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SOZIALES/019: Folgen von Fukushima - 48 unabhängige Meßstellen bisher in Japan aufgebaut (Strahlentelex)


Strahlentelex mit Elektrosmog Report, Nr. 606-607/26. Jahrgang, 5. April 2012

Folgen von Fukushima

48 unabhängige Meßstellen wurden bisher in Japan aufgebaut



In einer Reportage für die japanische Zeitschrift 'Sekai' (April 2012) berichtet der Journalist MORITA Toshiya über die Einrichtung von Radioaktivitätsmeßstellen in Bürgerhand in ganz Japan. Nach dem Reaktorunfall von Fukushima, so Morita, sahen sich die Bürger größtenteils in einer Lage, in der von der Regierung kein Schutz und nur unzureichende Informationen zu erwarten waren. Auch der überwiegende Teil der Massenmedien versagte. Während in der Präfektur Fukushima, in Teilen der Präfekturen Iwate und Miyagi sowie in der Kanto-Region die Strahlung anstieg, wußte man nicht, was nun eigentlich zu tun sei.

Die Leute nahmen Geigerzähler in die Hand, um die Luftbelastung selbst zu messen, kauften Meßgeräte zur Bestimmung der Kontamination von Lebensmitteln und anderem und richteten Meßstellen ein. Im Zentrum dieser Bewegung stehen Gruppen zum Schutz der Rechte von Kindern, Menschen aus der Anti-Atombewegung und Menschen, die bereits nach dem Unfall von Tschernobyl einige Meßstellen gegründet hatten. Die Bewegung erhielt Unterstützung von europäischen Initiativen wie der französischen ACRO und CRIIRAD. Criirad richtet seit 2001 Meßstellen von Bürgern und Wissenschaftlern in Weißrußland ein und half auch bei der Einrichtung der ersten Meßstelle in der Stadt Fukushima mit Rat und Tat.

Mitte Dezember 2011 gab es insgesamt schon 48 von Bürgergruppen eingerichtete Meßstellen: 14 in der Präfektur Fukushima, 10 in Tokyo, 5‍ ‍in der Präfektur Nagano, 3 in der Präfektur Kanagawa (einschließlich Yokohama), jeweils 2 auf Hokkaido, in der Präfektur Miyagi und in der Präfektur Niigata, sowie jeweils eine in den Präfekturen Ibaraki, Gunma, Saitama, Chiba, Shizuoka, Aichi und Kyoto. Das berichtet Morita unter Berufung auf einen seinem Namen nach zur Unterstützung und Information der Meßstellen eingerichteten Internet-Blog.

Ein Aktivist der ersten Stunde ist IWATA Wataru [1], der unmittelbar nach dem Unfall in der Stadt Ishimaki in der Präfektur Miyagi die Verteilung von Jodtabletten und in den verstrahlten Gebieten bis in die Präfektur Yamagata Radioaktivitätsmessungen organisiert hatte. Dabei sah er, daß die Menschen in diesen Gebieten weiterlebten, als sei nichts geschehen. Daraufhin, so Morita weiter, konzipierte er zusammen mit MARUMORI Aya und anderen das "Projekt 47" und richtete mit einigen aus Frankreich gespendeten Meßgeräten die erste unabhängige CRMS-Meßstelle in der Stadt Fukushima ein. Dort gründeten zeitgleich im Mai 2011 Bürger der Stadt das "Netzwerk Fukushima zum Schutz der Kinder vor Radioaktivität", dessen Sprecher NAKADE Sei'ichi ist. CRMS und das Netzwerk führten zunächst gemeinsam Messungen der Umgebungsradioaktivität durch.

In der Stadt Fukushima herrschte damals eine Atmosphäre, als sei das Kriegsrecht verhängt worden, berichtet Morita. Niemand habe sich getraut, seine Sorgen wegen der Radioaktivität zu äußern, obgleich alle tatsächlich Angst um ihre Kinder hatten. Die Gruppe um Iwata begann daraufhin mit Messungen in Schulen und Kindergärten, wo Belastungen zwischen 20 und 40 Mikrosievert pro Stunde festgestellt wurden, auf einer Wiese in der Nähe einer Schule sogar 108 Mikrosievert pro Stunde. Erst danach entschloß sich die Stadt Fukushima, Schulen und Schulwege zu messen.

Es traf sich, berichtet Morita weiter, daß Iwata den Journalisten HIROKAWA Ryuji auf einer Recherchefahrt begleitete und von der Notwendigkeit von Lebensmittelmessungen überzeugte. Hirokawa rief daraufhin in seiner Zeitschrift "Days Japan" zu Spenden auf, so daß die Meßstelle im Juli 2011 ihre Arbeit aufnehmen konnte. Für einen Reinstgermaniumdetektor reichte das Geld zunächst nicht, ein Unternehmer finanzierte es mit einem Darlehen vor.

