Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 3/2022
Vergiftete Profite: (K)ein Ende der Pestizidnutzung in Sicht?
Koloniale Kontinuitäten
Über die Notwendigkeit eines internationalen Rahmens für
Pestizide auf der Grundlage einer dekolonialen Perspektive
von Larissa Bombardi
Pestizide werden weltweit in der Landwirtschaft genutzt und gehandelt. International ist nur ein Bruchteil der Pestizide reguliert, die auf dem Markt sind. Jedoch haben einzelne Länder schärfere Regulierungen und verbieten den Gebrauch vieler gefährlicher Pestizide. In den nationalen Beschränkungen gibt es eine erhebliche Asymmetrie zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden. Der Norden schirmt sich vor den Auswirkungen vieler Stoffe, die dort produziert werden ab. Im Kern wird hier die koloniale Deutung der ungleichen Wertigkeit von Menschen fortgeführt.
Die Industrialisierung der Landwirtschaft - die es ermöglichte, die landwirtschaftliche Produktion in großem Maßstab und mit global standardisierten Methoden durchzuführen - wurde als Grüne Revolution bekannt. Ihr voran ging das Versprechen, den Hunger durch den Einsatz von Technologie zu überwinden. Seitdem ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen und die Anbaumethoden, Pflanzenarten und Landschaften wurden überall verändert. Doch der Hunger ist geblieben. Derzeit ist die Zahl der Hungernden in der Welt wieder gestiegen. Im Jahr 2020 waren zwischen 9,2% und 10,4% der Weltbevölkerung von Hunger betroffen.
Ein wichtiger Teil der Grünen Revolution war der Einsatz von synthetischen Pestiziden. Seit Beginn der Nutzung nahmen der Einsatz und die Produktion von Pestiziden weltweit stetig zu. Das weltweite Geschäft mit Pestiziden umfasste im Jahr 2020 rund 60 Milliarden US-Dollar, wobei etwa ein Drittel dieses Betrags von Unternehmen mit Sitz in der Europäischen Union kontrolliert wurde. Es ist allgemein bekannt, dass diese Stoffe schwerwiegende Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte Anfang der 1990er-Jahre, dass jährlich etwa eine Million Menschen unfreiwillig mit Pestiziden vergiftet werden. Heute liegt die Zahl bei 385 Millionen ungewollter Vergiftungen, wovon 11.000 tödlich enden.[1]
Die derzeitige internationale Gesetzgebung zu Pestiziden besteht aus drei verbindlichen Abkommen, die sich mit Pestiziden befassen: das Basler Übereinkommen (1992), das Stockholmer Übereinkommen (2004) und das Rotterdamer Übereinkommen (2004).
1. Das Basler Übereinkommen
Das Basler Übereinkommen betrifft die Kontrolle der
grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle
(nicht nur Pestizide) und deren Entsorgung. Durch die sogenannte
Verbotsänderung verbietet dieses Übereinkommen
die grenzüberschreitende Verbringung von gefährlichen
Abfällen aus OECD-Ländern (Industrieländern) in
Nicht-OECD-Länder. Die sogenannte Verbotsänderung wurde
jedoch noch nicht von einer ausreichenden Anzahl von
Ländern ratifiziert, damit sie in Kraft treten kann. Länder
wie die Vereinigten Staaten, Australien, Kanada, Mexiko,
Indien und Brasilien, die eine wichtige Rolle im weltweiten
Handel mit Pestiziden spielen, sind immer noch nicht Teil
des Übereinkommens.
2. Das Stockholmer Übereinkommen
Das Stockholmer Übereinkommen betrifft POPs (persistente
organische Schadstoffe). Diese Stoffe gelten als hochgiftig,
persistent und bioakkumulierbar. Sie verbreiten sich über
weite Entfernungen, sodass sie auch in Teile der Erde vorkommen,
in denen diese Stoffe nicht verwendet wurden.
Ursprünglich verpflichtete das Stockholmer Übereinkommen zur
Verringerung und Beseitigung von zwölf
Stoffen, darunter neun Pestizide : Aldrin, Chlordan, DDT,
Dieldrin, Endrin, Heptachlor, Hexachlorbenzol, Mirex und
Toxaphen. Derzeit zielt das Stockholmer Übereinkommen
auf die Abschaffung von 16 Wirkstoffen ab, die als Pestizide
eingesetzt werden (neben den oben genannten sind dies:
Chlordecon, Dicofol, Pentachlorphenol, technisches Endosulfan)
und die Beschränkung der Verwendung von DDT.[2]
Es liegt auf der Hand, dass die Liste der 16 Pestizide, die
weltweit abgeschafft werden sollen, äußerst begrenzt oder
besser gesagt noch nicht ganz vollständig ist. Man muss bedenken,
dass es 383 Substanzen (Wirkstoffe) gibt, die in der
Europäischen Union verboten oder nicht zugelassen sind.
Oder dass es insgesamt 460 Substanzen gibt, die bereits
von einem oder mehreren Länderblöcken verboten wurden.
3. Das Rotterdamer Übereinkommen
Das Rotterdamer Übereinkommen betrifft die Annahme des Verfahrens
der vorherigen Information und Zustimmung (PIC-Verfahren)
zwischen den Vertragsparteien. Gemäß diesem Übereinkommen werden
Länder, die Pestizide einführen, die in den Ursprungsländern (d.
h. den Ländern, die die Ausfuhr vornehmen) als hochgiftige Stoffe
gelten, über die Risiken dieser Stoffe informiert und stimmen mit
dem Wissen über das Risiko der Einfuhr zu.
