Magazin tierrechte - Ausgabe 2/2017
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V
"Wir glauben fest daran, dass der Ausstieg machbar ist!"
tierrechte-Interview mit Dr. Herman Koëter, Vorsitzender des NCad(1)
Der Toxikologe Dr. Herman Koëter ist Vorsitzender des
niederländischen Nationalen Komitees für den Schutz von Tieren, die
für wissenschaftliche Zwecke verwendet werden (NCad).(1) Als
ausgewiesener Experte für Lebensmittel- und Chemikaliensicherheit
arbeitete er für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (OECD) und war Mitbegründer und wissenschaftlicher
Direktor bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit
(EFSA). Die Fortentwicklung tierversuchsfreier Technologien war ihm
schon immer ein Anliegen.
1982 erhielt er ein Forschungsstipendium, um eine tierversuchsfreie
Methode für den Augenreizungstest am Kaninchen zu entwickeln. Er
gründete und leitete die Europäische Forschergruppe für Alternativen
in der Toxizitätstestung (ERGATT) und ist Beiratsmitglied des Zentrums
für Alternativen zum Tierversuch an der Johns Hopkins University in
Baltimore. tierrechte sprach mit ihm über den ambitionierten
niederländischen Abbauplan für Tierversuche.
Tierversuche für regulatorische Sicherheitstests für Chemikalien, Lebensmittelzusätze, Pestizide und Tier- und Humanmedizinprodukte können unter Einhaltung des gleichen Sicherheitsniveaus bis 2025 beendet werden.
(NCad-Bericht S. 17)
Tierrechte: Herr Dr. Koëter, würden Sie uns bitte
erläutern, wie Sie das Ende der Tierversuche für regulatorische
Sicherheitstests bis 2025 in den Niederlanden erreichen wollen?
Dr. Koëter: In unserem Beratungsbericht stellen wir fest, dass es tatsächlich möglich sein sollte, die Tierversuche im Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsprüfungen bis 2025 auslaufen zu lassen, sofern alle an der Sicherheitsbewertung von Chemikalien beteiligten Parteien eng zusammenarbeiten. Darüber hinaus müssen die Ministerien, die für den Einsatz von Versuchstieren zuständig sind, das Programm sowohl politisch als auch finanziell unterstützen. Wir sind uns bewusst, dass dies ein ehrgeiziger und bisher beispielloser Plan ist. Aber wir glauben fest daran, dass es machbar ist. Die Umsetzung wird allerdings weder einfach noch unkompliziert und sie erfordert gemeinsame Anstrengungen, sowohl der europäischen Mitgliedsstaaten als auch der Regulierungsbehörden. Wir in den Niederlanden sind mehr als bereit, unseren Anteil dabei zu leisten.
Tierrechte: Welche Anzeichen gibt es für die
Annahme, dass die Entwicklungen von organähnlichen Systemen wie Leber
und Niere bis 2025 so weit fortgeschritten sind, dass sie zuverlässig
und aussagekräftig die Originalorgane des Menschen repräsentieren
können?
Dr. Koëter: In Anbetracht des rasanten Tempos, mit dem sich diese Technologie in den letzten zehn Jahren entwickelt hat und im Hinblick auf ihre tatsächliche Anwendung für spezifische Forschungszwecke, glaubt NCad, dass diese tierfreien Innovationen in der Tat sehr vielversprechend sind. NCad ist der Meinung, dass die vielen neuen Methoden für sich gesehen nur geringfügig zur Sicherheitsbewertung von Chemikalien beitragen, erst in der Kombination können sie das ganze Bild darstellen. Die Lösung liegt also nicht in einem Eins-zu-eins-Ersatz, sondern in einem Gesamtübergang von verschiedenen innovativen und tierfreien Methoden, rechnerischen Ansätzen und menschlichen Daten. Es wird also nicht eine einzige Technologie alle möglichen Fragen beantworten können. Es gibt ja auch kein Tiermodell, das alle Forschungsfragen zuverlässig beantworten kann.
Tierrechte: In Organ- oder
Human-on-a-Chip-Systemen haben die Organ-ähnlichen Systeme bisher
keinen unmittelbaren Kontakt untereinander. Der Kontakt ist jedoch
wichtig für die Stimulation beispielsweise der Hormone innerhalb eines
Organs. Bislang ist nicht klar, ob der fehlende Organkontakt die
Eigenschaften der Organoide zur Untersuchung der Toxizität
beeinflusst. Wie beurteilen Sie dies?
