Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → INDUSTRIE

ATOM/1056: Moormann-Studie 2008 - Störfälle und Radioaktivitätsabgaben bei HTR-Linie (BI Hamm)


Bürgerinitiative Umweltschutz Hamm e. V. - 9. Juli 2010

Moormann-Studie aus dem Jahre 2008
Inhärente Störfälle und Radioaktivitätsabgaben bei HTR-Linie!

Von Horst Blume - August 2008


Eine neue Untersuchung (1) des Wissenschaftlers Rainer Moormann über den Betrieb des 1988 stillgelegten Thorium Hochtemperaturreaktors (THTR) AVR in Jülich stellt nicht nur die gesamte bisherige offizielle Sicherheitsarchitektur dieser Reaktorlinie in Frage, sondern erschüttert die Aussagen der internationalen Atomgemeinde über die Vorzüge der neuen Generation IV-Reaktoren in ihren Grundfesten. Bemerkenswerterweise kommt diese Kritik von einem Wissenschaftler, der bereits seit vielen Jahren regelmässig im Rahmen des Forschungszentrums Jülich an der HTR-Linie forscht und hierzu publiziert (2). In bisher nie gekannter Offenheit werden in dieser "sicherheitstechnischen Neubewertung" erstmals erhebliche Probleme bei dem Betrieb und dem gegenwärtigen Rückbau des Allgemeinen Versuchsreaktors (AVR) in Jülich offengelegt und erhebliche radioaktive Kontaminationen thematisiert. Hier die Ergebnisse im Einzelnen:

1. Viele Sicherheitsprobleme im AVR wurden bisher verschwiegen.
"Diese Arbeit befasst sich vorwiegend mit einigen unzureichend veröffentlichten aber sicherheitstechnisch relevanten Problemen des AVR-Betriebes."

2. Der Rückbau bringt es an den Tag: Es fanden innerhalb der Anlage bedeutend höhere Kontaminationen als vorausberechnet statt. Radioaktiver Graphitstaub ist "mobil".
"Der AVR-Kühlkreislauf ist massiv mit metallischen Spaltprodukten (Sr-90, Cs-137) kontaminiert, was zu erheblichen Problemen beim gegenwärtigen Rückbau führt. Das Ausmaß der Kontamination ist zwar nicht exakt bekannt, aber die Auswertung von Spaltproduktablagerungsexperimenten lässt darauf schließen, dass diese Kontamination zum Betriebsende einige Prozent eines Coreinventars erreichte und damit um Größenordnungen über Vorausrechnungen und auch ganz erheblich über den Kontaminationen in großen LWR liegt. Ein bedeutender Anteil dieser Kontamination ist an Graphitstaub gebunden und damit in Druckentlastungsstörfällen teilweise mobil, was in Sicherheitsbewertungen zukünftiger Reaktoren zu berücksichtigen ist."

3. Unzulässig hohe Coretemperaturen sind die Ursache für hohe Freisetzungen.
"Dabei ergab sich, dass die Kontamination des AVR-Kühlkreislaufs nicht wie früher angenommen in erster Linie durch unzureichende Brennelementqualitäten verursacht wurde sondern durch unzulässig hohe Coretemperaturen, welche die Freisetzungen erheblich beschleunigten. Die unzulässig hohen Coretemperaturen wurden erst 1 Jahr vor dem endgültigen AVRBetriebsende entdeckt, da ein Kugelhaufencore bisher nicht instrumentierbar ist. Die maximalen Coretemperaturen im AVR sind zwar weiterhin unbekannt, aber sie lagen mehr als 200 K über berechneten Werten. (...) Gegenwärtig sind zuverlässige Vorausrechnungen von Coretemperaturen im Kugelhaufen nicht möglich."

4. Der Dampferzeuger wurde während des Betriebes geschädigt.
"Außerdem wurden azimuthale Temperaturdifferenzen am Corerand von bis zu 200 K gemessen, welche vermutlich auf eine Leistungsschieflage zurückzuführen sind. Heißgassträhnen mit Temperaturen über 1100°C, welche den Dampferzeuger geschädigt haben könnten, wurden gelegentlich oberhalb des Cores gemessen."

5. Der AVR-Betrieb war unsicher und unzuverlässig. Folglich sind diese negativen Sicherheitseigenschaften auch bei zukünftigen Generation IV-Reaktoren zu erwarten.
"Einen sicheren und zuverlässigen AVR-Betrieb bei Prozesswärme-tauglichen Gasaustrittstemperaturen, wie er als Basis der Kugelhaufen-VHTR-Entwicklung im Generation IV Projekt unterstellt wird, hat es daher nicht gegeben."

6. HTR-Kugelbrennelemente können den Austritt von Radioaktivität nicht verhindern. Ein Mythos wird als Lüge entlarvt.
"Die AVR-Kontaminationsprobleme hängen auch damit zusammen, dass intakte HTR-Brennelemente nicht als fast vollständige Barriere für metallische Spaltprodukte angesehen werden können, wie sie es für Edelgase sind. Metalle diffundieren im Brennstofffkern, in den Beschichtungen und im Graphit. Ein Durchbruch durch diese Barrieren findet im Langzeit-Normalbetrieb statt, wenn bestimmte, Spaltprodukt-spezifische Temperaturgrenzen überschritten werden. Hier liegt eine ungelöste Schwachstelle von HTR vor, die es bei anderen Reaktoren nicht gibt."

