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ÖKOSYSTEME/009: "Neobioten" - wie der Klimawandel Flora und Fauna verändert (Uni Bielefeld)


BI.research 37.2010
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"Neobioten" - wie der Klimawandel Flora und Fauna verändert

Von Sabine Schulze


Zwei bis gar elf Tage früher als noch vor 40 Jahren kehren unsere Zugvögel im Frühjahr wieder heim. Und die, die eher zurückkommen in unsere Gefilde, beginnen auch eher zu brüten. Andere Vögel - vor allem Kurzstreckenzieher - bleiben im Herbst länger im Norden Europas, bevor sie zum Überwintern gen Süden aufbrechen. Und Sommergoldhähnchen, Star und Kiebitz haben das Reisen fast ganz aufgegeben. Folgen des Klimawandels, sind sich die Biologen sicher. Eine andere Folge: Lebewesen, die früher nicht bei uns heimisch waren, erweitern ihr Verbreitungsgebiet. Dazu gehört, sagt Dr. Tom Steinlein, Biologe an der Universität Bielefeld, auch der Tiger-Moskito. Der kleine Sauger ist Überträger von Dengue-Fieber und Chikungunya-Fieber und eigentlich in tropischen Gebieten zuhause. Man kannte die Art aber auch schon aus Italien, Frankreich und der Schweiz. Die ersten Eier des Moskitos sind jetzt bereits am Rhein gefunden worden. Ein Grund zur Panik, beruhigt Steinlein, besteht aber nicht: Mit einer Malaria-Welle ist nicht zu rechnen.

Der Wissenschaftler ist Spezialist für Neobioten, für pflanzliche und tierische Lebewesen, die sich auch außerhalb ihres angestammten Lebensraumes breit machen. Nicht immer ist eine Änderung des Klimas die Ursache: Vielfach ist es auch der Mensch, der diese Neobioten weiterträgt: So ist die Wollhandkrabbe, die auch die deutschen Flüsse hinaufzieht, im Ballastwasser von Schiffen gen Europa transportiert worden und hat sich prompt mit hiesigen Lebensverhältnissen anfreunden können. Den Fischern war sie lange ein Dorn im Auge, weil sie ihre Netze zerstört hat. Das hat sich geändert: "Heute wird die Krabbe gefangen und an Feinschmeckerlokale in Berlin geliefert. Auch der Mensch passt sich eben an", lächelt Tom Steinlein. Vielfach, erklärt er, sei schwer zu trennen, ob Effekte durch den Menschen verursacht wurden oder auf aktives Wandern zurückzuführen seien. Zuweilen ist es auch eine Mischung aus beidem - wie beim Riesenbärenklau, der einst als Prachtstaude für die Gärten des Adels vom Kaukasus nach Europa importiert wurde und bald zudem als Bienenweide bei den Imkern beliebt war. "Richtig ausgebreitet hat sich der Riesenbärenklau aber erst seit den 50er Jahren entlang von Bächen", sagt Steinlein. Das Problem mit der Pflanze: Sie ist "phototoxisch", und die Berührung damit erzeugt auf der menschlichen Haut regelrechte Verbrennungen.


Allergener Alien

Auch ein anderer Neuling in Europa wurde zunächst eingeschleppt: Das Traubenkraut, dessen wohlklingender lateinischer Name Ambrosia lautet, kam aus Amerika zu uns und wurde mit Vogelfutter importiert. Zunächst hat es sich nur in der Schweiz breitgemacht. "Dann wanderte es über den Rheingraben und hat mittlerweile Bayern durchseucht", sagt Steinlein. Er ist sich der Wertung, die in diesem Verb liegt, bewusst. Aber Ambrosia erweist sich eben auch als problematisch: "Es ist der erste Alien, mit dem sich die Krankenkassen befasst haben." Die Ursache liegt in dem extrem hohen Allergiepotential des Traubenkrautes, gegen das kein anderes Kraut gewachsen zu sein scheint. "Ambrosia ist zehnmal so allergen wie unsere Gräser und blüht bedeutend länger." Steinlein vermutet, dass sich das Traubenkraut allmählich weiter nach Norden ausbreitet, weil sich das Klima wandelt. "Einige Populationen gibt es bereits." Für "die Natur" stellt das Kraut dabei keine Gefahr dar: "Es besetzt offene ökologische Nischen."