Dr. Koëter: Es stimmt, dass Organ-Interaktionen und Kommunikation auf einem Chip noch nicht verfügbar sind. Aber vor drei Jahren gab es noch nicht einmal Organe auf einem Chip! In Anbetracht der Geschwindigkeit des Fortschritts in diesem Bereich vertrauen wir darauf, dass innerhalb von zehn Jahren alle Stücke des Puzzles verfügbar sein werden. Und sie werden darüber hinaus bessere Daten für die Sicherheitsprüfung liefern, als es bei den aktuell durchgeführten Tierversuchen der Fall ist.
Tierrechte: Organoide Systeme haben bisher keine
Blutgefäße. Wie beurteilen Sie die Entwicklungschancen bis 2025?
Dr. Koëter: Anstatt sich auf spezifische Gewebe oder Organkombinationen zu fokussieren, konzentrieren wir uns bei der Sicherheit von Chemikalien auf die Beantwortung der wissenschaftlichen Fragestellungen. Gegebenenfalls können humane Daten und menschliches Material dazu beitragen, die Fragen zu beantworten.
Tierrechte: Viele Zellsysteme haben nur eine
begrenzte Lebensdauer. Bisher können sie 28 Tage, jedoch keine 90 Tage
genutzt werden. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse haben Sie, ob
die Entwicklung einer längeren Nutzungsdauer bis 2025 möglich sein
wird?
Dr. Koëter: Wir wissen heute noch nicht genau, was in zehn Jahren benötigt wird. Vieles hängt von den physikalischen und chemischen Eigenschaften der zu testenden Chemikalie sowie von QSAR(2) und 3-D Vorhersagen(3) ab.
Tierversuche zu regulatorischen Zwecken für die Vermarktung von biologischen Produkten (Chargenprüfungen) wie Vakzine können unter Einhaltung des gleichen Sicherheitsniveaus bis 2025 beendet werden.
(NCad-Bericht S. 18)
Tierrechte: Würden Sie bitte erläutern, wie der
schrittweise Ausstieg aus dem Tierversuch im Bereich der
Sicherheitstests für biologische Produkte wie Impfstoffe bis 2025
möglich sein wird?
Dr. Koëter: Obwohl es sich dabei um unterschiedliche Konzepte handelt, gilt für vac2vac (Zusammenschluss von 20 Einrichtungen zur Entwicklung und Validierung von tierversuchsfreien Verfahren für Human- und Tierarzneimittel) der gleiche Ansatz wie bei den Sicherheitstests für chemische Substanzen: Ein Gesamtübergang zu innovativen Technologien.
Im Bereich der wissenschaftlichen Grundlagenforschung ist die Reduktion oder der Ausstieg aus der Nutzung von Tieren in allen Forschungsbereichen kurzfristig nicht realistisch.
(NCad-Bericht S. 18-19)
Tierrechte: Tierversuche in der
erkenntnisorientierten und anwendungsoffenen Grundlagenforschung
können nach Ihrer Einschätzung bis 2025 nicht beendet werden. Hier
wollen Sie mit bereichsspezifischen Zehnjahresplänen arbeiten. Wer
wird diese Zehnjahres-Einzelpläne erarbeiten und bis wann?
Dr. Koëter: Der Beratungsbericht über den Übergang zur tierversuchsfreien Forschung wurde im Dezember 2016 veröffentlicht. Der niederländische Wirtschaftsminister, dem dieser Bericht übermittelt wurde, wird die Bildung von Untergruppen unterstützen, die realistische Forschungsziele in der erkenntnisorientierten und anwendungsoffenen Grundlagenforschung für die nächsten zehn Jahre festlegen sollen. Wir beabsichtigen, diese tierversuchsfreien Forschungsziele zu veröffentlichen und ihren Fortschritt zu überwachen. In jedem dieser Bereiche wird der internationale Kontext berücksichtigt.
Tierrechte: Die Tierversuche in der angewandten
und translationalen Forschung können Ihrer Ansicht nach bis 2025 nicht
eingestellt werden. Aber die Entwicklung von Replace-Methoden (Ersatz)
kann auch dadurch beschleunigt werden, dass mehr auf humanspezifische
Modelle und weniger auf Tiermodelle gesetzt wird. Die Niederlande
wollen hier international führend werden. Mit welchen Maßnahmen kann
die Entwicklung von Replace-Methoden beschleunigt werden?
Dr. Koëter: Hier muss noch viel geforscht werden. Damit dies gelingt, muss mehr Forschungsförderung fließen. Wir sehen hier nicht nur die Regierung in der Pflicht, sondern auch andere Stakeholder, wie Tierschutzorganisationen und NGOs aus dem Bereich Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz.