Den Umgang mit diesem Gerät lernte die Gruppe im August 2011 bei Criirad in Frankreich. Im Sommer 2011 schlossen sich auch in anderen Regionen Gruppen zum Aufbau von Meßstellen zusammen, denen die CRMS-Gruppe durch Vorträge und Schulungen weiterhalf.

Aus eigener Anschauung berichtet der Journalist Morita von der Verunsicherung der Bauern in der Präfektur Miyagi. Sie hatten Flüchtlinge aus der unmittelbaren Umgebung der Unglücksreaktoren aufgenommen, die Morita als Fahrer eines Transports von gespendeten Hilfsgütern besuchte. Die Bauern hatten sich mit Geigerzählern ausgerüstet und, da die Präfekturverwaltung untätig blieb, auf eigene Kosten private Labore mit der Messung von Böden und Gemüse beauftragt. In einer Entfernung von 55 bis 85 km von der havarierten Anlage wurden Belastungen in unterschiedlicher Höhe festgestellt. Die Flüchtlinge wußten nicht, ob sie je wieder in ihre Heimatorte würden zurückkehren können, die Bauern wußten nicht, ob sie weiter ihre Felder würden bestellen können. Man versuchte zunächst, die Felder zu "reinigen", indem man den im Herbst gesäten Ackersenf ausriß und in Schubkarren abtransportierte. Natürlich atmete man dabei Staub ein und machte sich die Hände am kontaminierten Boden schmutzig. Was sollte man aber jetzt pflanzen? Wieviel Radioaktivität würde aus dem Boden in die Pflanzen aufgenommen? Schließlich richteten Ökoland- und Forstwirte im Süden der Präfektur Miyagi zwei "Radioaktivitätsmeßstellen für alle" (minna no hoshano sokuteishitsu) ein.

Morita zitiert einen der Beteiligten: "Als Ökobauern haben wir uns entschieden, mit der Natur und mit der Erde zu leben - und plötzlich war das Wichtigste, die Grundlage dafür zerstört. Wir wurden von tiefer Trauer und dem Gefühl, versagt zu haben, heimgesucht. Im Gespräch mit anderen Betroffenen entwickelte sich dann das Ziel, eine Meßstelle zu errichten. Weil alle mithalfen, konnten wir so weit kommen." Jetzt kann der Weg einer unbedenklichen Landwirtschaft weitergegangen werden, indem man sich von Messung zu Messung vortastet.

Die "Bürger-Radioaktivitätsmeßstelle Kleine Blume" richtete ISHIMORI Yoshihisa in einem Bezirk der Stadt Sendai ein. Der Abkömmling einer Großgrundbesitzerfamilie besitzt als Folge der Landreform nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch einen Berg, den er ökologisch bewirtschaftet. "Dieser Berg ist in historischen Zeiten noch nie mit chemischen Substanzen in Berührung gekommen," zitiert ihn der Jounalist Morita. Die radioaktive Kontamination empört den Bauern. Was ihn besonders ärgert, ist der amtliche Grenzwert von 500 Becquerel [Gesamtcäsium] pro Kilogramm. "Wieso sollen diejenigen, die die Felder vergiften, festlegen, was als ungiftig gelten soll? Die Regeln für die ökologische Landwirtschaft haben wir schließlich selbst entwickelt und die Regierung hat sie erst im nachhinein anerkannt. Auch in diesem Fall müssen wir selbst bestimmen, welchen Wert wir für erträglich halten." Ishimori orientiert sich am Grenzwert der Gesellschaft für Strahlenschutz aus Deutschland von 4 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm.

Auch im nicht direkt vom Fallout aus den Fukushima-Reaktoren betroffenen Kyoto wird im Juni 2012 eine Meßstelle in Bürgerhand den Betrieb aufnehmen. Sie ist aus der Solidaritätsbewegung mit den Evakuierten und Flüchtlingen entstanden. Deren Hauptanliegen war zunächst das Sammeln von Spenden, Hilfe bei sozialen und juristischen Problemen und bei Entschädigungsforderungen. Mit der Zeit merkte man jedoch, daß die Radioaktivität auch an Kyoto nicht vorbeiging: sie kam mit den Lebensmitteln. Bei der Gründungsversammlung in November 2011 wurde bei einem Lebensmitteldiscounter gekauftes Hühnerfleisch gemessen und eine Belastung von 29 Becquerel [Cäsiumgesamtaktivität pro Kilogramm] gefunden. A.H.

Morita, Toshiya: "Bürger und Wissenschaftler engagieren sich für Strahlenschutz", Reportage. Sekai 4/2012, S. 147-154. Dank an T. Kajimura für den Hinweis.

[1]‍ ‍Anmerkung der Redaktion Schattenblick
Ein Skype-Interview des Schattenblick vom 19. August 2011 mit Wataru Iwata aus Fukushima ist unter dem folgenden Link zu finden:
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/urdi0003.html
INTERVIEW/003: Wataru Iwata, Mitglied der Bürgerinitiative CRMS in Fukushima (SB)

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Quelle:
Strahlentelex mit Elektrosmog Report 4/2012, Seite 5-6
Herausgeber und Verlag: Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
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Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2012