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KATASTROPHEN/053: Fukushima - Zwei Jahre Katastrophe (ROBIN WOOD magazin)


ROBIN WOOD magazin - Nr. 116/1.2013

energie
Fukushima: Zwei Jahre Katastrophe

von Dirk Seifert



Am 11. März 2011 erschüttert ein schweres Erdbeben Japan. Ein Tsunami von ungeheuren Dimensionen zerstört riesige Küstenregionen und mehr als 20.000 Menschen sterben infolge dieser Naturkatastrophe. Viele Atomkraftwerke werden während der Katastrophe per Notabschaltung stillgelegt. Doch in den Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima bricht die Stromversorgung zusammen, die Kühlung der Reaktoren und Lagerbecken für abgebrannte Brennelemente fällt aus. Per Batteriestrom versuchen Techniker irgendwie Wasser in die Reaktoren zu pumpen - ohne Erfolg. Der Wasserstand in den Reaktoren sinkt, die hochradioaktiven Brennelemente liegen frei, beginnen zu schmelzen. Es kommt zu Wasserstoffexplosionen, die die Schutzhüllen aufreißen. Radioaktive Wolken entweichen jetzt ungehindert in die Umwelt, große Mengen radioaktives Wasser laufen ungehindert ins Meer.

Der Schock sitzt weltweit tief. Ausgerechnet in einem Hochindustrie-Land wie Japan kommt es zu einem mehrfachen Kernschmelzunfall mit massiver Freisetzung von Radioaktivität. Wochenlang wird immer wieder Radioaktivität freigesetzt, darunter nicht nur Jod und Cäsium, sondern auch Plutonium. Gebannt beobachten die Menschen die Wetterbedingungen, die Windrichtung. Die Sorge: Der Wind könnte drehen und die radioaktiven Wolken bis in die Super-Metropole Tokio treiben. Ein Horrorszenario!

Wochenlang versucht der Betreiber Tepco die Stromversorgung wieder herzustellen und mit Schläuchen und per Hubschrauber eine Notkühlung hinzubekommen, damit es nicht zu weiteren unkontrollierten Kettenreaktion und Explosionen kommt. Was sich genau in den zerstörten Reaktoren abspielt, weiß niemand. Die Strahlung ist teilweise so hoch, dass nicht einmal Roboter dorthin können. Die Explosionen haben die Wege versperrt und immer wieder setzt die Kühlung aus.

Obwohl Japan Katastrophen gewohnt ist, zögern die Behörden mit den Evakuierungen, streiten darüber, bis in welche Entfernung die Menschen weggebracht werden müssen. Ein Netz zur Überwachung der Strahlenbelastung existiert kaum, es gibt viel zu wenig Informationen für die Bevölkerung. Jodtabletten sind zwar in einigen Orten vorhanden, werden aber teilweise nicht verteilt. Der Betreiber Tepco gibt auch falsche - zu niedrige - Meßwerte heraus, versucht zu beruhigen. Nach und nach wird auch bekannt, dass die japanischen Behörden lange vor dem Erdbeben darüber informiert waren, dass es massive Sicherheitsprobleme in den Reaktoren von Fukushima gab. Empfohlene Nachrüstungen durch Tepco unterblieben jedoch, ohne dass Behörden einschritten. Bekannt wird, dass es einen unglaublichen Filz zwischen Behörden und Atomunternehmen gibt, vom Atom-Dorf ist die Rede, eine unabhängige staatliche Atomaufsicht gibt es nicht. Der Verdacht steht im Raum: Möglicherweise hätte die Katastrophe verhindert werden können. Schließlich deuten immer mehr Hinweise darauf: Allein das Erdbeben - und nicht erst der nachfolgende Tsunami - hatte so gravierende Folgen für die Reaktoren, dass diese außer Kontrolle gerieten.

Tee, Milch, Gemüse, Fisch - in der Region um Fukushima sind Lebensmittel radioaktiv verseucht

Lebensmittel aus der weiteren Umgebung der Atomreaktoren sind verstrahlt. Im Herbst 2011 melden Zeitungen, dass bei der Reisernte die zulässigen Grenzwerte überschritten werden. Wie nach Tschernobyl kommt es immer wieder zum Streit über diese Grenzwerte. Die Schweizer Tagesschau berichtet, dass nach dem Beginn der Katastrophe für Trinkwasser, Milch und Milchprodukte vorläufig ein Grenzwert von 200 Becquerel pro Kilogramm gilt sowie von 500 Becquerel für Gemüse, Getreide und andere Lebensmittel wie Fleisch, Eier und Fisch. Vor allem Eltern sind in Sorge und machen Druck auf die Behörden. Im Juni 2011 meldet die Nachrichtenagentur dpa: "Tee, Milch, Gemüse, Fisch - im Umkreis der Atomruine Fukushima entdecken japanische Behörden in immer mehr Lebensmitteln radioaktive Partikel." Mitte März berichtet Japans Gesundheitsministerium, dass in der Präfektur Fukushima die Werte bei Brokkoli, in der Nachbarregion Ibaraki bei Rohmilch überschritten wurden. Im Frühjahr 2012 kündigt die Regierung an, die Grenzwerte für zahlreiche Lebensmittel zu senken. Doch klar ist auch: Einen Grenzwert, unter dem Strahlung ohne Risiken ist, gibt es nicht. Greenpeace nimmt 16 Proben bei Feldgemüse aus der Region und stellt Werte von 8.000 bis 150.000 Becquerel je Kilogramm fest. Der Fernsehsender NHK berichtet zudem über radioaktives Cäsium in Fischen aus dem Meer vor Fukushima. Bei zwei Proben seien Werte fünf- bis sechsmal höher gewesen als erlaubt. Untersuchter Spinat weist doppelt soviel Becquerel wie zulässig auf. Bei Fisch, Krebstieren und Seetang, die 22 bis 60 Kilometer vom Kraftwerk entfernt aus dem Meer geholt wurden, findet Greenpeace erhöhte Werte für Jod-131, Cäsium-134 und Cäsium-137. Bei Seetang seien Jod-Werte gemessen worden, die mehr als dem 60-fachen der Grenzwerte entsprechen.

