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GEFAHR/007: Brandsatz Fukushima - Täuschung, erste Bürgerpflicht ... (SB)


Strahlenquelle Fukushima noch lange nicht versiegt

Während Japans Regierung der Presse einen Maulkorb anlegt, darf Akw-Betreiber Tepco Strahlengefahren vor der Öffentlichkeit geheimhalten

Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2015 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Fast vier Jahre nach dem multiplen GAU im japanischen Nuklearkomplex Fukushima Daiichi ist es im Blätterwald still geworden um die größte Katastrophe der zivilen Nuklearenergienutzung. So still, daß es das Thema nicht einmal in die "Top Ten der Vernachlässigten Nachrichten des Jahres 2015" geschafft hat, die am 26. Februar im Deutschlandfunk in Köln vorgestellt wurden. [1]

Man könnte meinen, daß die japanische Regierung anstelle der Havarie nur die Medien unter ihre Kontrolle gebracht hat. Beispielsweise durch ein neues Gesetz, das am 10. Dezember 2014 verabschiedet wurde und im In- und Ausland wegen der vagen Bestimmungen zum Verrat von Staatsgeheimnissen kritisiert wird. Was genau ein "Staatsgeheimnis" ist, das nicht verraten werden darf, ist in dem Gesetz nicht scharf formuliert, sorgt also für große Unsicherheit, da selbstverständlich niemand aus Unkenntnis der rechtlichen Lage für bis zu zehn Jahre eingesperrt werden möchte.

Der allgemeinen Lesart zufolge zählt auf jeden Fall zum Geheimnisverrat, wenn ein Insider (Whistleblower) aufdecken würde, daß die Folgen der Nuklearkatastrophe vom 11. März 2011 im Akw Fukushima Daiichi schwerwiegender sind als bekanntgegeben. Inzwischen hat die Organisation "Reporter ohne Grenze" Japan auf Platz 61 (von 180) der Länderrangliste zur Pressefreiheit gesetzt und diese Herabstufung so begründet:

"Seit der Nuklear-Katastrophe in Fukushima 2011 ist Japan auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen weit nach hinten gerückt. Vor allem freie Journalisten wurden in den vergangenen Jahren bei ihrer Arbeit behindert, wenn sie etwa zu dem havarierten Atomkraftwerk, der Betreibergesellschaft Tepco oder den Verbindungen von Atomlobby und japanischer Regierung recherchieren wollten. Ein 2013 beschlossenes Whistleblower-Gesetz bestraft die Verbreitung von geheimen Informationen mit bis zu zehn Jahren Haft. Die meisten Medien in Japan üben Selbstzensur, Kritik an der Regierung und am Kaiserhaus findet so gut wie nie statt." [2]

Das neue Gesetz soll atomkraftkritische Stimmen zum Schweigen bringen, weil die Regierung wieder voll in die Produktion der Atomenergie einsteigen will. Das riesige Protestpotential mit über 100.000 Demonstrierenden, die noch ein Jahr nach der dreifachen Kernschmelze im Akw Fukushima Daiichi lautstark ein Ende der Atomkraft forderten, scheint sich bereits im Folgejahr entladen zu haben. Inzwischen sind die Anti-Akw-Proteste von Überschaubarkeit gekennzeichnet. Oder aber das Protestpotential besteht weiter, dringt jedoch wegen der staatlichen Repressionen und des sozialen Drucks nicht an die Oberfläche. Das vermutet der in den USA lebende japanische Publizist Sabu Kohso. [3]

Kohso geht davon aus, daß die Regierung des nationalistischen Premierministers Shinzo Abe (LDP - Liberaldemokratische Partei) nach militärischer Macht strebt - eine Annahme, die sich inzwischen auf ganzer Linie bestätigt hat [4] - und daß er auch mit einer atomaren Bewaffnung liebäugelt. Um so wichtiger ist es offenbar für die japanische Regierung, den Eindruck zu erwecken, daß von Fukushima Daiichi keinerlei Gefahr mehr ausgeht. Mit dieser Behauptung hat Abe auch den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 2020 erkauft.

