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KOMMERZ/160: Broilerwahnsinn - Bauernfänger am Hähnchenhighway (PROVIEH)


PROVIEH Heft 1 - März 2010
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Broilerwahnsinn - Bauernfänger am Hähnchenhighway

Von Stefan Johnigk


In Deutschlands Geflügelindustrie wütet eine hoch ansteckende Seuche: Der Broilerwahnsinn. Reihenweise Bauern und Politiker sind ihm bereits zum Opfer gefallen. An seinen Folgen leiden die Umwelt, die Menschen und viele Millionen gequälte Masthühner. Es scheint nur ein wirksames Heilmittel dagegen zu geben: Das öffentliche Aufbegehren möglichst vieler Menschen!

"Broiler", so der weltweit übliche Branchenjargon für Brathühner, werden in nur 35 Tagen auf ein Körpergewicht von rund 2 kg gemästet. Dabei verbrauchen sie etwas mehr als 3 kg Kraftfutter. Sie wurden über Jahrzehnte darauf gezüchtet, das aufgenommene Futter möglichst effizient in Körpermasse umzusetzen. Unter ihrem krankhaft schnell wachsenden Gewicht geben Knochen und Gelenke nach. Ihre Füße entzünden sich und machen jede Bewegung schmerzhaft. Kurz vor ihrem Lebensende am Schlachttag können sich viele nur noch humpelnd fortbewegen. Sie verlassen kaum noch den Platz am Futternapf. Bis zu 25 Tiere bzw. bis zu 35 kg Huhn drängeln sich auf jedem Quadratmeter. Stechende Ammoniakdämpfe aus der von Kot und Urin durchtränkten Einstreu belasten Lungen und Schleimhäute. Verletzungen durch Stress bedingtes Federpicken sind blutiger Alltag. Das erhöhte Ruhen auf Sitzstangen oder Strohballen sowie das Baden im Staub und in der Sonne bleiben den Hühnern verwehrt. Solche und andere grundlegende Lebensbedürfnisse werden grausam dem Diktat der Ökonomie geopfert. Verlustraten von 5 bis 7,5 % pro Mastgang werden billigend in Kauf genommen.


Brathühnchen für 'nen Appel und 'n Ei?

Dabei ist der wirtschaftliche Ertrag pro Masthähnchen selbst unter industriellen Bedingungen klein. Ein Mäster verdient an jedem intensiv gemästeten Tier je nach Marktlage zwischen 5 und 8 Cent. Also muss wie so oft die Masse wettmachen, was an Wertschätzung für das Lebewesen fehlt. Im Jahr 2008 stammten 99 % aller "Broiler" in Deutschland von nur 11 % der Mastbetriebe. Knapp die Hälfte der über 912.000 Tonnen verzehrten Hähnchenfleisches kam aus industriellen Großanlagen mit über 100.000 Mastplätzen. Der Pro-Kopf-Verzehr in Deutschland für 2008 wird je nach Quelle mit 9,9 bis 11,7 kg angegeben. Er steigt weiter. Die Geflügelindustrie frohlockt.

Den Endprodukten, der Hähnchenbrust oder den Hühnerkeulen, sieht man das Elend der jungen Masthühner nicht mehr an. Sie wandern unbeanstandet in den Einkaufskorb tausender argloser Käufer, die sich einlullen und blenden lassen von Billigangeboten und Marketing-Geflimmer. Was kann schon an Produkten verkehrt sein, für die sogar ein Dieter Bohlen Werbung macht? Deutschland sucht das Superschnäppchen im Kühlregal. Die Branchengiganten Wiesenhof (Wesjohann), Emsland Frischgeflügel (Rothkötter) und Stolle liefern sich derweil am Markt einen Kampf um das beste Preis-Leistungsverhältnis, sprich: "Wer schindet am schnellsten mit dem geringsten Aufwand das Meiste aus den Hühnern heraus?" Der Lebensmitteleinzelhandel spielt mit, denn auch die Discounter verdienen nicht übel am Verkauf dieser Produkte aus der Hühnerturbomast.


Hühnerbarone auf Bauernfang

Machtkämpfe in der "Tierproduktion" können riskant sein. Neue Produktionskapazitäten müssen erst aufgebaut werden. Das erfordert Investitionen, und Kredite kosten Geld. Sie zu bedienen, schmälert auf lange Jahre den Ertrag. Sollten die Marktpreise drastisch fallen - der nächste Geflügelfleischskandal kommt bestimmt - dann steht man plötzlich da mit leeren Masthallen und vollen Tilgungsraten. Doch die drei Mastgiganten wären nicht so machtvoll geworden, wenn sie nicht alle Kniffe und Tricks beherrschten. Die Lösung ist so einfach wie gemein: Man verlagere die Risiken der Produktion auf die Schultern möglichst vieler Dritter, nutze optimal die von der Steuerzahlergemeinschaft bereit gestellte Infrastruktur und behalte alle wirtschaftlichen Stellschrauben in den eigenen Händen. Bonus für die Konzerne: Das Prinzip "Risiken sozialisieren, Gewinne privatisieren" gilt in Deutschland zurzeit als politisch korrekt.

