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ATOM/1288: Teurer und langwieriger Ausstieg - Besuch im ehemaligen KKW Rheinsberg (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 188 - Oktober/November 2015
Die Berliner Umweltzeitung

Besuch im ehemaligen KKW Rheinsberg
Der Ausstieg aus der Atomkraft gestaltet sich teuer und langwierig

Von Volker Voss


Nach der Fahrt über eine längere, schmale Straße durch einen Wald, mitten in einem Naturschutzgebiet zwischen Nehmitzsee und Großen Stechlinsee gelegen, taucht am Ende die Einfahrt zum Gelände des ehemaligen Kernkraftwerks (KKW) Rheinsberg im Land Brandenburg auf. Nicht gerade einladend wirkt die Betonmauer mit Stacheldraht rund um die Anlage. Im Umkreis von drei Kilometer gibt es keine Bewohner_innen. Nach der Anmeldeprozedur am Pförtnerhäuschen richtet sich der Blick zunächst auf das dreistöckige Verwaltungsgebäude, Baujahr 1960/61, hinter dem sich das Gebäude befindet, in dem ursprünglich der nukleare Reaktor installiert war.

Irgendwie sieht es eher wie ein altmodisches Kurhaus aus. Kerntechniker Jörg Möller, der die Besucher_innen am Eingang in Empfang nimmt, bestätigt, dass viele die herkommen, diesen Eindruck äußern. In diesem scheinbaren Kurhaus und auf dem restlichen Gelände organisieren die verbliebenen 120 Mitarbeiter_innen den Rückbau des ehemaligen KKW. 1989 waren es noch 730 Mitarbeiter_innen, die den Ablauf organisierten. Das KKW entstand in enger Kooperation zwischen Fachleuten der DDR und der UdSSR. Der eingebaute Druckwasserreaktor vom Typ WWER-2 stammte aus sowjetischer Produktion. Seit dem 9. Mai 1966 war das KKW in Betrieb. Am 1. Juni 1990 wurde es abgeschaltet. Es war insgesamt 130.000 Stunden am Netz. Seit 1995 befindet es sich im Rückbau, der langwierig und teuer ist.

Es kam wohl nicht unbedingt auf Höchstleistungen an. Die ostdeutsche Atomanlage war von ihrer Leistungskapazität gerade mal in der Lage, eine Stadt in der Größenordnung von Potsdam mit Energie zu versorgen, merkt Möller an. Während Rheinsberg auf 70 Megawatt (MW) kam, konnte beispielsweise das ebenfalls 1966 in Westdeutschland in Betrieb genommene KKW Neckarwestheim 1 mit 840 MW aufwarten. Mit ihren hohen MW-Leistungen übertrafen die 17 bundesdeutschen Atomanlagen die ostdeutschen bei weitem. Allein das noch in Betrieb befindliche AKW Brokdorf in Schleswig Holstein kommt auf 1.480 MW.

Verlustgeschäft Atomkraft

Von der Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt abgesehen, war das Abenteuer Atomkraft - alle Kosten eingerechnet - ein wirtschaftliches Verlustgeschäft. Im Westen bescherten die Atomanlagen den privaten Energiekonzernen mit ihren hohen Megawattzahlen zwar während der Laufzeiten zunächst erhebliche Gewinne. Doch als sich die Frage nach den Rückstellungen für den späteren Rückbau der hoch radioaktiven Anlagen plus der zu niedrig eingestuften Versicherungspolicen stellte, wurde klar, dass die Rechnung neu aufgestellt werden musste. Auch die staatlichen Betreiber der beiden Anlagen in der ehemaligen DDR, die nicht profitorientiert arbeiteten, erlebten ein finanzielles Desaster. "Auch wir hatten damals schon unser Schönefeld", scherzt Kerntechniker Möller mit Anspielung auf die aktuelle Situation am geplanten Hauptstadtflughafen BBI. "Es stellte sich seinerzeit die Frage, ob das Werk überhaupt fertiggestellt werden kann, die Kosten sind regelrecht aus dem Ruder gelaufen."

