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ATOM/957: Werkstoff-Expertin bestätigt Sicherheitsmängel im Notkühlsystem des AKWs Biblis B (IPPNW)


IPPNW - Berlin, den 23. Oktober 2009

Werkstoff-Expertin bestätigt Sicherheitsmängel im Notkühlsystem des Atomkraftwerks Biblis B


Gestützt auf Angaben des TÜV bestätigt die Werkstoff-Expertin Dr. Ilse Tweer auf eine aktuelle Anfrage der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW für das Notkühlsystem des Atomkraftwerks Biblis B drei gravierende Sicherheitsmängel. "Erstens ist die Auslegung des Systems wegen der festgelegten geringen Rohrwanddicken in Frage gestellt", so Tweer, die jahrelang als Gutachterin für das Institut für Risikoforschung der Universität Wien gearbeitet hat. Zweitens weise der Werkstoff des Sicherheitssystems vielfach nicht die erforderlichen Eigenschaften (Festigkeitskennwerte) auf. Drittens sei wegen fehlender "Stempelfelder" die Werkstoffqualität von rund 330 Bauteilen des Notkühlsystems nicht zweifelsfrei identifizierbar (darüber berichtete gestern auch das ARD-Magazin "Kontraste"). "Diese drei Defizite überlagern sich, so dass insgesamt die Integrität des Rohrleitungssystems nicht als nachgewiesen angesehen werden kann", so Tweer. Abgesehen von diesen drei Mängeln sei nicht auszuschließen, dass es in einem Teil der rund 1500 Schweißnähte des Notkühlsystems Risse gibt, die unter Störfallbedingungen aufreißen könnten.

Tweer hat Unterlagen ausgewertet, die die IPPNW im Rahmen ihrer Klage auf Stilllegung von Biblis B beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof eingereicht hatte. "Die IPPNW hat allein für das Notkühlsystem von Biblis B 19 Sicherheitsmängel dokumentiert, neben den genannten Werkstoffproblemen geht es hierbei auch um eine Reihe verfahrenstechnischer Probleme", so IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz.


Hintergrund:

1. Die TÜV Gutachtergemeinschaft PSÜ hat festgestellt, dass die aus der Errichtungszeit festgelegten Rohrwanddicken für Rohre und T-Stücke des Notkühlsystems in Biblis B möglicherweise nicht ausreichend bemessen sind, so dass die Integrität des TH-Systems möglicherweise nicht sichergestellt ist. Auch die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) beklagt geringe Rohrwanddicken in Altanlagen wie Biblis. Tweer: "Das heißt, dass die Integrität des Rohrleitungssystems schon durch die unzureichende Auslegungsberechnung in Frage gestellt ist."

2. Laut TÜV Gutachtergemeinschaft PSÜ wurde in einer Werkstoffanalyse ermittelt, dass die bei der Auslegung berücksichtigten Festigkeitskennwerte bei den Bauteilen des Notkühlsystems nicht immer eingehalten werden. "Das heißt, dass die bei der Auslegungsberechnung zugrunde gelegten Werkstoffeigenschaften (Festigkeitskennwerte) bei den identifizierbaren rund 990 Rohrleitungsteilen nicht gesichert sind, so dass möglicherweise die Integrität dieser Bauteile nicht gewährleistet ist", so Tweer.

3. Der TÜV Süd hat außerdem festgestellt, dass bei etwa einem Viertel der rund 1320 Bauteile des Notkühlsystems in Biblis B die Stempelfeld-Informationen fehlen. "Das bedeutet, dass man die Festigkeitskennwerte für rund 330 Bauteile nicht kennt", so Tweer. "Damit fehlt der Nachweis für die erforderliche Werkstoffqualität.
Plausibilitätsbetrachtungen, wie sie in Biblis offenbar mit Billigung der hessischen Atomaufsicht vorgenommen wurden, sind hierfür kein Ersatz", stellt die Werkstoff-Expertin fest.

Die Punkte 2 und 3 haben Auswirkungen auf die durchgeführte Neuberechnung des Notkühlsystems. Denn für diese Berechnung seien anstelle der tatsächlich unzureichenden Werkstoffkennwerte laut TÜV "die nach der Werkstoffnorm gewährleisteten [besseren] Mindestwerte der Festigkeit verwendet" worden. "Daraus ergibt sich, dass die Neuberechnung des Notkühlsystems keinen ausreichenden Nachweis der Integrität des Systems liefert", so das Urteil der Werkstoff-Expertin, "insbesondere, da auch eine Neuberechnung die fehlenden Informationen über den tatsächlich verwendeten Werkstoff in den Bereichen ohne Stempelfelder nicht ausgleichen kann."

"Man muss aufgrund der genannten Fakten und werkstoffkundlichen Bewertungen damit rechnen, dass das Notkühlsystem von Biblis B unter Störfallbedingungen versagt", folgert IPPNW-Experte Paulitz. "Da ein Atomkraftwerk ohne ein nachweislich sicheres Notkühlsystem nicht betrieben werden darf und dieses auch nicht runderneuert werden kann, muss Biblis B stillgelegt werden."

Weitere Informationen: www.ippnw.de/atomenergie


Über die IPPNW:

Diese Abkürzung steht für International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges engagieren sich seit 1982 für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg. 1985 wurden sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seit 1990 stehen zusätzlich gesundheitspolitische Themen (z.B. Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten) auf dem Programm des Vereins. In der IPPNW sind rund 7.000 ÄrztInnen und Medizinstudierende organisiert.


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Quelle:
Presseinformation der IPPNW - Deutsche Sektion der
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, 23.10.2009
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Sven Hessmann, Pressereferent
Tel.: 030-69 80 74-0, Fax: 030-69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2009