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ATOM/1250: Ein Prozess der passiven Revolution (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 724-725 / 31. Jahrgang, 2. März 2017 - ISSN 0931-4288

Atommüll
Ein Prozess der passiven Revolution

Von Thomas Dersee


Auseinandersetzung um Heiße Zellen an den Standorten der Atommüll-Zwischenlager

"Vor dem Rückbau der AKW muss in jedes dezentrale Zwischenlager eine heiße Zelle eingebaut werden. In die zentralen Zwischenläger Ahaus, Gorleben und Lubmin ist unverzüglich eine heiße Zelle einzubauen". Diese Forderung steht in Entwürfen eines Eckpunkte-Papiers des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) vom Februar 2017 zum Problem der Zwischenlagerung des sogenannten hoch radioaktiven, genauer des Wärme erzeugenden Atommülls. Heiße Zellen werden abgeschirmte Gehäuse oder Räume genannt, in denen radioaktive Stoffe hoher Aktivität mit Hilfe von Manipulatoren fernbedient gehandhabt werden können. Um defekte Castor-Behälter reparieren zu können, seien diese notwendig, so die Autoren des Papiers. Bisher fehlten diese Möglichkeiten, was inakzeptabel sei, auch weil voraussichtlich noch sehr lange Zwischenlagerzeiträume notwendig seien.

Dirk Seifert, stellvertretender Sprecher des BUND-Arbeitskreises Atom und Strahlenschutz und Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Hubertus Zdebel (Die Linke), ist empört darüber, daß das Papier öffentlich gemacht worden ist. Denn es sei "eine allererste und interne Entwurfs-Skizze zur Diskussion innerhalb des BUND Arbeitskreises Atom und Strahlenschutz, (...) ein erster grober Aufschlag". Zuvor waren bereits in den Jahren 2014 und 2015 im Auftrag von Greenpeace und Zdebel Studien des Physikers Wolfgang Neumann von der intac GmbH in Hannover erschienen, in denen für die Zwischenlagerstandorte Heiße Zellen gefordert wurden. Dies hatten die Standortinitiativen damals strikt zurückgewiesen.

Daß aus dem BUND heraus jetzt Forderungen nach dem Bau von Heißen Zellen an den Atommüll-Lagerstandorten erhoben werden, hat außerhalb des BUND Erstaunen hervorgerufen und wird an den betroffenen Standorten kritisch gesehen. Der Ansiedlungsvertrag mit der Stadt Ahaus für das dortige Zwischenlager etwa verpflichtet die Betreiber des Lagers ausdrücklich, in Ahaus keine Heiße Zelle zu errichten und es stellt sich die Frage, ob Verträge eingehalten werden müssen. In Ahaus wird das mit dem Ziel gefordert, den Zeitraum der Atommülllagerung zu befristen, zu verhindern, daß weiterer Atommüll dorthin gebracht und aus dem Zwischenlager ein "Endloslager" wird. Die bisherige Einlagerungsgenehmigung für Ahaus gilt noch bis zum Jahr 2036, eine Verlängerung wäre ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, weil dort keine Heißen Zellen für ein irgendwann notwendig werdendes Umpacken des Mülls errichtet werden dürfen.

In Gorleben würde die Forderung nach einer Heißen Zelle eine Legitimierung der dortigen, nicht funktionsbereiten Pilot-Konditionierungsanlage und die Zementierung dieses Standortes als Endlager bedeuten. Heiße Zellen haben etwas mit dem Öffnen der Behälter zu tun, was für die Endlagerung notwendig ist. Deshalb sieht man es in der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg nicht als eigene Aufgabe, die technische Ausgestaltung der Behebung von Sicherheitsmängeln zu übernehmen, sondern die Finger auf die Wunden zu legen.