Nach der Abschaltung der Anlage kam die nächste Überraschung: "Der Rückbau kostet mehr, als jemals an Energiegewinnung eingenommen wurde", berichtet Jörg Möller. Hinzu kommt noch, dass zu DDR-Zeiten keine Rückstellungen für den späteren Rückbau gebildet wurden. Außerdem gingen noch die überwiegend in den 1970er Jahren in Betrieb genommenen fünf Blöcke des ostdeutschen Kernkraftwerkes Lubmin nahe Greifswald mit jeweils 440 Megawatt-Leistung Ende 1989 beziehungsweise 1990 vom Netz.

Jahrzehntelanger, teurer Rückbau

Bedenkt man, dass selbst der Rückbau des recht kleinen KKW in schon seit 20 Jahren läuft und längst nicht abgeschlossen ist, wird der ernüchternde Ausblick auf die Mammutaufgabe des Rückbaus aller 17 deutschen Anlagen klar. Allein schon in Rheinsberg fiel eine abzubauende Gesamtmasse von etwa 342.000 Tonnen an. Rund 63.000 davon sind mit radioaktiven Stoffen belastet. Grundsätzlich erfordert allein die Zerlegung der hoch aktiven Bauteile aus dem Kernzonenbereich eine millionenschwere Technik. Denn der Zerlegungsprozess erfolgt in minuziöser Kleinarbeit, ferngesteuert in einer sogenannten Zerlegestation unter Wasser. Bis 2020 werde die gesamte Infrastruktur auf dem Gelände abgebaut sein. Ohnehin sei die Kontamination der Anlage höher, als ursprünglich gedacht. Grundsätzlich sei der Rückbau eines Atomkraftwerkes eine Angelegenheit von Jahrzehnten. Nun kranke die Branche daran, dass Fachkräfte wie beispielsweise Kerntechniker fehlen, die für den Rückbau der Anlagen nötig seien. Kaum einer will sich dafür noch ausbilden lassen. Zu schlecht sei das Image der Atomindustrie, merkt Möller an.

"Privatwirtschaftliche Atomkraftwerke wurden mit hunderten Milliarden Euro aus Steuergeldern subventioniert. Die nukleare Hinterlassenschaft wieder loszuwerden, dauert ein Vielfaches an Jahren und verschlingt viele weitere Milliarden", errechnete Greenpeace. Allein die KKW und die atomaren Forschungsanlagen in der Ex-DDR, für die der Bund zuständig ist, würden den Steuerzahlern bis 2035 über zehn Milliarden Euro kosten.

Unzureichende Rückstellungen

Doch die Rückstellungen der Atomindustrie für den Rückbau der Atomkraftwerke reichen längst nicht aus, um diese Mammutaufgabe zu bewältigen. 35 Milliarden Euro an Rückstellungen müssten die Energiekonzerne RWE, Vattenfall, Eon und EnBW eigentlich für den Rückbau und die Entsorgung ihrer Atomkraftwerke zurückgelegt haben, so Greenpeace. "Doch nun wird klar: Zumindest RWE muss seine zehn Milliarden Euro Anteil offenbar erst noch verdienen", so Greenpeace weiter. "Das braucht alles Geld", sagte Peter Terium, Vorstandsvorsitzender von RWE, gegenüber dem Nachrichtensender n-tv zum Thema. "Das Geld muss irgendwo verdient werden. Und wenn nicht in der Braunkohle, dann wird es schon sehr schwierig, all das zu stemmen." Terium verweist absurderweise auf die Notwendigkeit, zusätzlich noch Einnahmen aus dem Braunkohlegeschäft erwirtschaften zu müssen, um das alles bewältigen zu können. Obwohl im Geschäftsbericht ausgewiesen, existieren diese Rückstellungen nicht in voller Höhe, kritisieren Umweltschützer. Der Energiekonzern EON versuchte mit der Gründung einer "Bad Bank" für Atomkraftwerke diese aus dem Konzern auszugliedern, um sich mit der Abspaltung geschickt aus der Verantwortung für die Folgekosten der Atomkraftnutzung zu stehlen, kritisiert Jochen Stay von .ausgestrahlt. Dieser Plan ist aber zunächst gescheitert.

