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RECHT/194: BGH schafft Klarheit - Nur begrenzte Verkehrssicherungspflicht im Wald (NABU SH)


NABU Landesverband Schleswig-Holstein - 10. Dezember 2012

Bundesgerichtshof schafft endlich Klarheit

Verkehrssicherungspflicht im Wald stark eingeschränkt
Vorteile auch für den Naturschutz



Neumünster, 10. Dezember 2012: Ein derartiger Unfall ist wohl der Albtraum eines jeden Waldbesitzers oder Försters: An einem Sommertag bricht aus einer erheblich vorgeschädigten, neben einem breiten Waldweg stehender Eiche ein starker Ast und verletzt eine Spaziergängerin schwer. Dies geschah 2006 in einem als Erholungsgebiet bekannten Wald im Saarland. Nach überwiegender bisheriger Rechtsprechung haftete der Waldbesitzer für solche Schadensfälle. Ihm obliegt die Verkehrssicherungspflicht, nach der erkennbare Gefahrenpotenziale auch an Wanderwegen rechtzeitig zu beseitigen sind. Können Geschädigte deren Vernachlässigung nachweisen, hatten sie gute Chancen auf Schadensersatz, wobei im Falle von schweren Verletzungen ihre finanziellen Ansprüche bis in die Hunderttausende Euro gehen konnte. Die Verkehrssicherungspflicht leitet sich aus § 823 und § 836 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ab, nach dem man auch bei fahrlässigem Umgang mit seinem Eigentum - hier der Baumbestand des Waldes - zu Schadensersatz verpflichtet war. Bei Personenschäden drohten zudem strafrechtliche Konsequenzen.

Gefahrpunktbeseitigung geriet zur absurden Risikovermeidung

Um den Vorwurf der Fahrlässigkeit auszuschließen, musste der Waldbesitzer den wegebegleitenden Baumbestand regelmäßig auf seine Sicherheit kontrollieren und die ihm als Fachmann ersichtlichen Gefahrenpunkte wie kränkelnde, nicht mehr standfeste oder gar tote Bäume beseitigen. Gerichtsurteile und beratende Juristen haben die Verkehrsicherungsmaßnahmen in der Praxis dabei zu Absurditäten der Risikovermeidung getrieben. Nicht selten wurden Altbäume mit Totholz in der Krone vorsorglich gefällt, weil beim Herabfallen eines Astes vielleicht ein Spaziergänger verletzt werden könnte. Die Verkehrssicherungspflicht erstreckte sich selbst auf 35 m vom Weg entfernt stehende Bäume, wenn z.B. eine Buche dieser Höhe beim Umkippen mit ihren äußersten Ästen noch den Weg treffen kann. Bisweilen ist sogar die doppelte Baumlänge als Maß der Vorsorgepflicht empfohlen worden. Denn ein großer Baum könnte ja im Fallen ein vor ihm stehendes Exemplar mitreißen und auf den Weg drücken. Nicht nur für die Forstleute, auch für den Naturschutz hat sich die im deutschen Rechtswesen extrem zelebrierte Verkehrssicherungspflicht als gewaltiges Problem erwiesen. Denn sie gibt Totholz, Höhlenbäumen, Altholz mit Bruchstellen oder gar Pilzbesatz - alles ökologisch äußerst wertvolle Strukturelemente eines naturnahen Waldes - in der Umgebung von Waldwegen keine Chance. Dabei spielt das im Vergleich mit anderen Gefahrenquellen wie z.B. Straßenverkehr äußerst geringe Risiko, im Wald von einem herabfallenden Ast oder umstürzenden Baum getroffen zu werden, keine Rolle. Ebenso wenig ausschlaggebend ist bislang gewesen, dass in den Waldgesetzen des Bundes und der Länder das Betreten des Waldes inzwischen als "auf eigene Gefahr" deklariert wurde. Der aus dem BGB resultierende Grundsatz der Gefahrenvermeidung ging nach Ansicht vieler Juristen vor.

Bundesgerichtshof kippt Entscheidungen zu Gunsten der natürlichen Entwicklung

Doch die letztinstanzliche Verhandlung des saarländischen Falles vor dem Bundesgerichtshof (BGH) brachte die Wende. Der BGH stellte in seinem Urteil (2. Oktober 2012, VI ZR 311/11) unter explizitem Bezug auf den waldgesetzlichen Vorbehalt des Betretens auf eigene Gefahr unmissverständlich fest: "Eine Haftung des Waldbesitzers wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht besteht grundsätzlich nicht für waldtypische Gefahren." Und weiter heißt es in der Urteilsbegründung: "Risiken, die ein freies Bewegen in der Natur mit sich bringt, gehören grundsätzlich zum entschädigungslos hinzunehmenden Lebensrisiko. ... Dass der Waldbesucher die waldtypischen Gefahren selbst tragen muss, ist gleichsam der Preis für die eingeräumte Betretungsbefugnis." Herab brechende Äste und andere durch Bäume verursachte Risiken gehören nach Auffassung des BGH zweifelsohne zu diesen "waldtypischen Gefahren", wobei es unerheblich ist, ob sie durch Kontrollen zu vermeiden sein könnten. Zur weiteren Klarstellung grenzt der BGH davon die für einen Wald "atypischen" Gefahren ab, für die weiterhin Haftung besteht. Er nennt hier als Beispiele "(nicht waldtypische) Hindernisse, die einen Weg versperren, oder nicht gesicherte Holzstapel", also vom Waldbesitzer bzw. dessen Beauftragten unmittelbar selbst verursachten Gefahrenquellen.

Der BGH hat überdies unter Bezug auf § 60 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatSchG) auch für das Betreten der freien Landschaft (d.h. auch außerhalb des Waldes) eine Haftung "für typische, sich aus der Natur ergebende Gefahren" ausgeschlossen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, weil dies im BNatSchG wortgleich formuliert worden ist. Im juristischen Alltag schien jedoch auch diese Bestimmung noch nicht überall angekommen zu sein. So hat der BGH auch hier Klarheit geschaffen. Ob im Wald oder in der Feldmark - der Haftungsausschluss für wald- oder naturtypische Gefahren gilt nicht an öffentlichen Straßen. Dort ist nach wie vor für Sicherheit durch vorbeugende Gefahrenvermeidung zu sorgen, wie der BGH ausdrücklich anmerkt.

Konsequente Umsetzung: Schutz für Fledermäuse und Co.

Dieses Urteil, das vom NABU begrüßt wird, ist in seiner Tragweite nicht zu unterschätzen. Es kann helfen, Tausende an Altbäumen und damit unersetzliche Habitatstrukturen für höhlenbrütende Vögel, Fledermäuse, zahllose Insektenarten, Pilze und Flechten zu erhalten. Es muss allerdings konsequent in die forstlichen Praxis einfließen. So dürfen nach Meinung des NABU die Forstverwaltungen keinesfalls veranlasst werden, die bisherigen Verkehrsicherungsmaßnahmen zwar nicht aus haftungsrechtlichen Gründen, aber aus überzogener Besorgnis um das Wohl der Bürger weiterhin aufrecht zu halten.

NABU-Aktion "Stunde der Wintervögel" - www.gartenvoegel-sh.de

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Quelle:
Presseinformation, 10.12.2012
Herausgeber: Naturschutzbund Deutschland e.V.
NABU Schleswig-Holstein
Färberstr. 51, 24534 Neumünster
Tel.: 04321/53734, Fax: 04321/59 81
E-mail: info@NABU-SH.de
Internet: www.NABU-SH.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2012