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FISCHEREI/007: Atomtests, Sellafield, Tschernobyl und die Belastung der Meere (ForschungsReport)


ForschungsReport 1/2011
Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz

Umwelt
Atomtests, Sellafield, Tschernobyl und die Belastung der Meere
Woher kommen radioaktive Stoffe in Fischen?

Von Ulrich Rieth und Günter Kanisch (Hamburg)


Der Reaktorunfall in Tschernobyl vor 25 Jahren war Anlass, in Deutschland eine kontinuierliche Überwachung der Umweltradioaktivität gesetzlich zu verankern. Für Fische in der Nord- und Ostsee und dem Nordatlantik nimmt das Johann Heinrich von Thünen-Institut (vTI) diese Aufgabe wahr. Das regelmäßig durchgeführte Monitoring zeigt: Die Tschernobyl-Katastrophe ist nicht die einzige Ursache für radioaktive Belastungen in diesen Meeresgebieten.

Radioaktive Stoffe kommen überall in der Umwelt vor. Die Hauptquelle liegt in den Bausteinen, aus denen die Erde vor 4,5 Milliarden Jahren entstanden ist (z. B. Uran, Thorium, Kalium) und in Produkten aus der Erdatmosphäre, die durch das ständige Bombardement mit kosmischer Strahlung entstehen (Tritium, radioaktiver Kohlenstoff). Natürliche Radionuklide befinden sich auch in der marinen Umwelt. So enthält 1 Kubikmeter Meerwasser typischerweise 1.000 Bq Tritium, 4 Bq Kohlenstoff-14, 40 Bq Uran-238, 4 Bq Radium-226, 4 Bq Polonium-210 und 12.000 Bq Kalium-40.

Künstliche Radionuklide wurden in den 1950er und 1960er Jahren durch die oberirdischen Atomwaffentests großflächig in der Umwelt verteilt. Der routinemäßige Betrieb von Kernkraftwerken setzt zudem durch kontrollierte Ableitungen weitere, kleine Mengen an Radionukliden frei. Weit größere Mengen können aber bei Unfällen in kerntechnischen Anlagen in die Umwelt gelangen, wie das Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 gezeigt hat. Dabei sind die künstlichen Radionuklide Strontium-90 und Cäsium-137 für die Umwelt von besonderer Relevanz, da sie sich aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu Kalium und Calcium in der Nahrungskette anreichern. Beide haben eine Halbwertszeit von etwa 30 Jahren. Besonders das flüchtige Cäsium-137 wurde durch den Wind in weite Teile Ost-, Mittel- und Nordeuropas verdriftet.

Auch natürliche Radionuklide werden durch menschliches Handeln verstärkt in die Umwelt eingebracht. So tragen Öl- und Gasförderungen im Meer zu einer erheblichen Kontamination der Nordsee mit natürlichen radioaktiven Stoffen bei (z. B. Radium-226, Radium-228, Blei-210 und Polonium-210). Diese Zerfallsprodukte von Uran und Thorium sind im Erdinneren und speziell in den Öl- und Gasvorkommen gebunden. Sie werden bei deren Erschließung mit an die Oberfläche gefördert und in Form von Abwässern in die marine Umwelt eingebracht. Gleiches gilt prinzipiell auch für andere unterirdisch lagernde Rohstoffe.


Messen auf gesetzlicher Grundlage

Um eine kontinuierliche Überwachung der Umweltradioaktivität durchführen zu können, wurde nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl mit dem Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG) ein Integriertes Mess- und Informationssystem für die Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS) geschaffen. In diesem System werden Messungen aus verschiedenen Umweltbereichen (z. B. Luft, Wasser, aber auch Fische und Wasserpflanzen) durch die Bundesländer und Bundesbehörden zusammengetragen und bewertet.

Durch dieses Gesetz wurde das vTI-Institut für Fischereiökologie verpflichtet, die Radioaktivität in Meeresorganismen von Nord- und Ostsee und dem Nordatlantik zu ermitteln. Ferner bewertet es die Messwerte der Bundesländer im Umweltbereich Fische und Wasserpflanzen.

