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ETHIK/027: Über Schweine und die Ambivalenz des Menschen (tierrechte)


tierrechte Nr. 51, Februar 2010
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Über Schweine und die Ambivalenz des Menschen

Das Interview führte Marion Selig.


Nach einer Ausbildung zum Landwirt absolvierte der Österreicher Herwig Grimm ein Philosophiestudium und beschäftigte sich u.a. mit Tierethik. Welche Auswirkungen dies auf seine Einstellung zu Tieren hat, seine Erfahrungen und Gedanken schildert er im Interview mit tierrechte.

TIERRECHTE: Herr Dr. Grimm, Sie befassen sich mit Tierethik und verfügen auch über langjährige Erfahrung im Umgang mit Schweinen. Was sind das für Tiere, wie würden Sie sie beschreiben?

HERWIG GRIMM: Mit Schweinen verbinde ich sehr eindrückliche Erfahrungen. Insbesondere erinnere ich mich daran, wie sich Schweine verhalten, wenn man sie im Freien hält, wie wir das auf einem Hof in Südengland gemacht haben. Es ist faszinierend, wie Schweine ihre Umwelt ihren Bedürfnissen anpassen und sie verändern und wie groß ihr Verhaltensrepertoire und wie spannend ihr Sozialverhalten ist. Dort in England hatte ich ein besonderes Erlebnis mit einem Muttertier: In einem eingezäunten Waldstück hielten wir vier weibliche Schweine und einen Eber. Wenn es soweit war, dass die Ferkel geboren werden sollten, holten wir die Muttertiere normalerweise in den Stall, um mit Hilfsmaßnahmen eingreifen zu können, wenn es notwendig sein sollte. Als dann bei einem der Schweine der Geburtstermin näherrückte und wir es holen wollten, konnten wir es nicht finden. Wir haben gesucht und gesucht, mit mehreren Personen und über mehrere Tage. Schließlich haben wir die Nachbarn noch eingeschaltet, die auch beim Suchen halfen - ohne Erfolg. Wir waren sehr in Sorge, was mit dem Schwein war, doch irgendwann gaben wir die Suche auf. Nach ein paar Tagen dann haben wir auf einmal ein kleines Rudel Ferkel gesichtet, und dann auch das Muttertier. Wir haben uns natürlich sehr gefreut und sind Mutter und Ferkeln gefolgt, um zu sehen, wohin sie laufen. Es stellte sich heraus, dass die Muttersau ein Ferkelnest gebaut hatte, einen dreiviertel Meter tief in den Waldboden hinein, also richtig ausgehoben, die Wände waren ausgekleidet und es war so gut versteckt und getarnt, dass wir es bei unserer Suche einfach nicht gesehen hatten. Die Ferkel waren topfit und ich dachte nur, das ist ja unglaublich, was diese domestizierten Tiere - es handelte sich um die Rasse Angler Sattelschwein - zustande bringen, was sie noch für ein ursprüngliches Verhalten zeigen und wie ungeschickt wir Menschen uns angestellt hatten. Das war schon sehr faszinierend.

TIERRECHTE: Das zeigt ja, dass dieses Verhaltensrepertoire, wie es bei frei lebenden Wildschweinen vorkommt, auch bei den 'Hausschweinen' vorhanden ist.

HERWIG GRIMM: Genau, auch bei den sogenannten Hybridschweinen - also aus spezialisierten Zuchtlinien gekreuzten Tieren -, die in der Schweinemast verwendet werden, ist dieses Verhaltensrepertoire da, auch wenn man es ihnen im Stall freilich nicht ansieht. Wie denn auch, wenn man bedenkt, wie wenig Möglichkeiten sie in der konventionellen Haltung haben, es auszuleben.

TIERRECHTE: Schweine werden heute überwiegend auf Spaltenboden gehalten und ihre Mütter, die sogenannten Zuchtsauen, müssen wochenlang im Kastenstand stehen. Wie beurteilen Sie diese Haltung?

HERWIG GRIMM: Ich bin zwar kein Ethologe, aber ich denke, dass der Kastenstand, in dem die Muttersauen während der Säugephase standardmäßig gehalten werden und sie über Wochen nur aufstehen und abliegen können, eine massive Einschränkung des Verhaltens bedeutet und, was ich lese, auch bei den Tieren zu beträchtlichen Belastungen führt. Man sieht sehr deutlich, was passiert, wenn man das Nestbauverhalten unterdrückt: Es kommt zu Verhaltensstörungen, wie z.B. Stangenbeißen, also zu sich wiederholenden Zwangsbewegungen. Ich sehe diese Haltungsform als überaus problematisch an, wobei man nicht vergessen sollte, unter welchem ökonomischen Druck die Nutztierhalter stehen.

Ansonsten ist es für Schweine besonders wichtig, dass sie Beschäftigungsmaterial, wie z.B. ausreichend Stroh, bekommen, weil sie, wenn sie die Gelegenheit haben, einen Großteil des Tages im Boden wühlen oder auch Pflanzen anknabbern. Das sind natürlich alles ganz kleine Schritte hin zu einer besseren Haltung, wenn man in Betracht zieht, was Schweine alles könnten, wenn man sie ließe und wie eingeschränkt sie tatsächlich unter heutigen Bedingungen in der Schweinemast leben.

TIERRECHTE: Sogenannten Mastschweinen wird bis zum Gewicht von 110 Kilogramm ein dreiviertel Quadratmeter Fläche zugestanden.

