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WASSER/021: Türkei - Kontroverse um Ilisu-Staudamm, auch die Nachbarländer protestieren (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Juni 2011

Türkei: Kontroverse um Ilisu-Staudamm - Auch die Nachbarländer protestieren

Von Mohammed A. Salih und Julia Barthel


Hasankeyf/Türkei, Berlin, 22. Juni 2011 (IPS) - Noch liegt eine Atmosphäre der Ruhe über dem geheimnisvollen Ort Hasankeyf am Ufer des Tigris. Doch damit soll es bald vorbei sein. Sobald der gigantische Ilisu-Staudamm am Oberlauf des Flusses fertig gestellt ist, wird die 10.000 Jahre alte Felsenstadt fast vollständig überflutet.

"Ich will hier nicht weg", sagt Nurten Kandemir. Die 27-Jährige wurde in Hasankeyf geboren und verbrachte hier den Großteil ihres Lebens. In den nächsten Monaten sollen ihre Familie und andere Einwohner die Stadt endgültig verlassen. "Ich fühle mich, als ob mir ein Teil meines Körpers genommen wird", klagt sie.

Der seit 2006 im Bau befindliche Damm ist Teil eines ehrgeizigen Programms zum Ausbau der Infrastruktur in Südostanatolien. Er soll später einmal 1.200 Megawatt Strom erzeugen. Doch das Großprojekt ist heftig umstritten. Das Vorhaben, den Tigris durch einen Mega-Staudamm zu bändigen, führt seit Jahrzehnten immer wieder zu Konflikten mit der Bevölkerung. Auch die Nachbarländer protestieren. Sie fürchten, dass bei ihnen am Ende zu wenig Wasser ankommt.

Von Anfang an stand das Konzept auf wackeligen Füßen. Viele europäische Geldgeber sind inzwischen aus dem Projekt ausgestiegen. Seit die türkische Regierung versucht, den Bau des Staudamms nahezu im Alleingang durchzudrücken, hat sich der Streit mit den Betroffenen noch einmal verschärft.

Lokale und internationale Organisationen kritisieren die verheerenden Auswirkungen, die der Staudamm auf die Natur, archäologische Stätten und die kulturelle Identität der Bewohner der Umgebung haben wird. Hasankeyf ist Teil eines 312 Quadratkilometer großen Gebiets, das nach der Fertigstellung des Ilisu-Staudamms geflutet wird.

Die Anrainer, türkische Kurden, sind erzürnt über das Bauvorhaben der Regierung und betrachten es als gewalttätigen Akt gegen ihre Lebensweise und Kultur. Ihre Proteste gegen die Zwangsräumung von Dörfern und Städten werden bislang ignoriert und sogar vom Militär unterdrückt. Zehntausende von Menschen müssen ihr Zuhause innerhalb einer bestimmten Frist verlassen und werden noch nicht einmal angemessen entschädigt. Die meisten verlieren durch die Enteignung zudem ihre Lebensgrundlage. Der Umzug in umliegende Städte ist für sie deshalb mit einem gesellschaftlichen Abstieg und mit Verarmung verbunden.


Ökologisches Desaster und Massenvernichtung antiker Stätten

Dem artenreichen Naturparadies am Tigris droht Wissenschaftlern und Hydrologen zufolge zudem eine ökologische Katastrophe. Der Einstau oberhalb des Dammes wird den Tigris auf einer Länge von etwa 120 Kilometern in ein stehendes Gewässer verwandeln. Das tiefe Wasser im Reservoir wäre extrem sauerstoffarm und lebensfeindlich. Die Experten gehen davon aus, dass zahlreiche Fischarten den Einschnitt in ihr Biotop nicht überleben werden.

Das Einzugsgebiet des Tigris zeichnet sich durch eine enorme Vielfalt von Pflanzen, Vögeln und anderen Tieren aus. Einige Arten wie die Euphrat-Weichschildkröte und die Streifenhyäne wären durch die Vernichtung ihres Lebensraumes am Tigris sogar vom Aussterben bedroht. Angesichts der wachsenden Kritik an dem Projekt hat die türkische Regierung nun angekündigt, große Kläranlagen zu bauen, um der Verschmutzung des Wassers entgegen zu wirken.

Im Konflikt um den Mega-Damm gerät die antike Stadt Hasankeyf immer wieder in den Mittelpunkt der Streitigkeiten. Sie liegt in einer der ältesten Kulturregionen der Menschheit und gehört zu den wichtigsten archäologischen Stätten des Landes. Hier finden sich unzählige Spuren vergangener Kulturen in einem ungewöhnlich gut erhaltenen Zustand. Römische, byzantinische, assyrische und muslimische Kulturen haben hier ihre Spuren hinterlassen.

"Man muss dazu sagen, dass fast jede Stadt in der Türkei als wichtige archäologische Stätte betrachtet werden kann", heißt es hingegen auf der Webseite des Außenministeriums. "Wenn 65 Millionen Menschen in diesem Land die Vorzüge eines modernen Lebensstils genießen wollen, gibt es eben Situationen, in denen archäologische Interessen zu Gunsten der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgestellt werden müssen."

Doch die Argumentationsweise bringt die Gegner erst recht in Rage. "Wir können noch nicht einmal das Ausmaß des Schadens einschätzen, den der Staudamm anrichten wird", meint die Koordinatorin der Initiative 'Rettet Hasankeyf', Ipek Tasli. Sie fügt hinzu, dass ein Großteil der archäologischen Schätze in diesem Gebiet noch gar nicht ausgegraben wurde.

