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CHEMIE/367: Eine pestizidfreie Europäische Union - Eine Utopie? (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2022
Vergiftte Profite: (K)ein Ende der Pestizidnutzung in Sicht?

EINE PESTIZIDFREIE EUROPÄISCHE UNION - EINE UTOPIE?
Wie das neue Flaggschiff der EU-Verordnungen auf Grund gelaufen ist

von Lars Neumeister


Trotz verschiedener Initiativen und Regularien in der Europäischen Union bleibt das Ziel einer pestizidfreien Landwirtschaft in Europa in weiter Ferne. Staaten, Landwirt:innen und Umweltverbände kritisieren die neue EU-Regulation beziehungsweise die Versuche dazu - aus unterschiedlichen Gründen. Zwischen Diskursen über Ertragssteigerung und Wettbewerb fehlen Anreize, um wirklich auf Pestizide in der Landwirtschaft zu verzichten. Am Ende profitieren nur die Pestizidhersteller.

Im September 2022 bestätigte die Europäische Kommission, dass die Europäische Bürger:inneninitiative (EBI) "Save bees and farmers" die notwendige Stimmenanzahl erreicht hat. Diese Initiative verlangt einen europaweiten Pestizidausstieg bis 2035. Unter den gültigen europäischen Bürger:inneninitiativen war diese bereits die zweite, die einen Ausstieg aus der pestizidbasierten Landwirtschaft fordert. Eine frühere EBI verlangte u. a. ein Glyphosatverbot und verpflichtende Reduktionsschritte mit dem Ziel einer pestizidfreien Landwirtschaft. Als Reaktion auf die erste Initiative veröffentlichte die Europäische Kommission den Entwurf einer Verordnung zum nachhaltigen Einsatz von Pestiziden (Sustainable use of pesticides). Die Verordnung soll die erfolglose Richtlinie mit gleichem Namen ablösen.

Vorschlag der Europäischen Kommission ohne Fahrtwind

Die Versprechungen der EU-Kommission im Zuge der Veröffentlichung im Juni 2022 waren groß: mit der "Flaggschiffverordnung" wolle man den Pestizideinsatz und dessen Risiken um 50% bis 2030 reduzieren. Nur hat das Flaggschiff keine Mannschaft und keine Segel. Der Entwurf ist so schlecht, dass er kaum Unterstützung findet. Die Umweltverbände hoffen noch auf dringend nötige Verbesserungen während Vertreter:innen der Landwirtschaft und viele Agrarministerien der Mitgliedstaaten den Entwurf komplett versenken wollen. Die Pestizidindustrie torpediert ohnehin jede Umsatzbedrohung. Warum sich das Flaggschiff festgefahren hat, hat verschiedene Gründe.

Zum einen ist der landwirtschaftliche Sektor nicht an Bord, weil in allen ökologisch sensiblen Gebieten jeglicher Pestizideinsatz verboten werden soll. Darin eingeschlossen wären auch Landschaftsschutzgebiete und andere Schutzgebiete, in denen es bisher kaum Einschränkungen für die landwirtschaftliche Nutzung gibt. Außerdem befürchten Landwirt:innen Wettbewerbsnachteile gegenüber Produzent:innen aus Drittstaaten.
Zum anderen meutern die Agrarministerien vieler Mitgliedstaaten, weil die Vorgaben angeblich die Versorgungssicherheit der Bevölkerung gefährden.
Darüber hinaus kritisieren Umwelt- und Verbraucherverbände sowie die Anbauverbände des ökologischen Landbaus vor allem drei Punkte:

1. Die Verordnung verlangt keine Reduktion des Pestizideinsatzes, sondern eine Reduktion des "harmonisierten Risikos". Dieses berechnet sich aus dem verkauften Volumen eines Pestizids und beliebigen Risikofaktoren. Giftigkeit und Exposition spielen dabei (fast) keine Rolle. Verliert ein Pestizid die EU-Zulassung - was seit 2015 über 120 Mal passiert ist - bekommt es rückwirkend einen besonders hohen Risikofaktor. Nach dem Zulassungsende und einer Aufbrauchfrist sinkt das verkaufte Volumen auf null. Durch diesen Rechentrick reduziert sich das "harmonisierte Risiko" für dieses Pestizid von einem sehr hohen Wert während des Verwendungszeitraums auf null nach dem Ablauf. Ohne jegliches Zutun [1] kann die Europäische Kommission eine gefälschte Reduktion vorweisen.

