Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → FAKTEN

KATASTROPHEN/075: Skandalöse Höchstwerte radioaktiver Belastung von Nahrungsmitteln in der EU (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 642-643 / 2013 / 27. Jahrgang, 3. Oktober 2013

Nahrungsmittelsicherheit
Skandalöse Höchstwerte radioaktiver Belastung von Nahrungsmitteln in der EU

von Thomas Dersee



Im Katastrophenfall müssen die EU-Bürger sich erneut selber helfen

Die EU-Kommission hat jetzt erneut einen auf den 6. August 2013 datierten Vorschlag zur Neufassung der Verordnung des Rates der Europäischen Union "zur Festlegung von Höchstwerten an Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation" vorgelegt (COM(2013)576final). Vor drei Jahren war bereits schon einmal ein solcher Vorschlag gemacht worden (KOM(2010)0184), über den das Europäische Parlament am 15. Februar 2011 beraten und abgestimmt hatte. Entsprechend dem EURATOM-Vertrag ist das Europäische Parlament jedoch lediglich beratend an der Festsetzung der Höchstwerte beteiligt. Das hatte das Parlament kritisiert und gefordert, in das Verfahren voll einbezogen zu werden und die Rechtsgrundlage entsprechend zu ändern. Jetzt soll der Vorschlagsentwurf nur noch dem Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zur Stellungnahme vorgelegt werden, bevor er vom Rat der EU beschlossen werden soll.

Bei dem damals und jetzt vorgelegten Vorschlag der EU-Kommission an den Rat der Europäischen Union handelt es sich hauptsächlich um eine Zusammenfassung unveränderter Bestimmungen aus drei Verordnungen, die zwischen 1987 und 1990 erlassen worden waren und in denen entsprechende Höchstwerte festgelegt sind. Eine Sachverständigengruppe gemäß Artikel 31 des Euratom-Vertrages habe am 21. November 2012 ihre Schlußfolgerungen aus dem Jahr 1998 bestätigt, daß die in der Verordnung Nr. 3954 aus dem Jahr 1987 für künftige Unfälle festgelegten Höchstwerte an Radioaktivität "noch immer gelten" würden, heißt es in der Begründung der Vorlage.

Neu ist, daß die Höchstwerte nicht mehr automatisch nach einem Unfall in Kraft treten, sondern "wenn die Umstände es erfordern" von der EU-Kommission per Durchführungsverordnung in Kraft gesetzt werden sollen. Sie gelten dann unmittelbar in allen Mitgliedstaaten.

Die Grenzwerte für Radioaktivität in Nahrungsmitteln im aktuellen Verordnungsvorschlag erlauben allerdings unverändert eine unzumutbar hohe radioaktive Belastung der EU-Bürger, die zum Teil die nach der Tschernobyl-Katastrophe übersteigt. Demnach sollen weiterhin nach einem neuen Atomunfall die in der Tabelle aufgelisteten Höchstwerte erlaubt sein, von denen die EU-Kommission 2010 behauptet hatte, sie "berücksichtigen in gebührender Weise die neuesten, zur Zeit auf internationaler Ebene verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse" und trügen gleichzeitig "der Tatsache Rechnung, dass die Öffentlichkeit beruhigt werden und eine Auseinanderentwicklung der Vorschriften auf internationaler Ebene vermieden werden muss". Um welche und wessen wissenschaftliche Erkenntnisse es sich handelt, wird allerdings nicht erwähnt.

Neu ist auch eine lange Liste mit Nahrungsmitteln von angeblich "geringer Bedeutung". Für sie sollten in dem ersten Entwurf von 2010 zunächst gar keine Höchstwerte gelten. Jetzt allerdings wurden für sie extreme Aktivitätskonzentrationen, nämlich das 10-fache der Höchstwerte für "andere Nahrungsmittel" festgelegt (siehe Tabelle 1, rechte Spalte).

Tabelle 1 und 2 HÖCHSTWERTE RADIOAKTIVER KONTAMINATION VON NAHRUNGSMITTELN bzw. FUTTERMITTELN



In dieser Kategorie von Nahrungsmitteln angeblich "geringer Bedeutung", die diese Extremaktivitäten nach Meinung der EU-Behörden aufweisen dürfen, sind aufgezählt:

Knoblauch, Trüffeln, Kapern, Wurzeln oder Knollen von Maniok, Maranta und Salep, Topinambur, Süßkartoffeln, Sago, Schalen von Zitrusfrüchten oder von Melonen, Mate, Pfeffer, Vanille, Zimt, Gewürznelken, Muskat, Amomen, Kardamom, Anis, Fenchel, Koriander, Kreuzkümmel, Wacholderbeeren, Ingwer, Safran, Kurkuma, Thymian, Lorbeerblätter, Curry und andere Gewürze, Hopfen, Pektinate und Pektate, Agar-Agar und andere Verdickungsstoffe von Pflanzen, Kaviar und Kaviarersatz, Kakao, Hefen und zubereitete Backtriebmittel, mit Zucker haltbar gemachte Früchte und Nüsse, Fette und Öle von Fischen oder Meeressäugetieren, natürliche und synthetisch hergestellte Provitamine und Vitamine sowie ätherische Öle. Außerdem auch Pflanzen, Pflanzenteile, Samen und Früchte zur Herstellung von Riechmitteln oder zu medizinischen Zwecken, Insektenvertilgung und Schädlingsbekämpfung sowie Schellack.