Immer wieder gab es Bestrebungen, Hasankeyf zum Weltkulturerbe zu erklären. Dieser Status könnte die antike Stadt vor der Überflutung retten, doch die Regierung in Ankara weigert sich, den entsprechenden Antrag zu stellen. Obwohl sie den Ort bereits Ende der 1970er Jahre als archäologische Stätte ersten Ranges anerkannte und jegliche bauliche Veränderung untersagte, wird der Erhalt von Hasankeyf von offizieller Seite nun nicht mehr als wichtig erachtet. Dabei erfüllt die Felsenstadt alle UNESCO-Kriterien, um als Erbe der Menschheit unter besonderen Schutz gestellt zu werden.


Ilisu Staudamm auch ein Menschenrechtsproblem

Der Streit um die Rechtmäßigkeit des Staudammprojekts geht inzwischen über die Landesgrenzen hinaus. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte äußerte sich Ende Mai zutiefst besorgt über die potentiellen Auswirkungen des Ilisu-Staudamms und forderte die Regierung in Ankara nachdrücklich auf, bei ihren Projekten zur Entwicklung der Infrastruktur "die Menschenrechte zu achten". Erst 2003 hatte die Türkei einen Sozialpakt mit der UN ratifiziert, der das Land zur Einhalt gewisser Regeln verpflichtet.

Auch mit den Nachbarstaaten Syrien und Irak kommt es wegen des Ilisu-Staudamms immer wieder zu erheblichen Spannungen. Der Damm liegt nur 65 Kilometer von den beiden stromabwärts liegenden Ländern entfernt. Wegen der gewaltigen Auffüllkapazität des geplanten Stausees besteht die Gefahr, dass die Zufuhr des Tigris-Wassers in die Nachbarländer für einige Monate ganz unterbrochen werden könnte. Von irakischer Seite wurden wiederholt Bedenken geäußert, ob die Versorgung des Landes mit Trinkwasser in Zukunft noch sichergestellt sei.

Akram Ahmed Rasoul vom Ministerium für Wasserwirtschaft der autonomen Region Kurdistan im Nordirak zufolge wird sich der Ilisu-Damm negativ auf die verfügbare Wassermenge im Irak auswirken. Das gelte besonders für den Süden und die Mitte des Landes, wo es generell weniger Wasser gibt.

Rasoul befürchtet sogar, dass die Türkei die lebenswichtige Ressource als Druckmittel gegen den Nachbarstaat einsetzen könnte. "Die Türkei hat uns zwar versprochen, dass mehr Wasser in den Irak fließen soll. Käme es jedoch zu Spannungen oder einem Konflikt mit dem Irak, könnte die türkische Regierung die Wasserversorgung jederzeit unterbrechen und damit Druck auf unser Land ausüben." Leider verfüge der Irak zurzeit nicht über die nötigen Mittel, um ein gerechtes Abkommen über die gemeinsame Nutzung der Wasserressourcen durchzusetzen, sagt er.

Internationalen Abkommen zufolge ist die Türkei jedoch verpflichtet, das Wasser aus Flüssen wie dem Tigris mit allen anderen Anliegern zu teilen. Der türkische Staat muss bei der Nutzung des Flusses ferner darauf achten, dass die Natur in den Nachbarländern keinen Schaden nimmt.

"Syrien und der Irak könnten vor dem internationalen Gerichtshof Klage gegen die türkische Regierung erheben", erklärt Heike Drillisch von der deutschen Initiative 'GegenStrömung', die gegen den Ilisu-Damm kämpft. "Wir denken, die irakische Regierung hat diesen Schritt bisher aufgrund von politischen Zwängen und anderen Erwägungen nicht gewagt."


Alternativen vorhanden

Während die Debatten über den Ilisu-Damm noch in vollem Gange sind, wird auch über Alternativen für eine effiziente Energieversorgung der Region nachgedacht. Im letzten Jahr brachte die Technische Nahost-Universität in Ankara eine Studie heraus, der zufolge der Mega-Staudamm auch durch fünf kleinere Dämme ersetzt werden könnte. In diesem Fall ließe sich die historische Felsenstadt Hasankeyf vielleicht vor der Überflutung retten. Die kleineren Dämme würden die gleiche Menge an Energie produzieren, aber ein Drittel weniger Fläche unter Wasser setzen als der gewaltige Ilisu-Damm.

Der Bürgermeister von Hasankeyf, Abdulvahap Kusen, drängt darauf, diese Alternative umzusetzen. Seiner Meinung nach überwiegen bei dem größeren Ilisu-Staudamm eindeutig die Nachteile. "Als jemand, der seine Kultur und Geschichte liebt, kann ich diese Konsequenzen unmöglich akzeptieren", betont er. Obwohl der Bürgermeister Mitglied der Regierungspartei AKP ist, zeigt seine Haltung zu dem Megaprojekt deutlich, wie unbeliebt das Projekt in seinem Heimatort ist.

Die Regierung will den Ilisu-Damm bis 2015 fertigstellen. Seit westliche Exportkreditversicherer wie Deutschland, Österreich und die Schweiz 2009 aus dem Staudamm-Projekt ausgestiegen sind, weil die Auflagen zur Umwelt- und Sozialverträglichkeit nicht erfüllt wurden, haben sich auch die meisten Banken und Unternehmen aus dem Bauvorhaben zurückgezogen. Die Türkei hält jedoch weiter an dem Projekt fest und finanziert es seither aus eigener Tasche. (Ende/IPS/jb/2011)


Links:
http://www.wwf.de/presse/details/news/fragwuerdiger_mega_staudamm_am_tigris/
http://www.gegenstroemung.org/drupal/de/node/99
http://www.nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/2011/05/05.htm
http://m-h-s.org/ilisu/front_content.php?client=5&idcat=0&idart=0&lang=7&error=1
http://www.gruene-partei.de/cms/partei/dok/254/254626.bau_des_ilisustaudammes_in_der_tuerkei_s.htm
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56044

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Juni 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2011