2. Die Verordnung fordert von den Mitgliedstaaten Reduktionspläne für die Pestizide mit dem höchsten "harmonisierten Risiko". Schwefel und Paraffinöle betrifft dies besonders, da diese Stoffe in vielen Mitgliedstaaten einen hohen Anteil am verkauften Volumen haben. Sie werden im konventionellen und ökologischen Landbau eingesetzt. Pestizide hingegen, von denen man nur wenige Tonnen benötigt, um auf vielen Quadratkilometern alle Pflanzen oder Insekten zu töten, müssen hingegen nicht reduziert werden.

3. Der Verordnungsentwurf enthält keine wirksamen Instrumente. Wie bisher soll Pflanzenschutz nach den Prinzipien des integrierten Pflanzenschutzes (IPM) stattfinden. Die Definition des integrierten Pflanzenschutzes ist in der Verordnung aber so wirkungslos wie schon in der gleichnamigen Richtlinie. Immerhin ist die Europäische Kommission hier konsequent. Wenn man vermeintliche Ziele durch Rechentricks erreicht, benötigt man keine wirksamen Instrumente. Mit dem vorliegenden Entwurf der Verordnung würde es vielleicht zu einer Pestizidreduktion in einigen geschützten Gebieten kommen. Eine pestizidfreie Landwirtschaft wird man damit nicht erreichen.

Dabei wäre das nicht so schwierig - eine pestizidfreie Landwirtschaft muss keine Utopie bleiben. Die meiste Ackerfläche in der europäischen Union wird mit Futter-/Energiemais, Getreide und anderen Futterpflanzen bestellt. Diese Kulturen können ohne größere Schwierigkeiten pestizidfrei produziert werden. Bei anderen Kulturen würde ein Ausstieg mehr Zeit benötigen, insbesondere bei den Dauerkulturen. Wenn man für jede Fruchtart konkrete Maßnahmen definiert und diese rechtlich vorschreibt und ggf. ökonomisch unterstützt, könnte man innerhalb kurzer Zeit große Teil der EU ohne Pestizide bewirtschaften. Ein Beispiel eines solchen Ausstiegsplans wurde von der Organisation Foodwatch im Juni 2022 vorgelegt.[2]

Wenn man für jede Fruchtart konkrete Maßnahmen definiert und diese rechtlich vorschreibt und ggf. ökonomisch unterstützt, könnte man innerhalb kurzer Zeit große Teil der EU ohne Pestizide bewirtschaften.


Pflanzenschutz ohne Pestizide ermöglichen

Der Pestizideinsatz in der Landwirtschaft wird vor allem durch mangelnde Diversität erzwungen. Oder andersherum: Weil man Pestizide hat, braucht man keine Diversität. Solange man Insektizide einsetzen kann, ist man nicht auf Nützlinge angewiesen. Vorbeugende Maßnahmen des Pflanzenschutzes sind allgemein bekannt und wären in den meisten Fällen sofort umsetzbar und wirksam. Die Vorteile dieser Maßnahmen sind offensichtlich: Sie sind wirksam, sie sind machbar, und die meisten beseitigen oder verringern zusätzlich negative Nebeneffekte wie Treibhausgasemissionen, den Verlust der Artenvielfalt, Eutrophierung (Überdüngung der natürlichen Lebensräume) und Landflucht. Die rechtlichen und ökonomischen Instrumente zur weitgehenden Abschaffung des Einsatzes von Pestiziden sind ebenfalls bekannt. Sie müssen lediglich umgesetzt und stark verbessert werden. Außerdem gibt es bereits erhebliche öffentliche Mittel (Subventionen), die entsprechend umgewidmet werden müssen. So fordern Umweltverbände schon seit Jahren, dass die Subventionspolitik der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) geändert wird und ihren Fokus auf die Förderung von ökologischer Landwirtschaft legt. Weitere Mittel würden zur Verfügung stehen, wenn die dringend notwendige Pestizidabgabe [3] eingeführt wird.

Die Zulassung der einzelnen Mittel muss sich z.B. streng daran ausrichten, dass die chemische Kontrolle die letzte Wahl ist. Alle Zulassungen, die nicht mit dem vorbeugenden, integrierten Pflanzenschutz oder der biologischen Schädlingsbekämpfung vereinbar sind bzw. sogar vorbeugenden Pflanzenschutz verhindern, müssen zurückgezogen werden.