Normalerweise wird eine Gefahr nur dann als gebannt bezeichnet, wenn man sie vollständig erkannt hat. Davon kann hier keine Rede sein. Wegen der hohen Strahlenbelastung kommt bisher niemand ins Innere der Reaktoren 1 - 3, wo das Corium (Kernschmelze aus den Brennstäben, den Moderatoren und dem Material der Umgebung) weiterhin mit bis zu 400 Tonnen Wasser täglich gekühlt werden muß. Wo genau sich das Corium befindet, weiß man nicht, die Vermutungen gehen dahin, daß es sich durch den Reaktorbehälter durchgeschmolzen hat. Im April dieses Jahres soll ein Schlangenroboter in den am stärksten verstrahlten Bereich des Reaktors 1 vordringen, Messungen ausführen und Bilder aufnehmen. Vier Jahre nach der Havarie erhofft sich Tepco davon erstmals genauere Erkenntnisse über den Zustand eines von drei Reaktoren. [5]

Nach wie vor werden die Kernschmelzbereiche der havarierten Meiler von Grundwasser umspült, das unterirdisch weiterfließt und durch den Meeresboden in den Ozean quillt. Auf dem Betriebsgelände stehen rund 1000 Tanks, die schätzungsweise 320.000 Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser enthalten. Das soll nun nach und nach dekontaminiert werden. Die früheren dahingehenden Versuche waren allerdings immer wieder gescheitert. [6]

Die neue Dekontaminationsanlage muß erst noch unter Beweis stellen, daß sie dauerhaft zuverlässig arbeitet. Doch ganz abgesehen davon wird sowieso nur ein kleiner Teil des verstrahlten Wassers abgefangen. Außerdem kommt es wiederholt zu "Ereignissen". Beispielsweise hat Tepco vor wenigen Tagen bekanntgegeben, daß es auf einem Dachbereich des Reaktors 2 ein hochgradig kontaminiertes Becken entdeckt hat. [7] Immer wenn es regnete, floß anscheinend hochverstrahltes Wasser über einen Abflußkanal direkt ins Meer. Registriert wurde eine Verstrahlung von bis zu 23.000 Becquerel pro Liter Cäsium-137.

Tepco hat angekündigt, es werde Schutzmaßnahmen gegen eine weitere Kontamination ergreifen. So hat man Sandsäcke mit Zeolith gefüllt und vor den beiden Dachabflüssen und innerhalb der Abflußrinnen plaziert, damit sie die Radionuklide aufsaugen. Was nicht dazu gesagt wird: Anschließend sind die Sandsäcke verstrahlt und kommen zu den riesigen Mengen an Strahlenmüll, der sich bereits angesammelt hat und eigentlich sicher verbracht gehört, hinzu - und Japan hat kein radioaktives Endlager.

Örtliche Fischer kritisieren, daß Tepco von jener Strahlenquelle auf dem Dach schon seit Mai vergangenen Jahres gewußt, aber dies damals nicht bekanntgegeben und nichts unternommen habe, um die weitere radioaktive Belastung des Meeres zu verhindern. Die Fischer sind auch deshalb wütend, weil sie erst nach langem Ringen zugestimmt hatten, daß Tepco dekontaminiertes Wasser ins Meer leiten darf. Da wäre es nicht verwunderlich, wenn die Fischer jetzt das Gefühl haben, daß sie von Tepco nicht ernst genommen werden.