Dieser Eindruck entsteht jedenfalls, wenn man die Entwicklung zum Beispiel in Niedersachsen verfolgt. Das Land gilt bereits seit Jahrzehnten als Hochburg der Geflügelbarone. Die Landkreise Cloppenburg und Vechta sind schon so dicht mit Agrarindustrie bebaut, dass es für neue Mastanlagen offenbar nur wenig Spielraum gibt. Nur im östlichen Niedersachsen bieten sich noch Expansionsmöglichkeiten. So senden die Konzerne ihre Bauernfänger in die Dörfer und Gemeinden entlang der A7, dem zukünftigen "Hähnchenhighway". Ihre Versprechungen klingen in den Ohren der Bauern verlockend: Das Konzept, die Küken, das Futter und Futterzusätze liefert derselbe Konzern, der letztlich auch die Abnahme, Schlachtung und Vermarktung der Hühner übernimmt. Der Mäster muss sich nur vertraglich binden, eine Mastanlage bauen und kann loslegen. Für viele bäuerliche Familien wäre es ein hoch willkommener Beitrag zum Jahreseinkommen, mit der Mast von rund 280.000 Industrie-Hühnchen bei - 6 Cent Erlös pro Tier circa 17.000 EUR pro Jahr hinzu zu verdienen. Wo liegt der Haken?


Banken und Barone gewinnen immer

Der Neubau eines modernen, klimatisierten Maststalls für knapp 40.000 Hühner kostet rund eine halbe Million Euro. Unter günstigen Bedingungen lassen sich zurzeit landwirtschaftliche Kredite schon ab 3,59 % effektivem Jahreszins erhalten. Das macht bei Vollfinanzierung eine Zinslast von 17.950 EUR pro Jahr. Wie hoch war noch mal der jährlich zu erwartende Durchschnittsertrag (vor Zinsen und Steuern) aus der Anlage? Richtig, rund 17.000 EUR. Diese Rechnung geht für den Bauern schlecht auf und noch viel schlechter für seine Hühner. Die Bank gewinnt, und der Geflügelbaron freut sich. Er erhält auf Jahre hinaus Planungssicherheit bei der Produktion. Er trägt weder Kapitaldienst noch Risiko. Fallen die Marktpreise oder steigen die Futterkosten, kann er diese an seine Lohnmäster weitergeben. Das hebt das Preis-Leistungsverhältnis und die Rendite. Die Gewinne verbleiben im Konzern. Und die Produktionsmengen lassen sich wunderbar regulieren, indem von den rund 800 abhängigen "Partnern" (Beispiel Wiesenhof) nach Bedarf die am wenigsten wirtschaftlichen "abgeschaltet" werden. Im Arbeitsrecht gibt es für solche Verhältnisse den Begriff der "Scheinselbständigkeit". In der Landwirtschaft fehlt ein passender Ausdruck, denn "Leibeigenschaft" wäre sicher etwas zu hart formuliert. Oder nicht?

Viele Lohnmäster scheinen - vom Broilerwahnsinn geblendet - das Konzept der Wesjohanns, Rothkötters und Stolles aufzunehmen. Die Genehmigungsverfahren sind für sie kein großes Hindernis, denn bei 39.900 Hühnermastplätzen sind weder eine Umweltverträglichkeitsprüfung noch eine Beteiligung der Öffentlichkeit vorgesehen. Es gelten das vereinfachte Verfahren nach Bundesimmissionsschutzgesetz und ein Rechtsanspruch auf Genehmigung, sobald alle behördlichen Erfordernisse erfüllt sind. Die Anwohner und Nachbarn der Landwirte wehren sich meist vergeblich gegen die Belastung durch Krankheitserreger, Bio-Aerosole, Gestank und Verkehr. Die Hühner selbst können sich nicht wehren, sondern brauchen streitbare menschliche Fürsprecher wie PROVIEH.


Der Widerstand im Netzwerk wächst

Zum Widerstand bereite Bauern, Bürger, Umwelt- und Tierschützer schließen sich mittlerweile bundesweit zusammen. Im Netzwerk "Bauernhöfe statt Agrarfabriken" kämpft PROVIEH gemeinsam mit zahlreichen Initiativen vor Ort gegen den um sich greifenden Broilerwahnsinn am Hähnchenhighway und anderswo. Täglich wenden sich mehr Menschen diesem neuen Netzwerk zu, holen sich Anregungen für Aktionen, tauschen Argumente aus für den Dialog mit Betreibern und Behörden oder machen einander Mut. Medienberichte über die üblichen Gräuel in der Masthühnerindustrie sind ebenso wichtig wie die tägliche Aufklärung vor Ort im Gespräch mit Nachbarn, Freunden und Verwandten. Der wachsende Widerstand aus der Bevölkerung scheint die Geflügelindustrie bereits nachhaltig zu irritieren. Schon laufen in Berlin und Brüssel die Lobbyisten zu Hochform auf. So stellte die Abgeordnete des Europaparlaments Silvana Koch-Mehrin (FDP) unmittelbar nach dem Auffliegen der jüngsten Tierquälereien bei Wiesenhof eine Anfrage an den Rat der EU, wie denn zukünftig mit "extremistischen Tierschützern" zu verfahren sei. Aus gut informierten Kreisen wurde bekannt, die Geflügelindustrie hätte ein Millionen schweres "Kopfgeld" ausgesetzt, um lästigen Tierschützern das Handwerk zu legen. Das Recht der Konsumenten, die Wahrheit zu erfahren, wie ihre Lebensmittel erzeugt werden, gilt offenbar nichts dagegen. Ganz zu schweigen vom Recht der Nutztiere auf Schutz und Respekt für ihre arteigenen Lebensbedürfnisse.

Doch die Rechnung der Geflügelindustrie wird nicht aufgehen. Paul-Heinz Wesjohann, der Vorsitzende der PHW-Gruppe (Wiesenhof), sagte schon 2002 in einem Interview mit "World Poultry": "Entscheidend ist, was die Konsumenten erwarten. Um es einfach auszudrücken: Wir haben keine Chance, wenn wir gegen die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung handeln." PROVIEH kämpft entschieden dafür, dass er mit dieser Aussage Recht behält.


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Quelle:
PROVIEH Heft 1, März, 2010, Seite 10-13
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2010