Aber auch deren Existenz kann durchaus eine Folge des Klimawandels sein: "Streng genommen wissen wir ja noch nicht, ob es einmal wärmer oder kälter wird. Sollte der Golfstrom abreißen, werden die Temperaturen sinken. Die Szenarien sind da sehr unterschiedlich. Sicher ist aber, dass erst einmal die Extremereignisse zunehmen - zur Freude der Aliens." Denn die gehen auf gestörte Flächen - wie sie zum Beispiel der Orkan Kyrill, eines dieser Extremereignisse, geschlagen hat. "Wenn ein Wald weg ist, kommt zum Beispiel das indische Springkraut und besiedelt die Fläche. In einem intakten Ökosystem würde es hingegen kaum Fuß fassen können." Lokal wächst dann nichts anderes mehr - mit Folgen für Vögel und Insekten. Auch das, betont Steinlein, ist kein Grund für ein Horrorszenario. Aber Störungen dieser Art führen eben zur Ausbreitung neuer Arten. "Deswegen werden wir in 15 Jahren noch lange nicht unsere Cocktails unter Palmen schlürfen: Die Hängematte muss weiterhin zwischen Fichten aufgehängt werden." Denn Klimawandel bedeute nicht, dass die Aliens übernehmen. Es gilt schlicht: "Wenn etwas verschwindet oder verdrängt wird, kommt anderes nach." Das Ganze ist ein Prozess der Evolution, durch den sich die Artzusammensetzung ändert - seit Zigtausend Jahren. Davon wird auch der Mensch betroffen sein: "Es wird Ernteverluste geben", prognostiziert Steinlein. Und zwar egal, in welche Richtung und Temperatur sich das Klima ändert. Schon in diesem Jahr war nach dem langen Winter zu beobachten, dass die ersten Bäume blühten, als noch keine Insekten unterwegs waren: "Bei stärkerem Klimawandel wird es dauern, bis die Synchronisation zwischen Insekten und zu bestäubenden Pflanzen wieder passt."


Komplexe Beziehungsgeflechte

Was genau sich ändern wird, mag der Biologe nicht vorhersagen: "Viele Organismen interagieren. Die eine Insektengruppe reagiert, die nächste vielleicht nicht." Selbst als der Klimawandel noch kein Thema und der Blick eher auf den Kohlendioxid-Ausstoß gerichtet war, haben die Biologen schon eine leichte Verschiebung im Artenspektrum, in der Biodiversität, beobachtet. "Vielleicht verschiebt das auch die Konkurrenz, vielleicht gibt es auch einen lachenden Dritten", sagt Steinlein.

Und nicht nur die Temperatur, die ein oder zwei Grad mehr, sind entscheidend: Auch die Existenz von Jahreszeiten oder die Feuchtigkeit spielen eine Rolle für das Verschwinden von Arten und die Zuwanderung von Fremdlingen. Dabei werden zuweilen womöglich Klimaeffekte zugeschrieben, wo simpel eine veränderte Bewirtschaftung durch den Menschen das Entscheidende war, wie britische Forscher nachwiesen: Sie gingen dem Verschwinden eines Schmetterlings, des schwarzgefleckten Bläulings nach. Und stellten fest, dass seine Tage vor allem dort gezählt waren, wo immer seltener Vieh auf die Weiden kam und das Gras wuchs. War das anfangs noch von den Wildkaninchen rasiert worden, unterblieb dies, nachdem die Nager von einer Kaninchenpest hart getroffen wurden. Als nun das Gras länger und der Boden dadurch stärker beschattet wurde, sank dessen Temperatur. Das wiederum machte einer wärmeliebenden Ameisenart, die unfreiwillig und nichtsahnend die Bläulingsraupen nährte, das Leben schwer: Sie wurde verdrängt durch eine robustere Ameisenart. Die aber fiel nicht auf die chemischen Lockstoffe der Bläulingslarven herein - und verspeiste sie. Also: kleine Ursache (langes Gras), große Wirkung (Schmetterlings-Aussterben). Im Ökosystem, verdeutlicht Steinlein, hängt eben Vieles von ganz Vielem ab.


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Quelle:
BI.research 37.2010, Seite 34-37
Herausgeber:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
Leitung: Ingo Lohuis (V.i.S.d.P.)
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2011