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VERWERTUNG/157: Altreifen - ein Rohstoflager (research*eu)


research*eu Nr. 58 Dezember 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

RECYCELN
Altreifen: ein Rohstoflager

Von Sandrine Dewez


Mit dem Anstieg der Rohstoffpreise hat auch der Kurs für natürlichen oder synthetischen Rohgummi abgehoben. Allerdings könnten ausrangierte Reifen rund 45% des europäischen Bedarfs an Rohgummi decken, so eine Schätzung des Projekts Criosinter. Unter dieser Bezeichnung eröffnen sich neue Perspektiven für die Herstellung von Produkten aus wiederverwerteten Altreifen. Ein Überblick.

Wenn Abfall wertvoll wird

Der europäische Altreifenberg, der bereits hoch und nur schwer abzutragen ist, wächst jedes Jahr um knapp dreieinhalb Millionen Tonnen an. Ein Drittel davon wurde im vergangenen Jahr recycelt, vor allem als Füllmaterial etwa für den Straßenbau und für die Sanierung von Steinbrüchen. Zerkleinert und von textilen und metallischen Bestandteilen befreit, werden Altreifen auch für synthetische Rasenflächen von Fußball- und Rugbyfeldern verwendet. In zerriebener Form werden sie zu Matten für Spielplätze oder zu Einkaufswagenreifen weiterverarbeitet.

Aber noch viel zu häufig landen die Altreifen auf der Mülldeponie, und zwar entgegen der europäischen Richtlinie 99/31/EG, die diese Praxis seit 2006 verbietet. "Wir können den Recyclinganteil erhöhen", versichert Valérie Shulman, Generalsekretärin und Gründerin der europäischen Vereinigung für das Recyceln von Altreifen (European Tyre Recycling Association - Etra (1)). "Angesichts des technischen Profils der Nachfrage können Altreifen Rohgummi in vielen Produkten ersetzen", meint sie weiter. Natürlich steht nicht zur Debatte, die unvergleichlichen Eigenschaften des Naturlatex - vor allem seine Widerstandsfähigkeit - in einem so wichtigen Produkt wie dem Autoreifen zu ersetzen. Aber wenn er sich auf einem Teil des Gummimarktes durchsetzt - Schuhsohlen, Stadtmobiliar, Automobilzulieferindustrie - erhält der ausrangierte Reifen wieder einen Wert.


Ein kaum beachtetes Material

Eigentlich lässt sich Gummi nicht recyceln. In einem Autoreifen ist er mit oft mehr als 200 Zusätzen vermischt, anschließend wird er vulkanisiert, ein nicht umkehrbarer Prozess, der seine molekulare Struktur verändert und ihm die vom Hersteller erwünschten Eigenschaften verleiht. Doch auch das durch Zermahlen der Altreifen gewonnene Material behält ein großes Spektrum an verwertbaren Eigenschaften bei: Elastizität, Stoßdämpfung und Schalldämpfung, um nur einige zu nennen. Um den eher zögerlichen Markt nun von der Verwendung dieses kaum beachteten Materials zu überzeugen, hat sich das Projekt Criosinter die Aufgabe gestellt, Prototypen für drei repräsentative Produkte des Sektors aus 100% recycelten Altreifen herzustellen: die Schuhsohle, angesichts der an den Rohgummiersatz gestellten Ansprüche eine Stilübung, um die man nicht herumkommt, die Untergrundplatte für den Straßenbelag, die ohne Bindemittel hergestellt wird, sowie die Lastwagenstoßstange, ein sehr großes Werkstück.

Drei Projektpartner werden die Prototypen in ihren Werkstätten entwickeln. Das mit einem Zuschuss von einer halben Million Euro aus dem 6. Rahmenprogramm geförderte Projekt Criosinter endete Anfang 2008. "Zunächst erschien es uns unmöglich, diese Prototypen herzustellen", erinnert sich Tomás Zagora, Biomechaniker und technischer Koordinator des Projekts vom Institut für Biomechanik in Valencia (ES). "Die Eigenschaften der Werkstoffe aus recycelten Altreifen hängen von zahlreichen Faktoren ab, die wir nicht kontrollieren können." Die Größe der Reifen und ihre Herkunft bestimmen die physikalisch-chemischen Eigenschaften des Endprodukts. Auch die Zerkleinerungsmethode - traditionell oder innovativ, mechanisch bei Umgebungstemperatur oder kryogenisch bei Glasübergangstemperatur - beeinflusst das Ergebnis. Und schließlich ist auch die Teilchengröße ein bestimmender Faktor: Je nachdem, ob der Reifen zu Puder mit Teilchen in der Größe von einem hundertstel Mikrometer oder in Stücke von einem Zentimeter oder mehr zerkleinert wird, ändert sich das Recyclingverhalten. Welcher dieser Werkstoffe sollte eingesetzt werden, um die Erwartungen des jeweiligen Herstellers zu erfüllen? Für die Antwort ist eine detaillierte Analyse notwendig.