Zum Vergleich:
Seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 gilt in den Ländern der Europäischen Union ein Grenzwert für die Cäsium-Gesamtaktivität (Cs-134 plus Cs-137) von 370 Becquerel pro Kilogramm (Bq/kg) für Milch, Milchprodukte und Säuglingsnahrung und von 600 Bq/kg für andere Nahrungsmittel. Unabhängige Experten rieten auf der Grundlage der Bestimmungen der damals geltenden Strahlenschutzverordnung zu Nahrung mit höchstens 30 bis 50 Bq/kg Cäsium-Gesamtaktivität für Erwachsene und mit höchstens 10 bis 20 Becquerel pro Kilogramm für Kinder, stillende und schwangere Frauen. Dabei wurde in Deutschland von einem Anteil von 1 Prozent Strontium-90 bezogen auf den Aktivitätsgehalt an Cäsium-137 in Nahrungsmitteln ausgegangen. Der tatsächliche Strontium-Gehalt in der Nahrung lag jedoch höher, wie Untersuchungsergebnisse zeigten. Deshalb und wegen Unsicherheiten bei den Bewertungsgrundlagen wurde schließlich meist nur noch bis zu 5 Becquerel Cäsium-Gesamtaktivität pro Kilogramm als Höchstwert für Kindernahrung empfohlen.

In Japan sind derzeit bis zu 50 Becquerel Radiocäsium pro Kilogramm für Kindernahrung und 100 Becquerel Radiocäsium pro Kilogramm für andere Nahrungsmittel zulässig.

Mit der Festlegung von Nahrungsmittel-Grenz- oder Höchstwerte fordern die Regierungen der Staaten Europas von ihrer Bevölkerung Menschenopfer. Die in Tabelle 1 aufgelisteten EU-Grenzwerte ohne die Extremwerte der Nahrungsmittel von angeblich geringer Bedeutung lassen Belastungen von Kindern mit circa 100 Millisievert jährlich zu. Damit akzeptiert man, daß etwa 550 bis 5.500 von 100.000 Kindern dadurch später zusätzlich jährlich an Krebs sterben werden. Für Erwachsene, die bei solcher Ernährung mit etwa 44 Millisievert jährlich belastet werden, wären es noch 242 bis 2.420 von 100.000, die dadurch später zusätzlich jährlich an Krebs sterben.[1]

Dabei ist zu beachten, dass mit dem geltenden Dosiskonzept (effektive Dosis) lediglich die Krebstodesfälle berücksichtigt werden, nicht jedoch die Zahl der Erkrankungen, die höher ist. Außer zu Krebserkrankungen kam es nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zusätzlich zu einem starken Anstieg somatischer Erkrankungen wie der Schwächung des Immunsystems, vorzeitiger Alterung, Herz-Kreislauferkrankungen schon in jungen Jahren, chronischer Erkrankungen des Magens, der Schilddrüse und der Bauchspeicheldrüse (Diabetes mellitus), zu neurologisch-psychiatrischen und genetischen beziehungsweise teratogenen Schäden infolge der Wirkung geringer Strahlendosen. Diese werden meist ignoriert.


Fazit:
Wer nach einer weiteren Atomkatastrophe, womöglich in Europa, zum Beispiel in Frankreich, von Regierungen und Behörden Hilfe bei der Minimierung der Strahlenbelastung durch radioaktiv verunreinigte Nahrungsmittel erwartet, wird enttäuscht werden. Die EU hat erneut Höchstwerte in Vorbereitung, die jeder gesundheitlichen Vorsorge Hohn sprechen. Sie ist eben in erster Linie ein wirtschaftlicher Zusammenschluß und betreibt keine soziale und gesundheitliche Fürsorge; im Gegenteil. Deshalb werden wir im Katastrophenfall erneut wie schon nach Tschernobyl und wie heute auch die Menschen in Japan, zur Selbsthilfe gezwungen sein und erneut ein eigenes Netz von Meßstellen in Bürgerhand betreiben müssen.

Es stellt sich zudem die Frage, welche Zustände zu derart hohen Belastungen in Nahrungsmitteln führen und welche Bedingungen man erwartet, unter denen es notwendig sein sollte, ausgerechnet "Nahrungsmittel von geringer Bedeutung" mit derart extremen radioaktiven Belastungen in den Handel zu bringen.


[1] zur Berechnung vergleiche: Th. Dersee, S. Pflugbeil: Kalkulierter Strahlentod, Gutachten für foodwatch und IPPNW, August 2011,
www.strahlentelex.de/kalkulierter-strahlentod.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_13_642-643_S01-03.pdf

*

Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Oktober 2013, Seite 1-3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2013