Um riskante Castor-Transporte zu vermeiden, gibt es dagegen an anderen Orten, etwa in Jülich und Obrigheim, auch die Forderung, den Atommüll dort zu lassen, wo er ist und sogar eine "gehärtete" Halle zu errichten, auch auf die Gefahr hin, daß dann noch mehr Atommüll dorthin geschafft wird. Darauf weist Jochen Stay von der Organisation ­.ausgestrahlt hin. Er empfiehlt dem BUND angesichts des Dilemmas zwischen mehr Sicherheit und mehr Atommüll, das Gespräch mit den Standortinitiativen zu suchen, bevor er sich auf seine Eckpunkte festlegt und diese veröffentlicht. Thorben Becker, Leiter Atompolitik beim BUND, meint dagegen, natürlich müsse der BUND mit den Bürgerinitiativen gerade auch aus Ahaus und Gorleben diskutieren, "aber doch erst wenn wir wissen was wir wollen." Es sei "absurd, mit nicht abgestimmten Papieren in die Diskussion mit BIs, .ausgestrahlt und anderen zu gehen."

Kommentar: Noch kein Wandel beim Umgang mit Atommüll

"Die staatliche Initiative um die Endlager-Kommission [lässt sich] durchaus als ein Prozess der passiven Revolution verstehen und identifizieren." Diese Schlußfolgerung zieht der Politikwissenschaftler Felix Syrovatka, zur Zeit Doktorand am Institut für Politikwissenschaft in Tübingen, aus seiner Analyse der "Anti-Atom-Bewegung bei der Suche nach einem Endlagerstandort".[1]

Der Prozess einer passiven Revolution ist demnach, einem theoretischen Ansatz von Antonio Gramsci zufolge, als ein offener politischer Prozess zu verstehen, in dem oppositionelle und gegenhegemoniale Forderungen und Meinungen durch die herrschenden sozialen Gruppen aufgegriffen und mitsamt ihren aktivsten Elementen politisch wie Strahlentelex der politischer Wandel stattfindet. Vielmehr finde durch ideologisch inkorporiert werden, ohne daß dabei ein grundlegender politischer Wandel stattfindet. Vielmehr finde durch diese "Revolution ohne Revolution" eine Stabilisierung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse statt. Das bedeutet hier, daß weder staatliche Deutungshoheit in Frage gestellt noch die Standortsuche partizipativ organisiert wird.

Jedoch, schränkt Syrovatka ein, stand die Anti-Atom-Bewegung aufgrund vergangener Erfahrungen mit staatlichen Initiativen, dem Prozess von Beginn an kritisch gegenüber, wenngleich sich Teile der Bewegung an der Endlager-Kommission beteiligt haben. Dennoch werde deutlich, daß es durch die staatlich initiierte Endlagersuche in der Anti-Atom-Bewegung zu inhaltlich-strategischen Verschiebungen und starken Auseinandersetzungen kam. Sie habe sich nur bedingt in das staatliche politische Projekt einbinden lassen und der Versuch einer Kooption beziehungsweise einer passiven Revolution durch die staatlichen Apparaturen sei ins Leere gelaufen.

Wie auch die dargestellte Auseinandersetzung um Heiße Zellen hier am Beispiel des BUND zeigt, haben nicht alle Akteure der Anti-Atom-Bewegung diesem Kooptionsversuch widerstanden und sich zum Teil gern "inkorporieren" lassen. Und, darauf weist auch Syrovatka hin: Die Diskussion über eine angemessene Strategie im Umgang mit dem Atommüll beschäftigt nicht nur die staatlichen Apparate, sondern auch die Agenda der Anti-Atom-Bewegung wird dadurch bestimmt.


Anmerkung

[1] Felix Syrovatka: Zwischen Konfrontation und Kooperation - Die Anti-Atom-Bewegung bei der Suche nach einem Endlagerstandort, in: Achim Brunnengräber [Hrsg.]: Problemfalle Endlager - Gesellschaftliche Herausforderungen im Umgang mit Atommüll, S. 211-233; im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten ENTRIA-Projektes. Nomos Verlag Baden-Baden 2016, ISBN 978-3-84873510-5.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_17_724-725_S07-08.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, März 2017, Seite 7-8
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2017

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