Mindestens 200.000 Menschen sind laut der internationalen Ärzteorganisation IPPNW inzwischen aus der Umgebung der Reaktoren von Fukushima evakuiert und haben für viele Jahre - vielleicht für immer - keine Perspektive, in ihre Heimatorte zurück zu kehren. Nicht nur, dass es aus den Unglücks-Reaktoren erneut zu radioaktiven Freisetzungen kommen kann. Viele Gebiete sind hoch verstrahlt, eine Dekontamination wird viele Jahre dauern. Und was mit den enormen Mengen abgetragenen Erdreichs überhaupt geschehen soll, weiß niemand. Es wird in Müllsäcken verpackt an Wegen und Straßen abgestellt.

Die IPPNW, die mehrfach mit Delegationen vor Ort war, berichtet auch Monate später noch Katastrophales: "In der stark kontaminierten Gemeinde Iitate (rund 40 Kilometer nordwestlich des Atomkraftwerks) hat Dr. Angelika Claußen vom IPPNW Werte von 1,9 bis 43,85 Mikrosievert/Stunde gemessen. Die BewohnerInnen von Iitate wurden viel zu spät evakuiert, denn der Bürgermeister wollte 'seine Stadt Iitate' halten und hat sich lange gegen die Evakuierung gewehrt. Tausende Evakuierte aus den Tsunami-Gebieten waren in seinem Dorf untergebracht. Erst nachdem kritische WissenschaftlerInnen Anfang April in Tokio Messungen vorlegten, die die hohe Gefährdung für die Bevölkerung aufzeigten, gab die Zentralregierung am 12. April 2012 bekannt, dass Iitate evakuiert werden muss", schreibt die Organisation im September 2012.


Wie schon in Tschernobyl sind Kinder besonders betroffen

Und wie schon nach der Katastrophe von Tschernobyl zeigen sich die Folgen der radioaktiven Verstrahlung vor allem bei Kindern und Jugendlichen besonders schnell: Immer mehr Schilddrüsenveränderungen werden diagnostiziert, eine Folge der radioaktiven Jod-Emissionen. Am 6. Juli 2012 informiert die IPPNW über eine Studie von Dr. Matsuzaki Hiromichi, Leiter der Abteilung für Innere Medizin im All gemeinen Städtischen Klinikum der Stadt Fukagawa, die nur wenigen Wochen nach der Katastrophe erstellt wurde: "Bei 35 Prozent der untersuchten Kinder fanden sich Schilddrüsenzysten, bei einem Prozent Schilddrüsenknoten. Das ist eine deutliche Steigerung gegenüber den Vergleichsdaten aus den Vorjahren. Diese Veränderungen sind laut Matsuzaki ein Hinweis darauf, dass sich in der Schilddrüse "etwas Außerordentliches abspielt". Doch auch fast zwei Jahre nach der mehrfachen Atomkatastrophe von Fukushima gilt: Immer noch sind Informationen über die radiologischen Auswirkungen nur schwer zu bekommen, Berichte über den Zustand der Reaktoren und die Lage vor Ort gibt es nur von Tepco. Das Unternehmen ist zwar inzwischen verstaatlicht und Japan ist dabei, eine neue Verwaltung und Atomaufsicht zu organisieren, aber ein wirkliches Bild von der Situation der Atomanlagen und der radioaktiven Folgen liegt bis heute nicht vor. Bis heute kann nicht ausgeschlossen werden, dass in Folge weiterer Beben erneut Radioaktivität freigesetzt werden kann.

Bis zur Katastrophe war Atomenergie in Japan im Grunde kein Thema. Trotz der Atombombenangriffe und der zigtausend Toten entwickelte Japan ein umfangreiches Atomprogramm. Rund 50 Atomkraftwerke an 17 Standorten waren zum Zeitpunkt der Katastrophe in Betrieb und wurden nach dem Super-Gau vom Netz genommen. Erst ein AKW ist seitdem im Herbst 2012 wieder in Betrieb genommen worden - unter massiven Protesten und Demonstrationen. In Japan hat sich nach der Katastrophe eine starke Anti-Atom-Bewegung entwickelt. Mehrfach kommt es zu Demonstrationen mit weit über 100.000 Menschen. Und Japan erklärt schließlich, dass es bis 2030 endgültig aus der Atomenergie aussteigen werde. Bis dahin würden die bestehenden AKWs einer umfassenden Sicherheitsüberprüfung unterzogen und nur dann wieder in Betrieb gehen können, wenn die regionale Bevölkerung dem zustimmt. Auch wenn die neue konservative Regierung in Japan den Atomausstieg derzeit wieder in Frage stellt: Die Atomkatastrophe von Fukushima hat Japan verändert.

Dirk Seifert,
Energiereferent ROBIN WOOD, energie[at]robinwood.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Nach der Katastrophe hat sich in Japan eine starke Anti-Atom-Bewegung entwickelt
- Im März 2011 kommt es in Fukushima zum Supergau
- Greenpeace nimmt Proben von Gemüse aus der Region und misst Werte von 8.000 bis 150.000 Becquerel je Kilo

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Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 116/1.2013
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2013