Durch die Fokussierung auf tierfreie Praktiken und die aktive Reflexion über den Einsatz von Labortieren im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung kann der Einsatz von Labortieren deutlich reduziert werden.
(NCad-Bericht S. 19)
Tierrechte: Was genau werden die Niederlande
unternehmen und wie soll der Rückgang des Tierverbrauchs in der Aus-,
Fort- und Weiterbildung erreicht werden?
Dr. Koëter: Die zuständigen Fachbereiche für die Hochschulausbildung in den Niederlanden werden aufgefordert, eine Vision bezüglich der tierverbrauchsfreien Innovationen für die nächsten zehn Jahre zu erstellen. In diesem Bereich hat sich in den letzten Jahrzehnten bereits viel getan. Der Tierverbrauch in der Ausbildung wurde durch Computermodelle, Lehrvideos und Dummys ersetzt. Bei der Ausbildung der nächsten Generation von Forschern und Lehrern ist es sehr wichtig, dass die kritische Reflexion über die Verwendung von Tieren aktiv in die Curricula einbezogen wird.
Tierrechte: Der NCad-Bericht definiert konkret,
welche Voraussetzungen im Sinne einer Gesamtstrategie gegeben sein
müssen, damit der Ausstiegsplan gelingen kann. Welche dieser wichtigen
Strategiemittel sind bereits vorhanden, welche müssen noch geschaffen
werden?
Dr. Koëter: Alle diese Mittel wurden bereits oder werden derzeit umgesetzt. Der Schwerpunkt sollte auch auf dem Austausch von Wissen, Transparenz und der internationalen Zusammenarbeit liegen.
Tierrechte: Eine Management-AG soll eine
Auflistung der neu zu entwickelnden Replace-Methoden erstellen. Bis
wann soll dies geschehen?
Dr. Koëter: Die Erstellung dieser Agenda wird voraussichtlich einige Monate nach der Aufstellung der neuen Regierung erfolgen.
Tierrechte: Die Niederlande wollen international
eine Führungsrolle bei der Entwicklung von Replace-Verfahren
übernehmen. Weshalb ist dies lohnenswert für die Niederlande und warum
haben sie eine gute Startposition für diese Aufgabe?
Dr. Koëter: Das Ziel, hier eine führende Rolle zu übernehmen, entspringt dem Ehrgeiz, Veränderungen einzuleiten und so zu einer Verbesserung der Situation beizutragen. Wir wollen den Übergang beschleunigen. Die Ausgangssituation in den Niederlanden ist günstig, weil der Landwirtschaftsminister, der für den Bereich Tierschutz verantwortlich ist, diesem Thema sehr zugetan ist.
Tierrechte: Wann beginnen Sie mit der Umsetzung?
Müssen Regierung und Parlament der Planung noch zustimmen?
Dr. Koëter: Die Umsetzung hat bereits begonnen. Die Bereitschaft, Regeln und Vorschriften für regulatorische Tierversuche zu verfeinern, wächst. Der Wert der Daten aus der tierexperimentellen Forschung wird zunehmend in Frage gestellt. Jetzt scheint der richtige Zeitpunkt zu sein, um den nächsten gewagten Schritt einzuleiten, um den Übergang hin zu einer tierversuchsfreien Forschung zu beschleunigen.
ANMERKUNGEN:
(1) Nationales Komitee für den Schutz von Tieren (NCad): Jeder EU-Mitgliedsstaat muss dieses Gremium einrichten. Das legt die EU-Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU in Artikel 49 fest und weist darauf im Erwägungsgrund 48 hin. In Deutschland heißt dieses Gremium Nationaler Ausschuss. Die Gremien wurden 2014 eingerichtet.
(2) QSAR = Quantitative Struktur-Wirkungs-Beziehung. QSAR beschreibt die quantitative Beziehung zwischen der chemischen Struktur eines Moleküls und seiner pharmakologischen, chemischen, biologischen, physikalischen Wirkung.
(3) Die dreidimensionale (räumliche) Struktur von Biomolekülen (Proteinen, DNS oder RNS) bestimmt die Funktion und damit die Giftigkeit. Dies machen sich Forscher in Computermodellen zunutze.
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Quelle:
Magazin tierrechte - Ausgabe 2/2017, S. 7-9
Menschen für Tierrechte
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Mühlenstr. 7a, 40699 Erkrath
Telefon: 0211 / 22 08 56 48, Fax. 0211 / 22 08 56 49
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2017
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