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KATASTROPHEN/039: Der nukleare Super-GAU ist wahrscheinlicher als stets behauptet (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 610-611 / 26. Jahrgang, 7. Juni 2012

Katastrophenplanung
Der nukleare Super-GAU ist wahrscheinlicher als stets behauptet

von Thomas Dersee



Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz: Westeuropa hat das weltweit höchste Verseuchungsrisiko durch schwere Reaktorunfälle und am höchsten ist das Risiko in Südwestdeutschland.

Katastrophale nukleare Unfälle wie die Kernschmelzen in Tschernobyl und Fukushima sind häufiger zu erwarten als bislang angenommen. Wissenschaftler des MaxPlanck-Instituts für Chemie in Mainz haben anhand der bisherigen Laufzeiten aller zivilen Kernreaktoren weltweit und der aufgetretenen Kernschmelzen errechnet, daß solche Ereignisse im derzeitigen Kraftwerksbestand etwa einmal in 10 bis 20 Jahren auftreten können und damit 200 mal häufiger sind als in der Vergangenheit geschätzt. Zudem ermittelten die Forscher, daß die Hälfte des radioaktiven Cäsium-137 bei einem solchen größten anzunehmenden Unfall mehr als 1.000 Kilometer weit transportiert würde. Die Ergebnisse zeigen, daß Westeuropa - inklusive Deutschland - wahrscheinlich einmal in etwa 50 Jahren mit mehr als 40 Kilobecquerel (40.000 Becquerel) radioaktivem Cäsium-137 pro Quadratmeter belastet wird. Die Forscher fordern aufgrund ihrer Erkenntnisse eine tiefgehende Analyse und Neubetrachtung der Risiken, die von Kernkraftwerken ausgehen. Das erklärt das Max-PlanckInstitut für Chemie in Mainz in einer Pressemitteilung vom 22. Mai 2012 und macht damit auf eine Arbeit von Professor Dr. Jos Lelieveld und Kollegen aufmerksam, die jetzt in der Zeitschrift Atmospheric Chemistry and Physics veröffentlicht worden ist.

Um die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze zu ermitteln, stellten die Mainzer Forscher demnach eine einfache Rechnung an: Sie teilten die Laufzeit aller Kernreaktoren weltweit von der Inbetriebnahme des ersten zivilen Reaktors bis heute durch die Zahl der bisherigen Kernschmelzen. Die Laufzeit der Reaktoren summiert sich auf 14.500 Jahre; die Zahl der Kernschmelzen beträgt vier - eine in Tschernobyl und drei in Fukushima. Daraus ergibt sich, daß es in 3.625 Reaktorjahren zu einem GAU kommt, dem größten anzunehmenden Unfall, wie ihn die Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (International Nuclear Event Scale, INES) definiert. Selbst wenn man dieses Ergebnis auf einen GAU in 5.000 Reaktorjahren aufrundet, um das Risiko konservativ abzuschätzen, liegt das Risiko 200mal höher als nach den Schätzungen der US-amerikanischen Zulassungskommission für Kernreaktoren von 1990.

Die Hälfte des radioaktiven Fallouts geht in Entfernungen bis 1.000 Kilometer um ein verunglücktes AKW nieder und ein Viertel der radioaktiven Partikel wird weiter als 2.000 Kilometer transportiert

Für ihre Studie unterschieden Lelieveld und Kollegen nicht, wie alt ein Kernreaktor ist, um welchen Typ es sich handelt oder ob er beispielsweise in einem besonders erdbebengefährdeten Gebiet steht. So tragen sie der Tatsache Rechnung, daß es auch in einem vermeintlich sicheren Reaktor zu einer Kernschmelze kommen kann - nicht zuletzt, weil sich nicht alle möglichen Ursachen eines solchen fatalen Unfalls vorhersehen lassen. Schließlich hatte auch die Reaktorkatastrophe in Japan zuvor niemand für möglich gehalten.

