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ATOM/1281: Transmutation, ein Weg aus der Atommüllfalle? (Strahlentelex)


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Nr. 744-745 / 32. Jahrgang, 4. Januar 2018 - ISSN 0931-4288

Atommüll
Transmutation, ein Weg aus der Atommüllfalle?

Von Dr. Rainer Moormann, Aachen(1)


Unter Transmutation versteht man Nuklidumwandlungen mit Hilfe von freien Neutronen. Der Begriff wurde aus der Sprache der Alchemisten entlehnt, die mit chemischen Methoden Gold aus Quecksilber machen wollten. Transmutation von langlebigem kerntechnischen Abfall in kurzlebige oder sogar stabile Nuklide soll das offensichtlich gravierende Entsorgungsproblem der Nukleartechnik entschärfen. Wie die Chancen dazu stehen, soll hier auf wissenschaftlicher Basis untersucht werden.

Historie

Die Idee zur Transmutation nuklearer Abfälle entstammt den 1950er Jahren. Die ersten detaillierten Veröffentlichungen gab es in den 1960er Jahren und die erste internationale Konferenz zur Transmutation fand 1977 am Gardasee statt, ein Zeichen dafür, dass sich schon viele Kerntechniker mit Transmutation befassten. Einen schweren Rückschlag gab es 1999: Der US-Kongress lehnte die Finanzierung eines Transmutationsgrossprojektes ab; mit einer Zeitdauer von 100 Jahren, Kosten von 300 Milliarden US-Dollar und aufgrund der Tatsache, dass es nur eine Müllreduktion gäbe, aber ein Endlager weiterhin erforderlich wäre, sei Transmutation nicht effizient genug. In der EU sowie in Russland wurde zwar weiter an Transmutation gearbeitet, aber auch dort befindet sich die Transmutationsentwicklung tendenziell im Niedergang: Die Finanzierung der kleinen Transmutationstestanlage Myrrha im Belgischen Mol gelingt seit 10 Jahren nicht, obwohl die belgische Regierung 40 Prozent der Kosten von gut 1 Milliarde Euro übernimmt. Daraus darf man folgern, dass dieses Projekt weithin nicht als erfolgversprechend eingeschätzt wird.

Der Umfang der EU-Förderung zur Transmutation wurde verringert. Aktuell verweisen Transmutationsbefürworter auf in Betrieb gehende russische schnelle Reaktoren (BN-800); konkret verbrennt dieser Reaktortyp überschüssiges Waffenplutonium (überwiegend Pu-239), also einen herkömmlichen Kernbrennstoff, und keinen Atommüll. Ob vage und riskante Pläne umgesetzt werden, später mit diesen Reaktoren auch die Reduktion der Atommüllmenge zu demonstrieren, bleibt abzuwarten.

Fachlicher Hintergrund

Bei langlebigen Nukliden im Müll sind die folgenden beiden Gruppen zu unterscheiden:

A) Langlebige Spaltprodukte (Se-79, Zr-93, Tc-99, Pd-107, Sn-126, I-129, Cs-135) zusammen mit langlebigen Produkten aus Aktivierungsreaktionen an Elementen niedriger Masse (C-14, Cl-36 ...). Die Halbwertszeiten reichen von 5730 Jahre (C-14) bis 15,7 Millionen Jahre (I-129). Es handelt sich um Beta- und Gamma-Strahler. Einige Nuklide dieser Gruppe sind bei Wassereinbruch in ein geologisches Endlager hochmobil, das heißt sie könnten in die Biosphäre gelangen. [1] In 1 Tonne abgebranntem Druckwasserreaktor(DWR)-Brennstoff sind etwa 2 Kilogramm an langlebigen Spaltprodukten vorhanden. Ein klassischer Leichtwasserreaktor (LWR, 1,2 Gigawatt elektrischer Leistung) erzeugt etwa 32 Tonnen abgebrannten Kernbrennstoff pro Jahr. [2]