Greenpeace fordert in einem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, um die bei RWE noch vorhandenen Rückstellungen schnellstmöglich in einen öffentlich-rechtlichen Fonds zu überführen und damit gegen eine mögliche Insolvenzsituation bei RWE abzusichern, so dass die Konzerne die Kosten ihrer atomaren Hinterlassenschaften nicht dem Steuerzahler aufbürden, fordert Greenpeace Geschäftsführerin Brigitte Behrens.

Mängelbehaftete Atomkraftwerke

Über Störfälle wurde in der DDR seinerzeit geschwiegen. Erst nach der Wende wurde bekannt, dass es in Greifswald mindestens zwei gab. Das Betreiben von Atomanlagen war von Anfang an durchgehend eine Abfolge von Störfällen, Geheimniskrämerei und ständigen Beteuerungen seitens der Betreiber und Regierungen über die angebliche Sicherheit der technisch so hochentwickelten Atomenergie. Es gab zwar offiziell keine größeren Störfälle in Deutschland. Tatsächlich aber ist die hohe Anzahl von insgesamt über 4.000 Störfällen in Deutschland, wie der SPIEGEL im März 2011 errechnete, ein Armutszeugnis. Ganz zu schweigen von den furchtbaren nuklearen Katastrophen in Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011). So hatten Ost und West unrühmliche Mega-Gaus. Kurz nach der Fukushima-Katastrophe beschloss Deutschland endlich den schon lange überfälligen Atomausstieg. Acht Reaktoren wurden sofort stillgelegt, neun andere gehen bis 2022 vom Netz.

Ex-Bundesumweltminister Peter Altmaier rügte 2012 gegenüber SPIEGEL ONLINE, dass fast alle der 145 Reaktoren in den EU-Ländern Sicherheitslücken haben. Die EU-Kommission bemängelte beispielsweise, dass in Tschechien, Bulgarien, Rumänien, Slowakei, aber auch in Schweden, Spanien und Großbritannien bei allen geprüften AKW Schutzvorrichtungen gegen Gasexplosionen nach schweren Unfällen fehlen. Jedoch wurden in einzelnen AKW noch weitere Mängel festgestellt, so das Fehlen von Erdbebenmessgeräten sowie Abluftsystemen in der Sicherheitsumschließung, um bei einem Unfall den Druck im Reaktorbehälter gefahrlos ablassen zu können. Außerdem lagere die Ausrüstung zur Bekämpfung schwerer Unfälle oft nicht an einem Ort, der rasch zugänglich ist. Die Negativliste lässt sich fortsetzen.

Die Wahrnehmung in Sachen Atomkraft war in Ost und West recht unterschiedlich. "Es gab in der DDR keine kritischen Diskussionen zum Thema Atomkraft", so Kerntechniker Jörg Möller. "Die Proteste in Westdeutschland wurden hier zwar wahrgenommen, aber in der DDR gab es eine positive Einstellung zur Atomkraft." Während von AKW-Gegnern vor westdeutschen Atomanlagen regelmäßig vielfältige, fantasievolle Proteste stattfanden, die teilweise auch militante Formen annahmen, blieb es in der DDR ruhig. Allein in Brokdorf in Schleswig Holstein protestierten Anfang 1981 etwa Hunderttausend Menschen trotz Verbot.

Die Sache mit der Haftpflicht

Zudem rückte auch immer wieder die Frage nach einer ausreichenden Versicherung der Atomanlagen auf die Tagesordnung. Denn die Betreiber sind im Schadensfall auch haftpflichtig. Unklar ist weiterhin die Höhe der Deckungssumme im Schadensfall. Nikolaus Bomhard, Chef der Munich Re, des größten Rückversicherers der Welt, vermochte in einem Interview mit der Tageszeitung DIE WELT 2011 nicht eindeutig zu sagen, wie hoch die Prämien für Atomkraftwerke ohne staatliche Garantien, inklusive aller Folgeschäden, tatsächlich sein müssten: "Das können wir mit unseren herkömmlichen Modellen nicht berechnen. Die Frage ist, wer am Ende die Deckung zu zahlen bereit wäre - der Verbraucher, der Steuerzahler?", rätselt Bomhard.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger forderte 2013 eine europaweit einheitliche Versicherungssumme, die "so hoch wie möglich ausfallen werde und sicher bei einer Milliarde Euro oder höher" liegen würde. Er ging davon aus, dass die Versicherungspflicht für Atomkraftwerke automatisch zu höheren Kosten für die Verbraucher führe, die die Betreiber auf die Strompreise umlegen würden.

