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TIERVERSUCH/776: Multiorganchips, Phantommodelle und humane Knochenzellen (tierrechte)


Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2018
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V

Multiorganchips, Phantommodelle und humane Knochenzellen

von Dr. Christiane Hohensee und Carolin Spicher


Vom 23. bis zum 26. September fand der jährliche Kongress zu tierversuchsfreien Verfahren in Linz(1) statt. Dr. Christiane Hohensee und Carolin Spicher waren für den Bundesverband dabei. Sie berichten über neue vielversprechende Entwicklungen, die das Potenzial haben, Tierversuche abzulösen und über ein Projekt des Bundesverbandes, das auf dem Kongress vorgestellt wurde.

Mit rund 290 Teilnehmern aus 29 Ländern ist der EUSAAT-Kongress der größte seiner Art zu tierversuchsfreien Verfahren und 3R(2) in Europa. Mit 169 Vorträgen und 100 Postern informierten Wissenschaftler und Vertreter aus Industrie und Politik über die neuesten Entwicklungen. Der Kongress bietet auch eine Plattform, um sich zu aktuellen Missständen im System und einem zukünftigen Ausstieg zu Tierversuchen in Europa auszutauschen.


Mehr Ressourcen für Tierschutzbeauftragte

Solange das Ziel noch nicht erreicht ist, Tierversuche zu ersetzen, ist es unabdingbar, dass alles getan wird, um das Leid der Versuchstiere zu minimieren. Entsprechend der EU-Tierversuchsrichtlinie gibt es in Deutschland die Vorgabe, dass Einrichtungen, die an Tieren forschen, über Tierschutzbeauftragte sowie Tierschutzgremien oder Ausschüsse verfügen müssen, die als Experten zu den 3R beraten und Versuchs-Projekte begleiten.

Dr. Susanna Louhimies von der EU-Kommission betonte in ihrem Vortrag die Wichtigkeit dieser Organe. Carolin Spicher - wissenschaftliche Referentin beim Bundesverband - berichtete im Anschluss über ein aktuelles Projekt, das der Bundesverband in Kooperation mit Dr. Jan Baumgart von der Universität Mainz durchführt. Bei dem Projekt handelt es sich um eine Umfrage unter Tierschutzbeauftragten und Mitgliedern der Tierschutzgremien. Ziel war herauszufinden, wie es in der Realität um deren Stellung in deutschen Forschungseinrichtungen steht. Carolin Spicher gab einen kurzen Überblick über die ersten Ergebnisse aus über 180 Rückmeldungen. Es gab überraschende Defizite, was den Kenntnisstand zu 3R angeht und die Antworten machten deutlich, dass es den Verantwortlichen oft an zeitlichen und finanziellen Ressourcen fehlt, um ihren Aufgaben gewissenhaft nachzugehen. Der Bundesverband plant, mit den Ergebnissen Druck auf den Gesetzgeber auszuüben. Es müssen eine gute Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen sichergestellt werden.


Zukunftstechnologie: Organoidmodelle

Bei den Neuentwicklungen sind besonders die Multiorganchips interessant. Wissenschaftler stellten sowohl neue 1-Organ-Entwicklungen als auch 2-Organoidmodelle auf dem Chip vor. In diesem Jahr stand die Frage im Raum: Sollten die Modelle so einfach wie möglich sein, um einen Hochdurchsatz zu ermöglichen oder sollten sie das natürliche Organ in Miniaturformat so deutlich wie möglich in seiner Kompliziertheit nachbilden? Der Konsens war: es kommt auf die Zielsetzung an und man braucht am Ende beides.


Maus-Modelle aus dem 3D-Drucker

Eine weitere vielversprechende Zukunftstechnologie ist der 3D-Druck. Wissenschaftler vom Start-up-Unternehmen Cellbricks haben bereits Leberläppchen mit kleinsten Gallenkanälchen gedruckt. Auch für Leberinfektionsmodelle werden so bereits Gewebe nachgebildet. Das neue Verfahren ermöglicht grundsätzlich auch die Produktion noch weit komplexerer Strukturen. Forscher arbeiten derzeit an der dreidimensionalen Nachbildung ganzer Tiere aus Kunstgewebe, in diesem Falle 3D-Mausphantom-Modellen. Der 3D-Druck wird auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung genutzt. Die Arbeitsgruppe um Prof. Johanna Plendl von der veterinärmedizinischen Fakultät der Freien Universität Berlin entwickelt derzeit den sogenannten SimulRATor, ein Phantommodell für das Handling kleiner Versuchstiere in der Ausbildung. Juliane Kuhl von der Technischen Universität Hamburg stellte zudem ein neues Modell zum Ersatz von Kaninchen für das chirurgische Training vor. Mit diesem können angehende Chirurgen die operative Entfernung von Aneurysmen erlernen.