Um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden, sollten internationale Abkommen für den Agrarhandel erarbeitet werden. Das derzeitige System der Nahrungsmittelproduktion erzeugt in vielen Ländern negative wirtschaftliche Kosten. Es wäre wesentlich klüger, sich auf gemeinsame Regeln zu einigen, anstatt sich weiterhin einen zerstörerischen Wettbewerb zu liefern.

Was verhindert eine pestizidfreie Landwirtschaft?

Im Gegensatz zu den meisten Unternehmen außerhalb der Landwirtschaft bestimmen nicht Arbeitszeit, Maschinenund Materialkosten sowie Profit den Preis für ein landwirtschaftliches Produkt, sondern die Aufkaufmonopole. Der ändert sich teilweise wöchentlich oder täglich. Dadurch müssen die Kosten für die landwirtschaftliche Produktion immer möglichst niedrig gehalten werden, um auch Preisschwankungen auf den Märkten abfedern zu können. Jeglicher Mehraufwand, der zu einer möglichen Kostensteigerung führt, muss vermieden werden. Damit sitzt die konventionelle Landwirtschaft in einer Pestizidfalle. Die präventiven Methoden des Pflanzenschutzes sind zwar technisch nicht schwer umsetzbar: Anbauflächen können in kleinere Einheiten (z.B. Streifenkultur) aufgeteilt, Biotope für Nützlinge (z.B. Blühstreifen) angelegt und mehr Fruchtarten bzw. widerstandsfähige Sorten angebaut werden. Der Markt fordert aber das Gegenteil und die Politik setzt ebenfalls wenig Anreize. Ein konventionell wirtschaftender Betrieb hat gegenwärtig keinen Anreiz den Betrieb zu ökologisieren oder zu extensivieren. Für die Profiteure der pestizidbasierten, auf Überproduktion ausgerichtete Landwirtschaft sind vorbeugende Pflanzenschutzmaßnahmen kein Geschäftsmodell, die notwendige Extensivierung würde sogar ihre Marktmacht brechen. Diese Unternehmen verhindern notwendigen Fortschritt.

Wir brauchen einen anderen Diskurs

Seit einigen Jahren scheint eine regelrechte Ertragsbesessenheit den Diskurs zu bestimmen. Dabei bleibt völlig unbeachtet, was und für wen produziert wird. Hohe Erträge und hohe Produktionsvolumen garantieren weder hohe landwirtschaftliche Einkommen noch die Ernährungssicherung der Bevölkerung. Es gibt seit Dekaden mehr als genug zu essen. Die Kaufkraft der Bevölkerung ist entscheidend, ob Menschen satt werden.

Wir brauchen dringend einen Diskurswechsel. Die Landwirtschaft muss klar kommunizieren, unter welchen Umständen sie pestizidfrei produzieren kann. Es muss einen offenen Dialog zwischen Produzent:innen und der konsumierenden Bevölkerung geben, wie und zu welchem Preis welche Lebensmittel produziert werden können.

Lars Neumeister arbeitet seit 1998 fast ausschließlich zu Pestiziden. Derzeit arbeitet er für Foodwatch und hat einen Pestizidausstiegsplan erarbeitet und Positionen zum Kommissionsvorschlag verfasst.[4]


Anmerkungen:

[1] Bei der Zulassung eines Pestizids gibt es ein festgelegtes Zulassungsende und nach Ablauf (und ggf. Aufbrauchfrist) darf der Wirkstoff nicht mehr verwendet werden. Wenn eine Zulassung so ausläuft, gibt es also keinerlei Rechtsakt. Das ist in der Mehrheit, der nicht mehr zugelassenen Fälle so geschehen.

[2] Foodwatch (2022): Locked-in pesticides. Europe's fatal dependency on pesticides and how to overcome it.

[3] Eine Abgabe ist eine prinzipiell eine Steuer, die aber zweckgebunden ist. Man kann damit die Einnahmen zielgerichtet wieder für Maßnahmen in der Landwirtschaft verwenden. Eine Steuereinnahme würde i.d.R. in Bundeshaushalt eingehen.

[4] Foodwatch (2022): EU Commission's draft for sustainable pesticide use regulation "misleading" and "fundamentally flawed".


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-, Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.

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Quelle:
Rundbrief 3/2022, Seite 5-7
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 6. April 2023

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