Inzwischen sind die Verantwortlichen sehr geübt darin, sich für Dinge, sobald diese nicht mehr geheimgehalten werden können, zu entschuldigen ... und so weiterzumachen wie bisher. Tepco-Vertreter Tsunemasa Niitsuma sagte vergangene Woche Mittwoch bei einem Treffen der örtlichen Fischervereinigung, daß er sich bei den Betroffenen in der Fischindustrie für den Ärger und die Sorgen, die das Unternehmen bereitet habe, "zutiefst entschuldigen" möchte. [8]

Nimmt man nur allein das hochgradig verstrahlte Dach des Reaktors 2, so läßt sich daran ablesen, daß selbst in diesem kleinen Bereich, der nur einen Bruchteil der gesamten Strahlenbelastung ausmacht, noch gar nichts unter Kontrolle ist. Weiterhin fließt hochgradig verstrahltes Regenwasser direkt ins Meer. Gemessen wurde aber nicht nur auf dem Dach selbst, sondern in einer Abflußrinne in einiger Entfernung. Dort hatte man im April 2014 Werte zwischen "zehn und mehreren hundert Becquerel pro Liter Cäsium-137" festgestellt.

Das heißt, nicht nur das Dach, sondern das gesamte Abflußsystem ist - mindestens stellenweise und zeitweilig - hochgradig kontaminiert. Wenn kein Regenwasser abfließt, bleibt ein Teil der radioaktiven Partikel zurück und ist damit dem Wind ausgesetzt. Auch das verdunstende Regenwasser enthält radioaktive Partikel, die mit dem Wind davongeweht werden können.

Naturgemäß kann man keine Aussagen darüber machen, welche radioaktiven Einleitungen Tepco derzeit noch alles verschweigt. Unsicherheit herrscht auch über die Zuverlässigkeit der radioaktiven Messungen und die Höhe der ermittelten Werte, haben doch das Unternehmen und die Regierung zahlreiche Beispiele dafür geliefert, daß ihr Interesse von Anfang an darauf ausgerichtet war, das Ausmaß der Strahlenbelastung zu verschleiern. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als an den öffentlichen Meßstationen zu hohe Werte registriert wurde, hat man den Produzenten der Meßgeräte gewechselt und sich für ein Modell entschieden, bei dem die Bleiakkus um den Sensor herum gruppiert waren ... Blei wird in der Atomtechnologie zur Abschirmung benutzt. Siehe da, schon war die Strahlung nicht mehr so hoch wie vorher.

Wenn japanische Politiker heute vor die Presse treten und behaupten, man habe die Havarie im wesentlichen im Griff, dann verharmlosen sie damit, daß das Problem der radioaktiven Kontamination lediglich verschoben wurde. Japan habe seit ihren früheren Besuchen im Jahr 2013 "signifikante Fortschritte" erzielt, erklärte der Leiter einer fünfzehnköpfigen Delegation der Internationalen Atomenergieagentur IAEA, Juan Carlos Lentijo, nach dem Besuch der Anlage am 17. Februar dieses Jahres. [9]

Was Lentijo nicht dazu sagt: "Dekontamination" bedeutet nicht, daß die radioaktiven Substanzen aus der Welt sind, sondern es bedeutet nur, daß sie jetzt woanders sind. Zu diesem Zweck wendet Tepco zwei Methoden an, die der Aufkonzentration und die der Verdünnung.

Überall da, wo sich Filter im Einsatz befinden, werden Strahlenpartikel aufkonzentriert. Die Zeolith-Sandsäcke zum Abfangen der Radionuklide vom Dach des Reaktors 2 und die Filter in der Dekontaminationsanlage sind hochgradig radioaktiv verseucht und müssen extrem vorsichtig gehandhabt werden. Auch durch die erfolgreiche Beseitigung der Brennstäbe aus einem Abklingbecken im havarierten Meiler 4 wurde zwar die akute Gefahr der unkontrollierten Strahlenfreisetzung behoben, aber nun befinden sich die Brennstäbe in einem anderen Abklingbecken, das vermeintlich sicher ist.