Die Schuhsohle auf dem Weg

In diesem Stadium wandern Pulver, Puder und Granulate in die Expertenlabors. Drei Hersteller, die über repräsentative Industrieverfahren verfügen, sind Projektpartner. "Partikelmorphologie, Granulometrie, Oberflächenzustand, thermomechanische Analysen und viele andere Versuche haben es uns ermöglicht, diese Werkstoffe vollständig zu charakterisieren", erklärt Tomás Zagora. Die Produkte jedes Herstellers werden zu einem Prototyp führen. Für einen Hersteller sieht die Fortsetzung dann wie folgt aus: "Mit zu 100% recyceltem Gummi und den notwendigen Zusätzen haben wir die Schuhsohlen eines kommerziellen sportlichen und jugendlichen Schuhmodells geformt", erläutert Jose Ramón Sempere, technischer Leiter der spanischen Firma Analco Auxiliar Calzado S.A. "Wir haben das normale Formungsverfahren mittels Druck- und Temperaturanwendung unter Berücksichtigung der Materialeigenschaften eingesetzt. Für eine Massenproduktion müssten wir das Herstellungsverfahren an die im Rahmen des Projekts erlangten Daten noch anpassen", sagt er abschließend.

Dies ist das Ergebnis der Optimierung, die von den Partnern für das gesamte Herstellungsverfahren, einschließlich der Formungsparameter, durchgeführt wurde. Schließlich wird ein Expertensystem zu Beginn des Verfahrens drei mechanische Eigenschaften auswählen, die an der Grenze der Herstellerspezifikationen des Produkts liegen und nach jeweiliger Bedeutung gewichtet sind. Als Ergebnis liefert das Expertensystem eine optimierte Materialwahl, die Zusammensetzung der einzuspritzenden Mischung, die Temperatur und die Dauer des Formungsverfahrens des Werkstücks. "Soweit wir wissen, wurde bisher kein Prototyp mithilfe dieses Verfahrens aus 100% recyceltem Gummi aus Altreifen hergestellt, auch wenn es bereits verschiedene Vorstudien in dieser Richtung gegeben hat", betont Tomás Zagora. Unter den drei hergestellten Prototypen ist nur die Schuhsohle nicht völlig zufriedenstellend. "Wir könnten einen Schuhtyp mit einfachem Design ohne allzu hohe Ansprüche an seine Robustheit auf den Markt bringen", schätzt Jose Ramón Sempere und er fügt hinzu: "Im Hinblick auf die Nutzungsbedingungen sind wir noch nicht bei einem 100% zuverlässigen Produkt angelangt. Und das Problem des Geruchs dieses Gummis ist noch zu lösen."


Bald in den Regalen zu haben?

Wird der zur Schuhsohle verarbeitete Altreifen bald zum Trendartikel? Dass er alle Qualitätserwartungen erfüllt und an einem schönen Schuhmodell angebracht wird, wird nicht ausreichen. Denn Recyclingprodukte haben nicht immer ein gutes Image. Wie sind nun die Hürden zu überwinden, die seine Markteinführung eventuell behindern? Um diese Frage zu beantworten, haben Marketingspezialisten Affective-Engineering-Techniken eingesetzt, die das Ansehen von Recyclingprodukten verbessern sollen. Die im Rahmen des Projekts durchgeführte Studie zeigt, dass, "bei richtiger Information des Konsumenten dessen Kaufabsicht um fast 50% steigt. Mit den Worten "umweltfreundlich", "Qualitätsprodukt", "innovativ", "sorgfältige Verarbeitung" und "wertvoll" lässt sich eine Verbesserung des Ansehens erzielen."

Von diesen Ergebnissen motiviert haben sich die Forscher auch ein Etikett ausgedacht, das die mit dem Kauf eines Produkts aus recycelten Altreifen zusammenhängenden Umweltvorteile zusammenfasst. "Rohgummi mit diesem Material zu ersetzen, ermöglicht die Reduzierung der Treibhausgase, die mit der Erschließung neuer natürlicher Ressourcen zusammenhängen, um rund 72% und damit eine Energieeinsparung von rund 88%." Wird der asphaltmüde Autoreifen jetzt auf dem Gehweg zu sehen sein? Wir werden es sehen...

(1) Etra - European Tyre Recycling Association, www.etra-eu.org


Criosinter
12 Partner - 6 Länder
(ES-FR-IT-NL-PT-UK)
www.criosinter-project.net


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Reifenhersteller ziehen Verbrennung vor

Unter den Partnern von Criosinter trifft man auf sechs kleine und mittlere Unternehmen, aber auf keinen einzigen Reifenhersteller. Wie kommen letztere ihrer Verantwortung im Sinn der Abfallrahmenrichtlinie und im Hinblick auf die Verwertung ihrer Produkte am Ende des Produktkreislaufs nach? "Die Reifenhersteller reden groß über ihr Engagement für die Wiederverwendung ausgedienter Reifen, aber in Wirklichkeit ziehen sie die Verbrennung vor. Diese Wahl kostet sie nichts im Hinblick auf Forschung und Entwicklung und es besteht auch kein Risiko, dass sich ein Konkurrenzsektor bildet", bestätigt Valérie Shulman, Mitbegründerin von Etra (1). "Denn der Gummi aus dem Recyclingsektor tritt ja direkt mit dem Gummi in Konkurrenz, den sie selber vermarkten", erläutert sie weiter. "Die Entscheidung für die energetische Verwertung durch Verbrennung ist auch keine schlechte Kalkulation. Aber wenn die Reifenhersteller Verträge in diese Richtung unterzeichnen, die manchmal eine Laufzeit von 25 Jahren haben, untergraben sie die Zukunft einer nachhaltigen Gesellschaft, die auf der Etablierung eines neuen Wirtschaftssektors gründet, der mit dem Recycling verbunden ist."

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Tomás Zamora präsentiert einen Schuhprototyp mit Sohlen aus recyceltem Gummi.© IBV Valencia


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Quelle:
research*eu Nr. 58 Dezember 2008, ISSN 1830-7388
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2009