Abb. 1: (Karte) Mittelwerte der Cs-137-Aktivität in Gesamtfisch aus den Jahren 2004 bis 2009 in verschiedenen Gebieten der Nord- und Ostsee (Messungen des vTI) - © vTI

Abb. 1: Mittelwerte der Cs-137-Aktivität in Gesamtfisch aus den Jahren 2004 bis 2009 in verschiedenen Gebieten der Nord- und Ostsee (Messungen des vTI).
grün: < 1 Bq/kg FM, gelb: 1 bis < 3 Bq/kg FM, rot: 3 bis < 5 Bq/kg FM, violett: ≥ 5 Bq/kg FM
© vTI


Abb. 2: (Karte) Mittelwerte der Cs-137-Aktivität in Sprotten und Heringen aus den Jahren 2005 bis 2007 in verschiedenen Gebieten der Nordsee (Messungen des vTI) - © vTI

Abb. 2: Mittelwerte der Cs-137-Aktivität in Sprotten und Heringen aus den Jahren 2005 bis 2007 in verschiedenen Gebieten der Nordsee (Messungen des vTI).
grün: kein bzw. nur geringer Einfluss durch WAA Sellafield und WRA La Hague; rot: deutlicher Einfluss WAA Sellafield und WRA La Hague
© vTI

Exemplarisch zeigt Abbildung 1 die über fünf Jahre gemittelten Messwerte des Radionuklids Cs-137 in Gesamtfisch [1] aus verschiedenen Gebieten. Auf den ersten Blick ist ersichtlich, dass die Kontamination der Fische in der Ostsee deutlich (Faktor 10) höher ist als in der Nordsee. Dies ist immer noch eine Folge des Tschernobyl-Unfalls, bei dem der Ostseeraum besonders stark vom radioaktiven Niederschlag (Fallout) betroffen wurde.

Betrachtet man die Werte für Sprotten und Heringe im Nordseeraum jedoch im Detail (Abb. 2), so können auch dort leichte Unterschiede in der räumlichen Verteilung des Cs-137 gefunden werden. Im Vergleich zur Deutschen Bucht sind die Fische in der Zentralen und Nördlichen Nordsee etwas stärker belastet. Dies wird durch Einleitungen der beiden europäischen Wiederaufarbeitungsanlagen für Kernbrennstoffe (WAA) in Sellafield (Irische See) und La Hague (Ärmelkanal) und durch das Ausströmen von Cs-137-reicherem Ostseewasser erklärt. Durch verschiedene Zweige des Golfstroms gelangen Sellafield-Ableitungen bis in die nördliche, westliche und zentrale Nordsee, während ein in den Ärmelkanal gelangender GolfstromZweig die französischen Ableitungen eher am östlichen Küstenstreifen entlang nach Norden transportiert. Die Zeit für einen strömungsbedingten kompletten Austausch des Nordseewassers nach Norden ist recht kurz, womit erklärt ist, dass der direkte Tschernobyl-Eintrag in der Nordsee - ganz anders als in der Ostsee - schon nach wenigen Jahren nahezu verschwunden war. Seit Ende der 1990er Jahre überwog in dem Sellafield-Eintrag in die Nordsee das aus dem Sediment der Irischen See remobilisierte "alte" Sellafield-Cs-137 gegenüber den deutlich reduzierten direkten jährlichen Einleitungen. Die radioaktiven Kontaminationen in der Irischen See und dem Ärmelkanal werden arbeitsteilig in den Labors der Anrainerstaaten gemessen. Ein großer Teil der erhobenen Daten, so auch die Nordseedaten des Instituts für Fischereiökologie, wird an die Kommission des Meeresschutzabkommens von Oslo und Paris (OSPAR) berichtet. Damit soll kontrolliert werden, ob das Ziel erreicht wird, die radioaktiven Einleitungen bis zum Jahre 2020 soweit zu reduzieren, dass die dadurch bedingten zusätzlichen Konzentrationen "nahe bei Null" sind.

Die Langzeitdaten des Instituts für Fischereiökologie zeigen bei der Nordsee inzwischen einen Trend in Richtung eines Hintergrundniveaus, welches auch im Nordost-Atlantik gemessen werden kann - ein Relikt der oberirdischen Atomwaffentests der 1950er und 1960er Jahre während des Kalten Krieges.