Lelieveld und Kollegen bestimmten zudem die geographische Verteilung von radioaktiven Gasen und Partikeln rund um eine mögliche Unglücksstelle mit Hilfe eines Computermodells, das die Erdatmosphäre beschreibt. Das Atmosphärenchemie-Modell berechnet meteorologische Größen sowie chemische Reaktionen in der Atmosphäre. Anhand dieses Modells kann man beispielsweise die globale Verteilung von Spurengasen berechnen und es daher auch für Voraussagen zur Verbreitung von radioaktiven Gasen und Partikeln nutzen. Um die radioaktive Verseuchung näherungsweise zu ermitteln, berechneten die Forscher, wie sich Partikel des radioaktiven Cäsium-137 (137 Cs) in der Atmosphäre verbreiten und wo sie in welchen Mengen über den Niederschlag in den Boden gelangen. Das 137Cs-Isotop entsteht als Zerfallsprodukt bei der Kernspaltung von Uran, hat eine Halbwertszeit von circa 30 Jahren und bildete nach den Havarien von Tschernobyl und Fukushima einen wichtigen Teil der radioaktiven Belastung.

Die Simulation der Mainzer Wissenschaftler ergab, daß durchschnittlich nur acht Prozent der 137 Cs-Emission in einem Umkreis von 50 Kilometern um ein verunglücktes Kernkraftwerk niedergehen. Ungefähr die Hälfte der Teilchen (50 Prozent) würde innerhalb von 1.000 Kilometern abgelagert, und etwa 25 Prozent würden sogar weiter als 2.000 Kilometer transportiert. Diese Ergebnisse belegen, daß Reaktorunfälle weit über Staatsgrenzen hinweg radioaktive Verseuchung herbeiführen können.

Westeuropa trägt weltweit das höchste Risiko einer radioaktiven Verseuchung und am höchsten ist das Risiko in Südwestdeutschland

Die Ergebnisse der Transportrechnungen kombinierten Lelieveld und Kollegen mit der ermittelten Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze und der tatsächlichen Reaktordichte in der Welt, um zu bestimmen, wie oft eine radioaktive Kontamination droht. Laut Definition der Internationalen Atomenergieagentur IAEA gilt ein Gebiet mit mehr als 40 Kilobecquerel (40.000 Bq) Radioaktivität pro Quadratmeter als kontaminiert. Zur Erinnerung: Nach der Katastrophe von Tschernobyl belastete der radioaktive Niederschlag von Cäsium-137 und Cäsium-134 den Boden in Süddeutschland vielerorts im Mittel mit etwa 40 Kilobecquerel pro Quadratmeter.

Wie das Mainzer Team nun errechnete, droht eine Verseuchung mit mehr als 40 Kilobecquerel pro Quadratmeter in Westeuropa, wo die Reaktordichte sehr hoch ist, durchschnittlich einmal in 50 Jahren. Im weltweiten Vergleich tragen die Bürger im dichtbesiedelten Südwestdeutschland durch die zahlreichen Kernkraftwerke an den Grenzen von Frankreich, Belgien und Deutschland das höchste Risiko einer radioaktiven Verseuchung.

In Westeuropa wären bei einer einzigen Kernschmelze durchschnittlich 28 Millionen Menschen von einer Verseuchung mit mehr als 40 Kilobecquerel pro Quadratmeter betroffen. Noch höher ist diese Zahl in Südasien. Ein schwerer nuklearer Unfall würde dort etwa 34 Millionen Menschen betreffen, im Osten der USA und in Ostasien wären es 14 bis 21 Millionen Menschen, errechneten Lelieveld und Kollegen.

"Der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie verringert zwar das nationale Risiko einer radioaktiven Verseuchung. Deutlich geringer wäre die Gefährdung, wenn auch Deutschlands Nachbarn ihre Reaktoren abschalteten", resümiert Jos Lelieveld. "Not-wendig ist nicht nur eine tiefgehende und öffentlich zugängliche Analyse der tatsächlichen Risiken, die von Kernkraftwerken ausgehen. Vor dem Hintergrund unserer Erkenntnisse sollte meiner Meinung nach auch ein international koordinierter Ausstieg aus der Kernenergie in Betracht gezogen werden", ergänzt der Atmosphärenchemiker.

J. Lelieveld, D. Kunkel, M.G. Lawrence: Global risk of radioactive fallout after major nuclear reactor accidents, Atmos. Chem. Phys., 12, 4245-4258, 2012,
www.atmos-chem-phys.net/124245/2012/
doi:10.5194/acp-12-4245-2012

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Juni 2012, Seite 4-5
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2012