7. Es findet eine unkontrollierte (!) Verteilung radioaktiver Nuklide über den gesamten Kühlkreislauf statt.
"Eine andere HTR-Schwachstelle, welche zu den AVR-Kontaminationen beigetragen hat, liegt darin begründet, dass sich die aus den Brennelementen freigesetzten Nuklide im HTR unkontrolliert über den gesamten Kühlkreislauf verteilen. Wegen der hohen Ablagerungsraten von chemisch reaktiven Spaltprodukten in HTR-Kühlkreisläufen kann nämlich die aus den Brennelementen freigesetzte Aktivität nicht über eine Reinigungsanlage entfernt werden, wie es im LWR Standard ist."

Kommentar: Jetzt wissen wir also, warum die Betreiber des THTR Hamm sich nach seiner Stilllegung so heftig gegen unsere Forderung nach einem Nuklidkataster gewehrt haben. Ein zusätzliches Desaster wäre offensichtlich und publik geworden!

8. Wassereinbrüche fanden statt. Diese müssen durch zusätzliche Vorrichtungen in Zukunft ausgeschlossen werden.
"Bei Wassereinbrüchen muss zudem das Eindringen von flüssigem Wasser in den Kugelhaufen, wie es bei einem AVR-Störfall vorkam, konstruktiv ausgeschlossen werden um einen möglichen positiven Void-Koeffizienten der Reaktivität mit Reaktivitätsexkursion zu verhindern."

9. Ein gasdichtes Containment (Sicherheitsbehälter) fehlt ganz, ist aber unbedingt notwendig.
"Kriterien für eine maximal tolerable akkumulierte Aktivität im HTR-Kühlkreislauf wurden auf der Basis deutscher Verordnungen für Auslegungsstörfälle sowie aufgrund von Anforderungen aus Wartung und Rückbau entwickelt. Die Anwendung dieser Kriterien auf Kugelhaufenreaktoren führt zum Schluss, dass ein gasdichtes Containment auch dann erforderlich ist, wenn keine überhöhten Coretemperaturen unterstellt werden."

10. Der Autor diskutiert in seiner Studie, ob im Interesse der
Sicherheit in Zukunft grundsätzlich von Heißgastemperaturen abgesehen werden sollte. Mit anderen Worten: Der in der Generation IV besonders favorisierte Very-High-Temperature Reactor (VHTR) bereitet besonders viele Probleme, die erst noch gelöst werden müssen. Ein "sehr umfangreiches F + E-Programm" wäre hierzu unverzichtbar, bevor weitere Schritte eingeleitet würden.

11. Die Weiterentwicklung des Kugelhaufenreaktors wird sehr teuer und deswegen sollten ökonomische Risiken zuvor exakt abgeschätzt werden. Lohnt sich der riesige Aufwand überhaupt?
"Ein umfangreich instrumentierter experimenteller Kugelhaufenreaktor wäre zur Lösung dieser Probleme unverzichtbar. Bevor ein F+E-Programm dieser Größe begonnen wird sollte eine Machbarkeitsstudie einschließlich Aufwandsabschätzung durchgeführt werden, um das ökonomische Risiko dieser Entwicklung zu quantifizieren."

12. Alle bisherigen HTR-Sicherheitsstudien waren unzureichend und in ihren Schlussfolgerungen viel zu optimistisch.
"In Hinblick auf auslegungsüberschreitende Störfälle sind Sicherheitsprobleme bei Lufteinbruch/Corebrand noch nicht hinreichend gelöst. Eine vergleichende Sicherheitsstudie von Kugelhaufen-HTR, Block-HTR und Generation-III LWR wäre hilfreich, um eine zuverlässigere Aussage zur Sicherheit gegenwärtiger Kugelhaufen-HTR- Konzepte zu bekommen: Frühere Sicherheitsstudien für Kugelhaufenreaktoren müssen aus heutiger Sicht als zu optimistisch angesehen werden."

Nach der Veröffentlichung dieser kritischen Studie im Rahmen des Forschungszentrums Jülich kann es nur eine Forderung geben: Keinen Euro mehr für die HTR- und Generation IV-Forschung; kein Bau des PBMR in Südafrika, der genau die angesprochenen Probleme haben würde!


Anmerkungen:

1. Rainer Moormann: "Eine sicherheitstechnische Neubewertung des Betriebs des AVR-Kugelhaufenreaktors und Schlussfolgerungen für zukünftige Reaktoren". Berichte des Forschungszentrums Jülich, 4275. ISSN 0944-2952.
Die Studie als PDF-Datei vom Server der Zentralbibiliothek des Forschungszentrum Jülich: http://hdl.handle.net/2128/3136

2. Bisherige Publikationen von Rainer Moormann zur HTR-Problematik:
1999: Moormann, Hinssen, Latge: "Oxidation of carbon based materials for innovative energy systems (HTR, fusion reactor): status and further needs". Aufsatz in einem Buch. 11 Seiten.
1999: Moormann, Schenk, Verfordern: "Source term estimation for small sized HTRs; a German approach Proceedings of the 1st Meeting Survey on Basic Studies in the Field of High Temperature Engineering (including Safety Studies)". Aufsatz in einem Buch. 9 Seiten.
2004: Kühn, Hinssen, Moormann: "Differences between the oxidation behaviour af A3 fuel element matrix graphites in air and in steam and its relevance on accident progress in HTRs". Proceedings of the ICAPP 04, Pittsburg, USA
2004: Moormann, Hinssen, Kühn: "Oxidation behaiviour of an HTR fuel element matrix graphite in oxygen compared to a standard nuclear graphite". In: Nuclear Engineering and Design, 277 (2004), S. 281-284


*


Quelle:
BI Umweltschutz Hamm e. V., August 2008
http://www.reaktorpleite.de/index.php/htr-studie-2008-r-moormann.html
Postfach 1242, 59002 Hamm
E-Mail: h.blume@thtr-a.de (Horst Blume)
Internet: www.thtr-a.de, www.reaktorpleite.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010