Abb. 3: (Karte) Regionaler Verlauf der Mittelwerte der Cs-137-Aktivität in Fischfilets (Dorsch, Wittling, Scholle und Flunder) aus den Jahren 2004 bis 2009 (Messungen des vTI) - © vTI


Abb. 3: Regionaler Verlauf der Mittelwerte der Cs-137-Aktivität in Fischfilets (Dorsch, Wittling, Scholle und Flunder) aus den Jahren 2004 bis 2009 (Messungen des vTI).
grün: < 6 Bq/kg FM, gelb: 6 bis < 10 Bq/kg FM, rot: ≥ 10 Bq/kg FM
© vTI

Die Hinterlassenschaft von Tschernobyl in der Ostsee

Schaut man sich die Cs-137-Kontamination von Fischfleisch in der Ostsee für verschiedene Regionen an (Abb. 3), so erkennt man einen weiteren Trend. Der westliche Teil der Ostsee (Kieler und Mecklenburger Bucht) ist deutlich geringer belastet als die weiter östlich liegenden Gebiete (Bornholm Becken und Danziger Bucht). Ursache hierfür ist der hohe Tschernobyl-Eintrag in den nordöstlichen Teil der Ostsee. Bei einer zeitlichen Auswertung der Daten lässt sich aber insgesamt eine Abnahme der Kontamination seit dem TschernobylUnfall (1986) erkennen (Abb. 4). In Kooperation mit den internationalen Partnern der Helsinki-Kommission zum Schutz der Meeresumwelt in der Ostsee (HELCOM) wurden diese Daten auch mit Modellen untermauert. Die Modelldarstellung (Abb. 4) zeigt, zum Vergleich der Größenordnungen, neben der Kontamination durch den Reaktorunfall von Tschernobyl auch die Kontamination durch die oberirdischen Kernwaffentests in den 1950er und 1960er Jahren.

Abb. 4: Modellierung der Cs-137-Aktivität von Dorsch und Wittling in der östlichen Ostsee mit dem HELCOM Kompartimentmodell (Kurve); Modellparameter: Biologische Halbwertszeit 250 Tage, Konzentrationsfaktor 200 l/kg - © vTI

Abb. 4: Modellierung der Cs-137-Aktivität von Dorsch und Wittling in
der östlichen Ostsee mit dem HELCOM Kompartimentmodell (Kurve);
Modellparameter: Biologische Halbwertszeit 250 Tage,
Konzentrationsfaktor 200 l/kg.
© vTI

Eine genauere Betrachtung der Zeitreihen zeigt nach dem Anstieg des Cs-137 durch den Tschernobyl-Unfall zunächst eine schnelle Abnahme der Kontamination mit einer effektiven Halbwertszeit von 2 Jahren. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich diese Abnahme jedoch um fast eine Größenordnung auf 12 Jahre verlangsamt.

Im Rahmen von HELCOM wird diese Änderung des Trends genauer untersucht. Bisher wurde die Remobilisierung des Cäsiums aus dem Sediment als Hauptursache des langsameren Abklingens der Aktivitätswerte angesehen. Jedoch rückte in jüngster Zeit auch eine andere Quelle in den Fokus: Der Eintrag von Cs-137 aus den Böden im Einzugsgebiet der Ostsee. Dies zeigte sich für Binnengewässer bereits in einer früheren Auswertung der IMIS-Daten durch die Leitstelle. Hierbei wurden im Fisch effektive Halbwertszeiten von ca. 0,7 bzw. ca. 7 Jahren gefunden. Eine solche (neuere) Auswertung von IMIS-Daten ist in Abbildung 5 beispielhaft für die Fischart Brasse bzw. Brachsen in der Elbe gezeigt. Man erkennt die schnelle Abnahme der Cs-137-Kontamination nach dem Höhepunkt des Tschernobyl-Eintrags und die später folgende, deutlich langsamere Abnahme. Die Bedeutung des Cs-137-Eintrags aus Böden der Gewässereinzugsgebiete wird noch unterstrichen durch eine Auswertung der entsprechenden Kontamination in Milch. Cs-137-Werte von Milchproben aus skandinavischen Ländern zeigten einer norwegischen Studie zufolge nach Tschernobyl sehr ähnliche Zeitverläufe mit effektiven Halbwertszeiten von ca. 1 und ca. 8 Jahren.

