünen Deal

Als Teil des Europäischen Grünen Deals zielt die Farmto-Fork-Strategie darauf ab, die europäische Nahrungsmittelversorgung "fair, gesund und umweltfreundlich" zu gestalten.[2]

So sollen bis 2030 ein Viertel der Anbauflächen ökologisch bewirtschaftet, der Einsatz synthetischer Düngemittel um 20% reduziert und der Einsatz von Pestiziden halbiert werden. Zum Erreichen des letzten Ziels legte die EU-Kommission im Juni 2022 den ersten Entwurf einer Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pestiziden (Sustainable Use of Pesticides Regulation, kurz: SUR) vor. Eine Einigung wird für 2023 erwartet. Allerdings war das Verfahren bis dato von Rückschlägen und Verzögerungen geprägt. Lobbyist:innen der Agrarindustrie sowie einige EU-Mitgliedstaaten wirkten darauf hin, den Kommissionsentwurf zu verwässern.

Langsame Schritte in die richtige Richtung Der jetzige Entwurf wäre bereits eine klare Verbesserung im Vergleich zum Status Quo und das Umweltbundesamt (UBA) sowie europäische Umweltorganisationen lobten ihn grundsätzlich. Zugleich kritisierten sie den Entwurf für seine mangelnde Ambition und regulatorischen Schlupflöcher. Unzureichend seien dabei insbesondere die Indikatoren, welche die Überprüfung der Einhaltung ermöglichen sollen. Diese seien zu undifferenziert und beziehen die Toxizität vieler Pestizide nicht angemessen in die Bewertung ein. Das UBA bemängelt die systematische Unterschätzung des Risikos vieler Pestizide, die bereits in kleinsten Mengen schädlich sind.[3]

Die europäische Zivilgesellschaft fordert mehr Ambition

Weit über den Kommissionsentwurf hinaus gehen hingegen die Forderungen der erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative "Save bees and farmers" (Bienen und Bauern retten),[4] der sich über 1,2 Millionen Europäer:innen angeschlossen haben. Die Initiative setzt sich für eine Reduktion des Pestizideinsatzes von 80% bis 2030 und einen vollständigen Ausstieg bis 2035 ein. Zudem sollen Landwirt:innen beim Umbau auf agrarökologische Praktiken unterstützt werden. Das europaweite Netzwerk Good Food Good Farming (GFGF) trägt die Forderungen mit und organisierte im Oktober Aktionstage für weniger Pestizide in Europa.

Dezentrale Aktionstage, Pestizid-Check-Up und haarsträubender Protest in Brüssel

Um auf die weite Verbreitung von Pestiziden hinzuweisen, rief GFGF außerdem den Pestizid-Check-Up ins Leben - ein Citizen-Science-Projekt (Bürger:innenwissenschaft), an dem sich 300 Personen beteiligten. Dabei sendeten Menschen aus 15 Ländern Haarsträhnen an ein unabhängiges Labor, das diese auf Rückstände von 30 in der EU-Landwirtschaft gängigen Pestizide untersuchte. Das Projekt wurde mit der Hilfe von zehn Partnerorganisationen und Zusammenschlüssen wie dem deutschen "Wir haben es satt!"-Bündnis durchgeführt. Das Ergebnis: Fast jede dritte Haarprobe war positiv, wobei sich Unterschiede je nach Wohnort und Tätigkeit zeigten.[5] So waren diejenigen stärker von Pestizidrückständen betroffen, die in der Landwirtschaft arbeiten oder in ländlichen Räumen leben. Während der GFGF-Aktionstage im Oktober fanden mehr als 50 dezentrale Aktionen in 13 europäischen Ländern statt, um den Druck für eine nachhaltige Ernährungsund Agrarpolitik zu erhöhen. Dazu gehörten unter anderem eine Großdemonstration in England sowie Exkursionen zu landwirtschaftlichen Betrieben, die ohne Pestizide wirtschaften.[6]

Die Aktionstage mündeten in einer Protestaktion vor dem EU-Parlament in Brüssel, die unter dem Motto "EU Pesticide Policies are Hair-Raising - Detox EU Agriculture!" (Die EU-Pestizidpolitik ist haarsträubend - EU-Landwirtschaft entgiften!) stand. Neben Umweltorganisationen waren Klimaaktivist:innen sowie belgische Bauern und Bäuerinnen anwesend, die sich auf der Bühne für eine nachhaltige Transformation der Landwirtschaft aussprachen. Zusätzlich waren über 500 weitere EU-Bürger:innen symbolisch durch ihre eingesendeten Forderungen und Haarsträhnen bei der Aktion präsent, die in bunten Umschlägen den gesamten Platz zierten.

Im kommenden Jahr wird sich zeigen, welche Richtung die EU beim Thema Pestizidreduktion und nachhaltige Transformation unserer Ernährungssysteme einschlägt. Sollte es endlich gelingen, das industrielle System durch eine agrarökologiefördernde Politik abzulösen, ist dies in jedem Fall maßgeblich der Energie, Entschlossenheit und dem Zusammenhalt der europäischen Zivilgesellschaft zu verdanken!

Leo Schlichter studiert Politische Ökonomie und absolviert aktuell sein Praktikum bei Good Food Good Farming und "Wir haben es satt!". Wiebke Beushausen ist als Projektmanagerin, Ronja Dietschmann als Projektkoordinatorin bei Good Food Good Farming tätig.

Anmerkungen:

[1] Bassermann et al (2022): Droht noch mehr Hunger? - Der Krieg gegen die Ukraine verschärft die globale Preis- und Ernährungskrise.

[2] Europäische Kommission (2020): Farm to Fork Strategy.

[3] Umweltbundesamt (2022): Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Pflanzenschutz.

[4] ECI Save Bees and Farmers (2022): Save Bees and Farmers.

[5] Good Food Good Farming (2022): Pesticide Check-Up.

[6] Good Food Good Farming (2022): Good Food Good Farming Map.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 3/2022, Seite 8-9
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 6. April 2023

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