Die dem PIC-Verfahren unterliegenden Chemikalien sind in Anhang
III des Rotterdamer Übereinkommens aufgeführt. Die Stoffe sind
aus Gesundheits- oder Umweltgründen von zwei oder mehr
Vertragsparteien verboten oder strengen Beschränkungen
unterworfen. Von den insgesamt 52 in Anhang III aufgelisteten
Chemikalien sind 35 Pestizide (darunter drei sehr gefährliche
Pestizidformulierungen), 16 Industriechemikalien und eine
Chemikalie, die sowohl in die Kategorie Pestizide als auch in die
Kategorie Industriechemikalien fällt.[3] In der Praxis befreit
die Unterzeichnung der Zustimmung für die Einfuhr dieser Stoffe
die Ausfuhrländer von der Verantwortung - zumindest in
rechtlicher Hinsicht.
Neben den obligatorischen Abkommen gibt es auch regionale Abkommen, die zwischen Gruppen von Ländern oder Blöcken geschlossen wurden. Hervorzuheben ist die REACH-Verordnung der EU (Registrierung, Bewertung und Zulassung von Chemikalien), die 2006 eingeführt wurde. Sie gilt als eine der schärfsten Regulierungen weltweit - obwohl es auch hier viele Defizite gibt. Zentral ist das Vorsorgeprinzip, das als Grundlage für die Entscheidungsprozesse bei der Zulassung und Verwendung von Stoffen dient. In der Praxis besteht eine absolute Ungleichheit in Bezug auf die Beschränkung hochgiftiger Pestizide in der Welt. Während die Europäische Union 175 Pestizide verboten und 208 weitere nie zugelassen hat, sind in Brasilien 12, in Palästina 52, in Burkina Faso 27, in Mali 20, in Senegal 28, auf den Philippinen 21, in Guatemala 6, in Peru 23 und in Uganda 7 Stoffe verboten.[4]
Solche internationalen Regelungen sind daher äußerst kolonialistisch: Die Völker einiger Länder, vor allem im Globalen Süden, sind buchstäblich weniger wert als die Völker der Europäischen Union.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass der derzeitige verbindliche Regelungsrahmen der BRS-Konventionen eine tiefgreifende globale Asymmetrie zwischen den Ländern in der Mitte und in der Peripherie (Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen) aufrechterhält. Insbesondere eine Nord-Süd-Asymmetrie, die weit über wirtschaftliche Aspekte hinausgeht und entlang dieser Menschen auf ungleiche Art und Weise hochgiftigen Chemikalien ausgesetzt sind.
Die internationalen Konventionen für toxische Substanzen liegen weit hinter den Standards, die bspw. REACH geschaffen hat und entsprechen daher nicht den aktuellen Anforderungen an den Schutz der Gesundheit von Mensch und Umwelt. Diese Konventionen sind nicht nur unzureichend und unausgereift, sondern haben auch dazu gedient, die Europäische Union zumindest teilweise von den Auswirkungen solcher Stoffe abzuschirmen. Solche internationalen Regelungen sind daher äußerst kolonialistisch: Die Völker einiger Länder, vor allem im Globalen Süden, sind buchstäblich weniger wert als die Völker der Europäischen Union.
Es ist daher dringend notwendig, einen internationalen Regulierungsrahmen zu schaffen, der horizontal zwischen den Ländern des Südens und des Nordens in einer dekolonialen Perspektive ausgearbeitet wird, in der das Recht auf Leben, das Recht des Kindes, das Recht zukünftiger Generationen und das Recht auf eine gesunde Umwelt Vorrang vor jeglichen kommerziellen Interessen haben müssen. Eine internationale Regelung für Pestizide mit gleichen Regeln für alle Länder muss erarbeitet werden. Dieses Rahmenwerk muss insbesondere folgende Aspekte beinhalten:
Die Vereinten Nationen sind der Ort, um ein solches
Rahmenwerk auf den Weg zu bringen, ähnlich wie derzeit
das internationale Abkommen für Plastik dort erarbeitet wird.
Zivilgesellschaftliche Organisationen aber auch
Forscher:innen müssen den Dialog mit den Vereinten Nationen und
der internationalen Arbeitsorganisation suchen
und den Druck erhöhen, damit ein entsprechendes Rahmenwerk für
Pestizide geschaffen wird.
Die derzeitige internationale Regulierung betrachtet
Pestizide als ein Problemfeld neben anderen toxischen
Stoffen. Das macht den Umgang mit ihnen sehr schwierig und
diffus. Ein internationales Abkommen speziell
zu Pestiziden ist nötig, denn sie sind intendiert giftig und
werden massiv eingesetzt. Wir können uns jede Debatte
über Ernährungssicherheit und -souveränität auf globaler Ebene
sparen, wenn wir nicht weltweite Standards für
Einsatzgrenzen, Rückstandsbeschränkungen und auch den
programmierten Verzicht auf den Pestizideinsatz festlegen.
Larissa Bombardi ist Professorin für Geografie an der Universität von São Paulo. Aufgrund ihrer Arbeit zum Pestizideinsatz in Brasilien wurde sie gezielt eingeschüchtert und ging nach Brüssel ins Exil.
Aus dem Englischen von Tom Kurz
[1] Boedeker, W. et al (2020): The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review. In: BMC Public Health.
[2] Secretariat of the Stockholm Convention: All POPs listed in the Stockholm Convention.
[3] Secretariat of the Rotterdam Convention: Annex III Chemicals.
[4] PAN International (2022): PAN international consolidated list of banned pesticides.
Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der
UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert
die Aktivitäten der deutschen NROs in internationalen
Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist
der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur-,
Tier- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V.
*
Quelle:
Rundbrief 3/2022, Seite 10-12
Herausgeber:
Forum Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 920
E-Mail: info@forumue.de
Internet: www.forumue.de
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 12. Mai 2023
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