Abb. 5: Kurvenanpassung an Cs-137-Aktivitätsdaten von Brassen bzw. Brachsen aus der Elbe. In den ersten Jahren nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl ging die Aktivität relativ schnell zurück (effektive Halbwertszeit 0,8 Jahre). Ab etwa 1990 (4 Jahre nach dem Unfall) verringerte sich die effektive Halbwertszeit auf etwa 8 Jahre. Brachsen, Elbe (199 Proben) - © vTI

Abb. 5: Kurvenanpassung an Cs-137-Aktivitätsdaten von Brassen bzw.
Brachsen aus der Elbe. In den ersten Jahren nach dem Reaktorunfall von
Tschernobyl ging die Aktivität relativ schnell zurück (effektive
Halbwertszeit 0,8 Jahre). Ab etwa 1990 (4 Jahre nach dem Unfall)
verringerte sich die effektive Halbwertszeit auf etwa 8 Jahre.
Brachsen, Elbe (199 Proben)
© vTI

Die Situation bei Süßwasserfischen

Werte zur aktuellen Cs-137-Belastung in Süßwasserfischen der deutschen Binnengewässer sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Zur Information sind auch Daten für Meerwasserfische aus Nordsee und Ostsee enthalten. Bei den Süßwasserfisch-Daten fällt auf, dass vor allem in Fließgewässern und Fischteichen, welche sich häufig aus Fließgewässern speisen, die Cs-137-Aktivitäten (Medianwerte) bei unter 1 Bq/kg Frischmasse liegen. Dies entspricht den Werten aus der Zeit vor dem Tschernobyl-Unglück und damit den Werten, die durch die Kernwaffentests verursacht wurden. Bei den Binnenseen gibt es aber nach wie vor einige Gewässer, die 1986 stärker vom Fallout betroffen wurden und die heute immer noch deutlich über dem Durchschnitt der Kontamination liegen (siehe max.-Werte in Tabelle 1). Der Großteil der Binnenseen nähert sich aber ebenfalls dem "Kernwaffen-Fallout-Hintergrund" an. Abschließend kann aber noch angemerkt werden, dass selbst die höhere Kontamination der Ostseefische in einer unbedenklichen Größenordnung liegt und der Verzehr von Ostseefisch und Fisch insgesamt nur zu einem Bruchteil (weniger als 0,01%) der natürlichen Strahlenbelastung des Menschen beiträgt.

Dr. Ulrich Rieth und Dipl.-Phys. Günter Kanisch, Johann Heinrich von ThünenInstitut, Institut für Fischereiökologie, Marckmannstraße 129b, Haus 4, 20539 Hamburg. E-Mail: ulrich.rieth[at]vti.bund.de

Tab. 1: Spezifische Cs-137-Aktivität in Fischen (2009; Messungen der Bundesländer) - differenziert nach Gewässer (Binnenseen, Fischteiche, Fließgewässer, Meer) und Region (Süddeutschland, Mitteldeutschland, Norddeutschland, Nordsee, Ostsee)

Tab. 1: Spezifische Cs-137-Aktivität in Fischen (2009; Messungen der Bundesländer) -
differenziert nach Gewässer (Binnenseen, Fischteiche, Fließgewässer, Meer) und Region
(Süddeutschland, Mitteldeutschland, Norddeutschland, Nordsee, Ostsee)


[1] Unter dem Begriff Gesamtfisch sind alle Fische zusammengefasst, bei denen der komplette Fisch mit Knochen und Organen für die Messung herangezogen wurde. Darunter fallen zum Beispiel Heringe und Sprotten, aber auch Plattfische wie Schollen und Klieschen, die zu klein waren, um daraus Filets zu gewinnen.


Entnommen aus ForschungsReport 1/2011.
Diesen Artikel inclusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.forschungsreport.de


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Quelle:
ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz
1/2011, Heft 43 - Seite 31-34
Herausgeber:
Senat der Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Schriftleitung & Redaktion: Dr. Michael Welling
Geschäftsstelle des Senats der Bundesforschungsanstalten
c/o Johann Heinrich von Thünen-Institut (vTI)
Bundesallee 50, 38116 Braunschweig
Tel.: 0531/596-1016
E-Mail: michael.welling@vti.bund.de
Internet: www.forschungsreport.de, www.bmelv-forschung.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2011