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JUSTIZ/213: Tierschutz im Rechtssystem - Etappenziele und künftige Meilensteine (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 3/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Tierschutz im Rechtssystem - Etappenziele und künftige Meilensteine
Eine juristische Momentaufnahme für Nichtjuristen

Von Detmar Kofent



Der Tierschutz ist im Grundgesetz (GG) verankert, als sogenanntes Staatsziel - ein Endergebnis, welches der Staat irgendwann erreichen möchte. Gesetzgebung, Verwaltung sowie Rechtsprechung sind verpflichtet, das Staatsziel zu beachten. Anders als die Strukturprinzipien des GG, die - wie Demokratie und rechtsstaatliche Ordnung - die unveränderlichen Grundlagen bilden, bedürfen Staatsziele der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber.

Außerhalb der Juristerei darf man sich Staatsziele wie Reisen zu einem entfernten Ort vorstellen. Die Teilnahme des Staates an der Reise ist Pflicht. Allerdings darf der Bundestag - genauer: die politische Mehrheit - Route, Verkehrsmittel und Geschwindigkeit aussuchen. Im Gegensatz zu Grundrechten, die als subjektive Rechte einklagbar sind, können Bürger oder Verbände wie PROVIEH keinen direkten Einfluss nehmen. Allerdings haben Staatsziel-Reisen keinen Rückwärtsgang. Einmal erreichte Standards dürfen grundsätzlich nicht wieder verschlechtert werden.

Die Reise zum Tierschutz begann am 1. August 2002, als der Tierschutz als Staatsziel im geänderten Artikel 20a GG in Kraft tat. Bis dahin kannte die bereits 1994 geschaffene Vorschrift nur den Umweltschutz.

Wichtigstes Instrument - also das Verkehrsmittel - ist das Tierschutzgesetz (TierSchG). Dieses trat 1972 in Kraft, lange vor Artikel 20a GG, als man den Tierschutz noch als Bestandteil einer modernen Zivilisation verstand. Überliefert ist ein Zitat des Bundestagsabgeordneten Löffler: "Niemand wird bestreiten können, dass die humane Qualität der Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft auch daran abzulesen sind, welches Verhältnis die Menschen dieser Gesellschaft zum Tier gefunden haben." Ein Jahr später wurde der Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung (VgtM) gegründet. Weder die allseits anerkannte Humanität, noch das druckfrische TierSchG vermochten die Ausbreitung der industriellen Tierhaltung aufzuhalten.

Letzteres konnte geschehen, obwohl Paragraph 2 TierSchG vorschreibt, dass ein Tier seinen Bedürfnissen entsprechend ernährt und untergebracht werden muss, und dass seine artgemäße Bewegungsmöglichkeit nicht eingeschränkt werden darf. Diese Vorschrift wird in Anlehnung an die englische Verfassungstradition als "Magna Carta Libertatum der Tiere" bezeichnet (deutsch: "Große Urkunde der Freiheiten"). PROVIEH hat Paragraph 2 TierSchG in die Präambel seiner Satzung aufgenommen.

Pünktlich zum dreißigsten Geburtstag des TierSchG entstand das Staatsziel Tierschutz. Von nun an war er kein bloßes Anhängsel einer humanen Gesellschaft mehr, sondern eine Verfassungsnorm mit rechtlich bindender Wirkung. Seit Bestehen des Staatsziels wurde das TierSchG durch zehn Beschlüsse des Bundestages geändert, so als würden wir mit Hochgeschwindigkeit zum Tierschutz reisen. Dieser Eindruck täuscht jedoch: Substanziell waren nur wenige Gesetzesänderungen. Betrachtet man deren Anzahl rein statistisch, hat sich die Reformgeschwindigkeit im TierSchG seit 2002 im Vergleich zum Zeitraum davor kaum erhöht.

Das TierSchG ist ein klassisches Beispiel für ein Verwaltungsgesetz. Den großen Worten des Paragraph 2 TierSchG folgen Ausnahmebestimmungen, die den Grundsatz der großen Tierfreiheit ins Gegenteil verkehren. Bekannteste Beispiele sind betäubungslose Amputationen und Tierversuche (Paragraphen 5 und 7 TierSchG). Die typische Formulierung lautet: Eingriffe sind zulässig, wenn sie "im Hinblick auf die vorgesehene Nutzung unerlässlich" sind. Bei der Unerlässlichkeit handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mehr oder minder tiergerecht ausgelegt werden kann - je nach wirtschaftlichem Interesse. Hinzu kommen Rechtsverordnungen, die weitere Ausnahmen vorsehen, allen voran die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung (TierSchuNutztV). Sie regelt Haltungsbedingungen für landwirtschaftliche Nutztiere, die sich oft an den Forderungen der Agrarindustrie orientieren.

PROVIEH hat seine Arbeit in den Jahren nach Schaffung des Staatsziels Tierschutz neu ausgerichtet. Den fehlenden Rückwärtsgang klar im Blick, geht es seither darum, Schritt für Schritt die Ausnahmebestimmungen zu bekämpfen und nach politischen Mehrheiten für das jeweils Machbare Ausschau zu halten. Auch aufgrund unserer Kampagnen wurde die Legehennenhaltung in engen Käfigen aus der TierSchNutztV gestrichen. Wenn alles gut geht, fällt demnächst auch Paragraph 5 Abs. 3 Nr. 1a TierSchG, wonach unter acht Tage alte Ferkel betäubungslos kastriert werden dürfen.

Etappenziele sind erreicht. Meilensteine liegen vor uns, die wir mit Ihrer Hilfe erreichen werden.


INFOBOX
 
Paragraph 2 TierSchG:

"Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat,
1. muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen,
2. darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden,
3. muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen."

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 3/2013, Seite 20-21
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen
tierquälerische Massentierhaltung e.V.
Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2013