Humane Knochenzelllinien und Wundheilungsmodelle

Spannende neue Verfahren gibt es auch im Bereich der patientenorientierten medizinischen Forschung. Daniel Seitz von der Universität Bayreuth stellte beispielsweise eine humane Knochenzelllinie zum Testen von Knochenimplantaten mit auf- und abbauenden Knochenzellen vor. Um entzündliche Gelenkerkrankungen untersuchen zu können, arbeiten Nachwuchswissenschaftler der Arbeitsgruppe von Prof. Budgereit von der Charité derweil an Knochen- und Knorpelgewebe in Kombination mit künstlich geschaffener Gelenkhaut und Gelenkflüssigkeit. In Jena forscht die Arbeitsgruppe um Dr. Alexander Mosig zu Lungen- und Leberinfektionsmodellen. Wundheilungshautmodelle, mit denen die Narbenbildung nach Verletzungen verhindert werden kann, entwickelt eine Arbeitsgruppe an der Freien Universität Berlin. Für den wichtigen Bereich Lebensmittelunverträglichkeiten stellte die Firma MatTek aus Bratislava humane Dünndarmmodelle vor, an denen die Unverträglichkeit von Weizenproteinen untersucht werden kann.


Tierleidfreier Enzym-Cocktail

Sehr begrüßenswert ist auch die Entwicklung von Dr. Andreas Schiwy von der RWTH Aachen. Er hat einen biochemischen Ersatz aus menschlichen Zellen für den sogenannten S9-Mix entwickelt. Derzeit wird dieser noch aus Rattenlebern gewonnen. Weltweit werden pro Jahr mehr als 12.000 Ratten vergiftet, um ihnen dann zur Enzymgewinnung die Leber zu entnehmen. Diesen enzymreichen Cocktail brauchen Labors beispielsweise, um Bakterientests durchzuführen. Diese Tests sind zwar eine Alternative zum Tierversuch, aber durch den S9-Mix enthalten sie immer noch verstecktes Tierleid.


Mehr Austausch und Vernetzung

Aber auch außerhalb von Petrischalen, Zellen und Druckern gibt es Neuerungen: Um Tierversuchsdopplungen zur vermeiden, haben Wissenschaftler der Universität Utrecht eine Internetplattform entwickelt, auf der Wissenschaftler vor Beginn ihre Tierversuchsvorhaben registrieren sollen. Das soll helfen, Versuche auf einer realistischen Datengrundlage zu planen, da veröffentlichte Publikationen meist nur positive Tierversuchsergebnisse widerspiegeln, während negative Ergebnisse in der Schublade verschwinden. Dies kann zu gefährlichen Fehleinschätzungen bei den zu erwartenden Ergebnissen führen.


KASTEN: BIOLOGISCHE BARRIEREN - HUMANE MODELLE STATT TIERE

Auf dem Kongress zu biologischen Barrieren, der vom 27. bis 29. August in Saarbrücken stattfand und alle zwei Jahre vom Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung ausgerichtet wird, wurden ebenfalls neue tierversuchsfreie Verfahren vorgestellt. Ein wichtiges Thema waren die immer komplexer werdenden Darm-, Lungen- oder Hautmodelle, Plazenta- und Blut-Hirnschrankenkulturen sowie in vitro-Krankheitsmodelle. Forscher sind dabei, Bakterien in in vitro-Modelle zu integrieren, um Entzündungsprozesse zu simulieren.

Ein weiterer Schwerpunkt war die Nanomedizin, die zur Überwindung der Barrieren, beziehungsweise gezielten Platzierung des Wirkstoffs beitragen soll. Würzburger Forscher haben Lungen-, Darm- und Brustkrebsmodelle konstruiert, mit denen monoklonale Antikörper zur Krebs-Behandlung eingesetzt werden sollen. Mit integrierten Bakterienkulturen in Infektionsmodellen soll untersucht werden, wie Bakterien die Barrieren durchdringen. Lungen- und Nasenschleimhautmodelle werden genutzt, um Nanopartikel mit schleimlösenden Arzneimitteln "zu beladen". Hautmodelle werden zur Erforschung der Entwicklung der TseTse-Fliege eingesetzt sowie Lungenmodelle in der Tuberkuloseforschung. Vorgestellt wurde auch ein Modell der Erbkrankheit Mukoviszidose sowie ein komplexes Pankreasmodell aus Frankreich, das der Behandlung von Bauchspeicheldrüsenkrebs dienen soll.


Anmerkungen

(1) European Society for Alternatives to Animal Testing (EUSAAT) veranstaltet jedes Jahr, wenn es keinen Weltkongress zu Tierversuchsalternativen gibt, einen Fachkongress.

(2) 3R-Prinzip: 1. Replacement = Ersatz des Tierversuchs durch eine andere Methode; 2. Reduction = Reduktion der Tierzahl im Versuch; 3. Refinement = Verminderung der Schmerzen und Leiden der Tiere im Versuch. Der Bundesverband lehnt Tierversuche aus ethischen, medizinischen und methodischen Gründen ab. Er verfolgt den vollständigen Ausstieg aus dem Tierversuch (Replacement) und die Anwendung humanspezifischer tierversuchsfreier Verfahren. "Refinement" und "Reduction" sind zwingend anzuwendende Tierschutzmaßnahmen, bis das Ende der Tierversuche erreicht ist.

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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 3/2018, S. 16-17
Menschen für Tierrechte
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Mühlenstr. 7a, 40699 Erkrath
Telefon: 0211 / 22 08 56 48, Fax. 0211 / 22 08 56 49
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
 
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Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2019

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