B) Langlebige Aktinoide, die durch Aktivierungsprozesse am Kernbrennstoff entstehen: Das sind die sogenannten Minoren Aktinoide (MA) Am-241, Am-243, Cm-245, Np-237 sowie das Reaktorplutonium Pu-239, Pu-240, Pu-242. Letzteres, das prinzipiell als MOX-Brennstoff in Standardreaktoren eingesetzt werden kann, wird erst seit gut 10 Jahren überwiegend als separat zu transmutierender Abfall angesehen. Für die im Abfall vorkommenden MA plus Plutoium wird häufig die Bezeichnung TRU (Transurane) verwendet. Diese Aktinoide sind Alpha-Strahler, also inkorporiert hoch toxisch. Aus Sicherheitssicht von Vorteil ist, dass diese Aktinoide im Endlager auch bei Wassereintritt kaum mobil sind, das heißt zerfallen wären, bevor sie die Biosphäre erreichten. [1] Die Halbwertszeiten liegen zwischen einigen hundert und 2 Millionen Jahren. Diese Aktinoide sind zwar prinzipiell spaltbar, aber (Ausnahme Pu-239) bei weitem nicht so leicht wie die klassischen Kernbrennstoffe und reichern sich deshalb in herkömmlichen Atomkraftwerken an. In 1 Tonne abgebranntem DWR-Brennstoff sind 1,4 Kilogramm MA und 2,7 Kilogramm Pu-240+Pu-242 sowie 7 Kilogramm des leicht spaltbaren Pu-239 enthalten. [2]

Freie Neutronen können auf drei unterschiedliche Weisen Kernumwandlungen im Atommüll hervorrufen:

1. Spaltung:
Während sich die klassische Kernspaltung in Atomkraftwerken auf sehr wenige Nuklide beschränkt (U-233, U-235, Pu-239, Pu-241), lassen sich, vor allem mit schnellen Neutronen, mit einigem Aufwand auch die anderen Aktinoide spalten. Die Nuklide der Gruppe A) sind demgegenüber nicht spaltbar.

2. Spallation:
Unter Spallation versteht man die Kernzertrümmerung durch sehr hochenergetische Protonen oder Neutronen, ein Prozess, der anders als die Spaltung keine Energie liefert, sondern viel Energie verbraucht. Auf Abfall der Gruppe A) ist Spallation nicht effizient anwendbar, wohl aber auf alle Nuklide mit hoher Massenzahl.

Es ist zu beachten, dass Spaltung und Spallation die Radioaktivität keinesfalls beseitigen. Wie am Beispiel der Uranspaltung (Halbwertszeit U-235: 700 Millionen Jahre) ersichtlich, wird - für einen kürzeren Zeitraum eine sehr große und daher gefährliche Aktivitätssteigerung verursacht. Spaltung und Spallation liefern nämlich ein breites Spektrum an radioaktiven (kurz- und langlebigen) und stabilen Produkten; demgegenüber verläuft der Einfang von Neutronen spezifischer:

3. Neutroneneinfang:
Unter Neutroneneinfang fasst man verschiedene Reaktionen zusammen, zum Beispiel die (n,p)-Reaktion, bei der ein Neutron aufgenommen, und ein Proton abgegeben wird (in der Atmosphäre wird so radioaktiver C-14 aus stabilem N-14 gebildet), oder den schlichten Einfang, bei dem das Neutron im Nuklid verbleibt und sich die Massenzahl um eine Einheit erhöht (Beispiel: Im Atomkraftwerk wird aus dem stabilen Spaltprodukt Cs-133 radioaktives Cs-134 gebildet). Manche langlebigen radioaktiven Nuklide lassen sich so in kurzlebige oder stabile überführen. Die Reaktionswahrscheinlichkeit ist für jedes Nuklid unterschiedlich, und einige Nuklide lassen sich so praktisch nicht umwandeln. Neutroneneinfang ist die einzige anerkannte Methode, mit der die Nuklide der Gruppe A) transmutiert werden können.

