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VERBRAUCHER/063: Precyceln statt recyceln - Müllvermeidung im Einzelhandel (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 180 - Juni / Juli 2014
Die Berliner Umweltzeitung

Precyceln statt recyceln
Immer mehr Einzelhändler setzen bei Müllvermeidung auf Präventionsmaßnahmen

Von Till Kleemann



Verpackungen sind so in unseren Alltag integriert, dass sie kaum wegzudenken sind. Egal was man kauft, vom Salat bis zum Schokoriegel, alles ist einfach und doppelt in Plastikfolien, -schachteln und -tüten eingepackt. Fast immer wenn wir konsumieren reißen und ziehen wir irgendetwas auf - mehrmals am Tag, ohne je groß darüber nachzudenken. Das war nicht immer so. Vor nicht allzu langer Zeit, bevor es große Supermarktketten gab, und man sich Lebensmittel auf Märkten oder beim Bauern kaufte, war es normal, sich seine "Verpackungen" selbst mitzubringen. Für die Milch eine Kanne, für Obst und Gemüse einen Korb und so weiter. Plastikverpackungen gab es noch nicht. Und auch später hatten diese zunächst vor allem den Zweck, die Waren zu schützen. Das hat sich vor etwa 60 Jahren geändert. Es entstanden Selbstbedienungsläden, in denen nicht mehr ein Verkäufer hinter einer Theke stand und die Kunden beriet und bediente. Immer größere Produktvielfalt in immer größeren Supermärkten sorgte für einen Konkurrenzkampf zwischen den Produkten. Die Ware muss im Regal für sich werben. Verpackungen sind zu einer Art drei-Sekunden-Werbespot geworden und sollen zwischen 170.000 anderen Produkten die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Immer aufwändiger, umfangreicher und größer wird eingepackt.

Das Ergebnis sehen wir in unseren Mülleimern. Im Schnitt produziert jeder Deutsche im Jahr etwa 140 Kilogramm Müll auf diese Weise. Die wachsenden Mengen von Haushalts- und Industrieabfällen stellen die Ursache für eine ganze Reihe von Problemen dar. Natürlich spielt der bekannte ökologische Aspekt, insbesondere die Verschmutzung der Meere, eine entscheidende Rolle. Hinzu kommen noch gesellschaftliche, hygienische und ökonomische Faktoren. Der entstehende Müll ist nicht nur schwierig zu entsorgen, auch die Produktion belastet die natürlichen Ressourcen. Und letztendlich ist es der Konsument, der für alle Kosten aufkommen muss.

Es geht auch ohne

Weltweit gehen immer mehr Geschäfte gegen die Verpackungsbranche vor. Vorreiter war ein Laden in London 2007, ein weiterer folgte in Texas. Später reihte sich das Lunzers in Wien in den Trend ein. Alle versuchen das angeblich Unmögliche: Sie verkaufen lose Ware. Vier Frauen aus Berlin planen sogar eine Supermarktkette mit Unverpacktem als Franchise-Modell. Von Paris bis Amsterdam werden Ecken in Geschäften eingerichtet, in denen Produkte in mitgebrachte Behältnisse abfüllt werden können. Der erste deutsche Laden wurde von Marie Delaperriere in Kiel ins Leben gerufen. Die Mutter von drei Kindern ärgerte, dass sie nach jedem Einkauf einen Berg von Müll mit nach Hause brachte, auch wenn sie vom Markt oder Bioladen kam, und zog die Konsequenz. Sie eröffnete das Lebensmittelgeschäft unverpackt, an dessen Wänden sich geschlossene Plexiglas- und Edelstahlbehälter befinden. Die Kunden können unter anderem Mehl, Öl, Wein, Müsli, Apfelsaft oder Zucker abfüllen, soviel sie brauchen und nur in selbstmitgebrachte Behälter wie zum Beispiel Gläser, Papier und Stoffbeutel. Es gibt alles was man braucht, von Eiern über Trockentomaten bis hin zu Obst und Gemüse. Außerdem ist alles Bio- oder regionale Ware.