Doch zeigt nicht die Geschichte der zivilen Atomenergienutzung, daß "sicher" ein dehnbarer Begriff ist, der im Zusammenhang mit radioaktiver Strahlung offensichtlich ein Verfallsdatum besitzt? So galt auch das Salzbergwerk Asse lange Zeit als sicher - und jetzt muß man die dort eingelagerten, weit über 100.000 Fässer mit Atommüll wieder herausholen. Auch die Fässer mit radioaktivem Inhalt im Keller des Akw Brunsbüttel müssen wieder hervorgeholt und "entsorgt" (also wiederum verlagert) werden, da sie durchrosten.

Auch durch die Methode der Verdünnung radioaktiver Flüssigkeiten im Meer wird die Strahlung nicht beseitigt. Der Pazifische Ozean ist nur dermaßen riesig, daß es sehr, sehr vieler "Fukushima-Havarien" bedürfte, bis die allgemeine Strahlenbelastung oberhalb der von der Weltgesundheitsorganisation zulässigen Grenzwerte läge. Das bedeutet aber nicht, daß alle Kontaminationen unterhalb der Grenzwerte automatisch harmlos bleiben müssen. Denn es kann über verschiedene Wirkmechanismen, zum Beispiel in der marinen Nahrungskette, unter bestimmten Strömungsbedingungen und durch wiederholte Verdunstungsvorgänge in den Tidenbereichen zu Aufkonzentrationen kommen. Zweitens besitzt bereits der Zerfall auch nur eines einzigen Radionuklids im Körper eines Menschen das Potential, Krebs auszulösen.

Die Strahlenpartikel werden nicht nur im Meer verteilt und verdünnt. Deutliches Anzeichen dafür sind die schwarzen Müllsäcke mit radioaktivem Abfall, die sich an Land anhäufen - in der Präfektur Fukushima allein an rund 54.000 Standorten. [10]

Der wesentliche Erfolg Tepcos bei der Dekontamination des Akw Fukushima Daiichi besteht somit darin, daß es den gefährlichen Strahlenstoff im Meer und auf dem Land großräumig verteilt. Während Politiker und Lobbyorganisationen längst wieder das hohe Lied von der vermeintlichen Unverzichtbarkeit der Atomenergie anstimmen, spricht die ganz und gar unkontrollierte dreifache Kernschmelze von Fukushima Daiichi der häufig kolportierten Behauptung Hohn, die Kernenergie sei sicher und ein GAU ereigne sich nur einmal in einer Million Jahren.


Fußnoten:

[1] http://www.derblindefleck.de/

[2] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/japan/

[3] In einem Interview, das der Schattenblick in drei Teilen veröffentlicht hat, äußert sich Sabu Kohso unter anderem ausführlich über das unterschwellige Protestpotential der japanischen Bevölkerung und die Atompolitik Japans. Sie finden den ersten Teil des Gesprächs unter:
Infopool → UMWELT → REPORT
INTERVIEW/065: Fukushima - Schock und Gegenwehr, Sabu Kohso im Gespräch, Teil 1 (SB)

[4] http://www.tagesschau.de/ausland/japan-verfassung-100.html

[5] http://www.japanmarkt.de/2015/02/09/fe/technik/fukushima-schlangen-roboter-soll-corium-finden/

[6] Näheres dazu im Infopool → UMWELT → BRENNPUNKT
GEFAHR/005: Brandsatz Fukushima - Dekontaminisierungsdesaster (SB)
GEFAHR/006: Brandsatz Fukushima - verdrängt, verteilt, verstrahlt ... (SB)

[7] http://www.tepco.co.jp/en/press/corp-com/release/2015/1248334_6844.html

[8] http://www.nbcnews.com/news/world/radioactive-fukushima-water-leak-was-unreported-months-official-n312396

[9] http://dw.de/p/1EdMj

[10] http://www.neues-deutschland.de/artikel/963101.das-mega-muellproblem.html

1. März 2015


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