Prof. Dr. Peter Hennick, ehemaliger Präsident des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH, hat in seinem im Juni 2012 erschienenen Buch, "Energiewende nach Fukushima", eine Berechnung der Kosten eines Atomunfalls erstellt: Demnach würden die realen Kosten eines Nuklearunfalls in Deutschland bei rund 5.000 Milliarden Euro liegen. Das sei etwa das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung. Grund dafür sei die dichte Besiedelung in Deutschland. Die Kosten des Atomunglücks im japanischen Fukushima 2011 beliefen sich ein Jahr nach der Katastrophe bereits auf 187 Milliarden Euro.

Ungeklärte Endlagerung

Ein weiteres Problem ist, dass es bislang keinen geeigneten Standort für die Endlagerung des Atommülls gibt. In einem Positionspapier vom 6. September fordern 76 Umweltverbände, Initiativen und Anti-Atom-Gruppen unter anderem zum Thema Rückbau: "Atomtransporte sind zu vermeiden. Die Dekontaminierung, Bearbeitung und Konditionierung der Materialien einer Atomanlage müssen am Standort erfolgen. Jeglicher Atommüll, also sowohl der hoch-, mittel- und schwachradioaktive, als auch alle anders klassifizierten radioaktiven Materialien, muss am Standort zwischengelagert werden, bis es Lagerstätten in Deutschland für die langfristige Verwahrung gibt." Gorleben und Schacht Konrad scheiden als Lagerstätten aus, da sie weder geeignet noch akzeptiert sind.

Wie undurchsichtig die Stilllegungsaktivitäten der Atomindustrie oft sind, zeigt beispielsweise das Verhalten von Vattenfall im Zusammenhang mit dem im Frühjahr eingereichten Antrag auf Stilllegung des AKW Krümmel. Dazu erklärt Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt: "Vattenfall hat sich mehr als vier Jahre geweigert, den Stilllegungs-Antrag zu stellen und so zu einer massiven Verzögerung beigetragen. Jetzt ist der Antrag zwar endlich auf dem Tisch. Doch da der Konzern an den Betriebsgenehmigungen weiter festhält, bleiben Zweifel an der Ernsthaftigkeit." Deshalb wird von Vattenfall nun auch die Rücknahme der Klagen gegen den Atomausstieg gefordert. "Wer von Stilllegung spricht, aber gleichzeitig weiter vor Gerichten und Schiedsgerichten gegen die Abschaltung des AKW klagt, macht sich unglaubwürdig."

Der nukleare Wahnsinn soll aber nach Plänen der Atomindustrie, mit Hilfe von Steuergeldern, weitergehen. Im englischen Hinkley Point ist der Bau eines neuen AKW geplant. Dort gab es schon Massenproteste dagegen. Denn nach neuesten Informationen soll der Bau mit über 100 Milliarden Euro Steuergelder subventioniert werden, vermeldet die Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt. Etwa 30 deutsche und internationale Umweltschutzorganisationen reichten bereits eine Beschwerde dagegen ein. Die österreichische Regierung reagierte sogar mit einer Klage gegen diese EU-Subventionen. Die ungarische Regierung plant, das bestehende AKW in Paks, unweit von Budapest, um zwei Blöcke zu erweitern.

Fazit: Es muss sichergestellt werden, dass der Atomausstieg unumkehrbar ist. Dringende Aufgabe der internationalen Anti-Atombewegung ist es daher, länderübergreifend dafür zu kämpfen, dass die Energiegewinnung durch Atomkraft bald Geschichte ist. Die Zukunft gehört den erneuerbaren Energien - ohne Wenn und Aber!

Weitere Informationen:
www.greenpeace. de
www.ausgestrahlt. de

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Quelle:
DER RABE RALF
26. Jahrgang, Nr. 188, Seite 16 - 17
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 8, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47/-0, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
Internet: www.raberalf.grueneliga-berlin.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2015

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