"Ich habe in meiner Heimat Frankreich gesehen, dass das funktioniert und mich gewundert, dass es das hier nicht gibt", sagt Marie Delaperriere. "Das einzig Schwierige war bisher, Lieferanten zu finden, die Waren in großen Gebinden verkaufen. [...] Vor allem bei regionalen Produkten oder wenn man einen besonderen Anspruch wie Bio-Qualität hat, gibt es nicht viele." Dieses Problem sieht auch Emilie Florenkowsky. Die geborene US-Amerikanerin gründete 2013 das Unternehmen unverpackt-einkaufen mit dem Ziel, das sogenannte Bulk Shopping Modell auf dem deutschen Markt bekannter zu machen und dieses in das bereits bestehende Supermarktsystem zu integrieren. Derzeit ist die Infrastruktur für Bulkwaren in großen abgepackten Liefermengen eher schwach und das öffentliche Bewusstsein für diese Art des Konsums kaum vorhanden. Dagegen möchte sie mit ihrer Organisation vorgehen. Durch den Vertrieb der notwendigen Ladenausstattungen, wie beispielsweise Regale- und Behältersysteme, bieten sie den Einzelhändlern die Möglichkeit für den Verkauf loser, unverpackter Waren. Die Bulk Shopping-Systeme können individuell abgestimmt und auf der Verkaufsfläche realisiert werden.

Der Fokus der Bemühungen liegt zunächst auf dem Trockensortiment, grundsätzlich ermöglicht unverpackt-einkaufen aber auch verpackungsfreie Lösungen für verschiedene Produktkategorien, wie zum Beispiel für Wasch- und Reinigungsmittel oder für Speiseöle. Durch Netzwerkarbeit und Informationsaustausch mit diversen Herstellern, soll eine Grundlage geschaffen werden. Die Unternehmerin berät Einzelhändler, wie sie von den Verpackungen wegkommen und wiederverwendbare Alternativen einsetzen können. Mit der Ausarbeitung und Bereitstellung einer dazugehörigen Infrastruktur soll so ein neuer Markt geöffnet werden. Das angestrebte Ziel ist die Verbreitung des Bulkwarenkaufs in Deutschland. Das Modell ist ein bewährter und effektiver Weg, um das äußerst wichtige Problem des Verpackungsmülls aktiv anzugehen.

Erster Erfolg für unverpackt-einkaufen

Marion Ziehrer ist die Leiterin des Lebensmittelladens Biosphäre in Neukölln. Sie ist eine der ersten Kund/innen von unverpackt-einkaufen. Seit Ende März verkauft sie in ihrem Laden 19 Trockenprodukte, darunter Nüsse, Getreide, Müsli und Reis unverpackt zum Selbstabfüllen. Auch Reinigungsmittel gibt es zum Selbstabfüllen. Dabei ist sie auf einen Widerspruch an sich gestoßen: Die Kunden wollen Verpackungen. Die Menschen in Neukölln gelten als jung und hip, die Umwelt ist ihnen wichtig, jedoch mehr kosten sollten die Lebensmittel besser nicht. Sie kaufen häufig spontan, unterwegs und haben keine mitgebrachten Behälter dabei. Darum machte sie mit ihren Kunden einige Experimente. In den Regalen lagen Rucola mit und ohne Packung. Auch für Obst hat sie die Tüten rationiert.

Ihr Fazit: Die Leute sind an Verpackungen gewöhnt, aber wenn es sein muss, geht es auch ohne. Das zeigt sich am Erfolg des neuen unverpackten Angebots. Ihre Erfahrungen seit März sind sehr positiv. Die Kunden bringen ihre eigenen Verpackungen immer häufiger mit, die Zuziehbeutel aus Naturstoff, die unverpackt-einkaufen zur Verfügung stellte, waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Sparen kann man in ihrem Laden ebenfalls. "Bei 125 Gramm abgepacktem Rucola bezahlt man gut 20 Prozent des Preises für die Schale", sagt Ziehrer. Beim Glasreiniger musste sie dreimal nachsehen, weil sie es nicht glauben konnte: 40 Prozent des Preises spart, wer die Flasche mit dem Sprühkopf wiederverwendet.

Nachdem das Unternehmen in Neukölln seine Wurzeln geschlagen hat, wird nun weiter expandiert. Noch ist es ein Konzept für Bio-Supermärkte, doch irgendwann sind es vielleicht herkömmliche Supermarktketten und Discounter, die von diesem Konzept Gebrauch machen. "Gerade dort kaufen Menschen ein, die auf den Preis achten müssen", sagt Emilie Florenkowsky. "Bei loser Ware sparen sie doppelt: Weil sie die Packung nicht mitbezahlen müssen und weil sie nur kaufen, was sie wirklich brauchen. Und wenn es 50 Gramm Grieß sind. Das überzeugt auch Kunden, die sich am Müll gar nicht so stören."



Weitere Informationen:
www.unverpackt-einkaufen.de

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Quelle:
DER RABE RALF - 25. Jahrgang, Nr. 180 - Juni/Juli 2014, Seite 13
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 8, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47, -57, Fax: 030/44 33 91-33
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Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2014