Probleme

Ein erstes Problem der Transmutation besteht darin, dass man sehr starke Neutronenquellen braucht, wenn man Spallation oder Neutroneneinfang anwenden will. Solche Neutronenquellen konnten bisher trotz großer Bemühungen nicht entwickelt werden. Das Fehlen effizienter Neutronenquellen hat seit dem Jahr 2000 daher dazu geführt, dass die Bemühungen um Transmutation sich auf die TRU-Spaltung konzentrieren; das wäre erheblich leichter realisierbar, weil bei deren Spaltung Neutronen erzeugt werden und wäre ggf. schon in schnellen Reaktoren(2) möglich. Allerdings könnte ein solcher Reaktor nur betrieben werden, wenn zugleich ausreichende Mengen an leicht spaltbaren klassischen Spaltstoffen im Kern vorhanden sind. Aus diesem Grund sehen heutige Konzepte häufig keine separate Behandlung von Reaktorplutonium (mit seinem hohen Anteil an leicht spaltbarem Pu-239) und MA mehr vor. Solche Systeme aus schwer spaltbaren Aktinoiden und klassischen Spaltstoffen stellen allerdings hinsichtlich Kritikalitätssicherheit besondere Herausforderungen dar. Nur wenn ausreichend Neutronen von außen zugeführt würden (s. unten), ließe sich allein aus TRU-Abfall ein brauchbarer Reaktorkern aufbauen. Eine Beseitigung der Nuklide der Gruppe A) wäre in schnellen Reaktoren mit ihren höheren Neutronenflüssen durch Neutroneneinfang nicht sinnvoll möglich, selbst wenn man die Neutronen thermalisiert (abbremst): Zur Mengenreduktion auf ein Zwanzigstel benötigen einige langlebige Spaltprodukte eine Bestrahlung in schnellen Reaktoren von weit mehr als einem Jahrhundert [3], was offensichtlich ineffizient wäre, da dabei ständig neuer Müll erzeugt würde.

Da Spallationsreaktionen an schweren Elementen hohe Neutronenflüsse liefern, wird seit circa 30 Jahren an Spallationsquellen zur Transmutation gearbeitet (Accelerator Driven Systems, ADS). In neueren Konzepten wird ein Protonenstrahl auf extrem hohe Energien beschleunigt (mehr als 1 Gigaelektronenvolt), und auf ein sogenanntes Target geschossen (Blei/Wismut, Wolfram, Quecksilber). Die dabei durch Primärspallation freigesetzten Neutronen sollen durch Sekundärspallation und Spaltung Aktinoide, die um das Target angeordnet werden, umwandeln. Man hofft, das energetisch ausgeglichen ablaufen lassen zu können, da die Aktinoidmenge im System zwar unterkritisch bleiben soll (keff circa 0,9 bis 0,95), zusammen mit den eingespeisten Spallationsneutronen aber eine konstant ablaufende Kettenreaktion hervorruft. Dann ergäbe sich ein sogenannter unterkritischer Reaktor (Rubbia-Reaktor), aus dem Wärme zur Stromerzeugung ausgekoppelt werden kann. Ob die Stromerzeugung ausreicht, um den hohen Verbrauch des Protonenbeschleunigers abzudecken, ist strittig. ADS-Anlagen sind deutlich unempfindlicher gegen Kritikalitätsstörfälle als schnelle Reaktoren mit TRU-Beladung. Für MA werden selbst in ADS nur Umsatzraten von 10 Prozent pro Jahr als aktuell erreichbar angesehen.

Würden die Spallationsneutronenflüsse in großen Spallationsquellen thermalisiert, ließen sich langlebige Spaltprodukte zwar schneller transmutieren als in Reaktoren; solche Umwandlungen wären aber aus energetischer Sicht sehr ineffizient. Hinreichend große Beschleuniger, wie sie für großtechnische Anlagen notwendig wären, sind ohnehin noch nicht verfügbar. Problematisch ist auch, dass die Spallationsreaktionen in einem nichtradioaktiven Target große Mengen radioaktiver Nuklide erzeugen - und zwar großenteils solche, die bei der klassischen Spaltung nicht entstehen, und über die daher zum Teil wenig bekannt ist.

Die schon erwähnte kleine ADS-Anlage Myrrha mit einem Blei/Wismut-Target etwa würde in erheblichem Umfang das Ultragift Polonium-210 generieren (welches 2006 beim Mord am russischen Dissidenten Litvinenko in London zum Einsatz kam; es ist circa 1 Million mal giftiger als Kaliumcyanid); es hat zwar nur eine Halbwertszeit von 128 Tagen, wäre aber bei Störfällen sehr problematisch. Sicherheit und Entsorgung solcher Targets bedeuten also eine ganz neue, weitgehend ungelöste Herausforderung. [4]

Ein weiteres Problem der Transmutation besteht darin, dass die Kernumwandlung keineswegs aufhört, wenn ein kurzlebiges oder stabiles Produkt erreicht ist. Als Beispiel sei nochmals auf die Umwandlung von stabilem Cs133 in radioaktives Cs-134 (2 Jahre Halbwertszeit) eingegangen: Bei längerer Bestrahlung wird dieses Cs-134 nämlich in langlebiges Cs-135 überführt (2 Millionen Jahre Halbwertszeit). Es kommt also darauf an, vor und während der Transmutation ständig die erwünschten stabilen oder kurzlebigen Produkte abzutrennen, um eine weitere Umwandlung in unerwünschte Produkte zu verhindern. Bei diesem Aufarbeitungsprozess (Partitioning genannt) handelt es sich um eine viel komplexere und vermutlich noch umweltschädigendere Maßnahme als bei der klassischen Wiederaufarbeitung. Dieses sicherheitstechnisch problematische Partitioning ist während der Transmutation circa 5 bis 10-mal zu wiederholen. Ein gewisser Vorteil des Partitioning läge darin, dass es das endzulagernde Volumen reduzieren könnte (das heißt das Endlager könnte kleiner werden). Das Partitioning ist allerdings bisher in vielen Bereichen über den Labormaßstab nicht hinausgekommen. Eine Kombination von Transmutation und Partitioning sollen in der Planung befindliche Flüssigsalzreaktoren mit Online-Wiederaufarbeitung bereitstellen können; wegen ihres hohen Proliferationsrisikos stehen sie in der Kritik.

Fazit

Mittelfristig technisch machbar erscheint nur eine Transmutation von TRU in schnellen Reaktoren. Zusammen mit dem notwendigen, aber noch nicht vollständig entwickelten Partitioning ließe sich so zwar eine signifikante Volumenreduktion der endzulagernden Abfälle erreichen, nicht aber eine deutliche Verminderung des Risikos des Endlagers: Letzteres wird ja von den leicht beweglichen Nukliden niedriger Masse bestimmt und nicht von den zwar hochtoxischen, aber immobilen TRU. Auch wegen der erheblichen Umweltauswirkungen und wegen des Sicherheitsrisikos von Partitioning & Transmutation erscheint es daher mehr als fraglich, dass damit eine Verbesserung bei der nuklearen Entsorgung erzielt werden kann. Es ist vielmehr zu befürchten, dass der Einstieg in diese Technologie die Sicherheits- und Entsorgungsprobleme der Nukleartechnik weiter verschärfen würde.


Anmerkungen

(1) r.moormann@gmx.de

(2) Klassische Reaktoren (LWR) sind thermische Reaktoren, da sie mit gebremsten, also langsamen (thermischen) Neutronen arbeiten. Schnelle Reaktoren spalten mit ungebremsten Neutronen.


Literatur

[1] B. Grambow: Mobile fission and activation products in nuclear waste disposal. Journal of Contaminant Hydrology 102 (2008) 180-6

[2] P. Phlippen: Transmutation radioaktiver Abfälle anstatt Langzeitendlagerung? In FZJ Monographie Bd. 8 (1993) "Fortschritte in der Energietechnik" S. 262 ff.
http://juser.fz-juelich.de/record/136274/files/Monographien_08.pdf

[3] S. Chiba et al.: Method to Reduce Long-lived Fission Products by Nuclear Transmutations with Fast Spectrum Reactors. Nature (2017)
https://www.nature.com/articles/s41598-017-14319-7.pdf

[4] R. Moormann, K. Bongardt, S. Chiriki: Safety aspects of high power targets for European spallation sources. Proc. International Conference on the Physics of Reactors, Interlaken 14.-19.9.2008.
http://cds.cern.ch/record/1355177/files/document.txt (Link: nur unformatierter Text)


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_18_744-745_S05-07.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Januar 2018, Seite 5 - 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2018

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