HERWIG GRIMM: Das reicht natürlich keinesfalls aus, um das breite Verhaltensrepertoire auszuleben. Ich halte aber die Unterforderung der Schweine dadurch, dass sie oft zu wenig Material wie Stroh oder Holz zur Verfügung haben, für gravierender als das Platzproblem. Wer gesehen hat, mit wie viel Energie und Ausdauer ein Schwein z.B. einen Baumstumpf ausgräbt, ein Nest baut oder einfach nur den Boden aufwühlt, wird verstehen, weshalb die Forderung nach Beschäftigungsmöglichkeit im Schweinestall so grundlegend wichtig ist.

Die Umsetzung davon ist - gelinde gesagt - noch stark verbesserungsfähig. Die Anforderungen an die Öko-Haltung mit verbindlicher Stroh-Einstreu und Auslauf sind in dieser Hinsicht sehr zu begrüßen.

Was die konventionelle Haltung betrifft, so ist in einer hochspezialisierten Landwirtschaft der ökonomische Druck allgegenwärtig. Ab der Nachkriegszeit wurde in der Landwirtschaft unter dem 'Produktionsparadigma' gearbeitet. Es ging darum, möglichst viel mit möglichst wenig Aufwand zu produzieren. Dies ging und geht fast immer zulasten der Tiere, die den ökonomisch erfolgreichen Haltungssystemen angepasst werden - anstatt den umgekehrten Weg zu gehen.

Das kann aber nicht auf Dauer so bleiben. Die Tiere müssen ein adäquates Leben führen können. Allerdings darf man dabei aus meiner Sicht nicht den Landwirt aus den Augen verlieren, sondern muss ihn ins Boot holen, wenn bessere Haltungsbedingungen für die Tiere erreicht werden sollen.

TIERRECHTE: Eine tiergerechtere Haltung verursacht höhere Kosten, daher muss auch der Verbraucher bereit sein, z. B. für Produkte aus Öko-Haltung mehr zu bezahlen.

HERWIG GRIMM: Ja, natürlich, alle müssen mitziehen. Tierschutz sollte als gemeinsames Anliegen verstanden werden, als gesamtgesellschaftlich getragener Kulturfortschritt. Grabenkämpfe helfen keinem, besonders nicht den Tieren.

TIERRECHTE: Menschen sperren Schweine in Ställe mit Spaltenboden oder in enge Kastenstände, das Schwein muss für jede Menge Schimpfwörter herhalten; andererseits ist es ein Glückssymbol und wird zunehmend auch als 'Haustier' ähnlich wie ein Hund gehalten. Haben Sie eine Erklärung für dieses ambivalente menschliche Verhalten?

HERWIG GRIMM: Ich bin gerade dabei, dieses Thema intensiver zu beforschen. Menschen sehen Tiere nicht nur als biologische Wesen, sondern immer auch entweder als Begleiter und Freund oder Nutztier, Fleischproduzent, Produktionseinheit, Anschauungsobjekt, Schädling etc. Die Bedeutung, die ein Tier für den Menschen hat, hängt also vom Kontext, vom Zusammenhang ab. Diese Kontextualisierung des Tierschutzes ist ein Riesenproblem. Dieses Problem, die unterschiedliche Einstellung des Menschen nicht nur verschiedenen Arten, sondern auch innerhalb einer Art dem Tier in seinen verschiedenen Rollen gegenüber - z. B. dem Schwein als Begleittier, als Nutztier, als Versuchstier -, muss überhaupt erst einmal erfasst und wahrgenommen werden. Ich denke, dass die Tierethik und der praktische Tierschutz an dieser Stelle vor einer großen Herausforderung stehen, weil es darum geht, die Rolle des Menschen und seine Wahrnehmung von Tieren als moralisch relevant zu thematisieren. Gerade die unterschiedliche Behandlung der Tiere einzelner Arten ist etwas, was einem Ethiker aufstößt. Es darf natürlich nicht dabei bleiben festzustellen, dass der Mensch die Tiere unterschiedlich behandelt, sondern es müssen Konsequenzen folgen. Wie die aussehen könnten, wie es gehen könnte, diese menschlichen Ambivalenzen unter einen Hut zu bekommen, zu diesen Fragen veranstalten wir am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität im Herbst eine Fachtagung. Ich bin schon auf die Ergebnisse gespannt.

TIERRECHTE: Wie hat sich Ihre Einstellung Schweinen gegenüber - oder Tieren generell - durch Ihr Studium verändert?

HERWIG GRIMM: Mein Studium und insbesondere die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen tierethischen Positionen haben mich besonders in dem Punkt verändert, dass ich den Umgang mit Tieren, den ich früher für selbstverständlich hielt, jetzt hinterfrage. War es z. B. für mich als Bauer ganz normal, Ferkel zu kastrieren, Kälber zu enthornen etc., finde ich heute, dass es sich hier erstens um moralisch problematische Eingriffe handelt, die zudem vermeidbar sind. Ein weiterer Punkt, in dem ich mich sicherlich verändert habe, ist der, dass ich nicht mehr der Meinung bin, dass man Tierschutzprobleme allein 'von oben', also durch Bestimmungen, durch Gesetze und Verordnungen, lösen kann. Ich halte es für erforderlich, diejenigen, die Tiere halten und nutzen, miteinzubeziehen, denn das sind die Menschen, die mit den Tieren umgehen und Tierschutz praktisch werden lassen.

TIERRECHTE: Was wünschen Sie sich für die Schweine?

HERWIG GRIMM: Bessere Haltungsbedingungen, besonders, was Beschäftigungsmöglichkeiten betrifft. Und dass jene Menschen, die für sie verantwortlich sind, darin unterstützt werden, bessere Haltungsbedingungen zu schaffen.

Dr. Herwig Grimm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er hat eine Ausbildung zum Landwirt absolviert und in Salzburg, Zürich und München Philosophie studiert. Seine Diplomarbeit hat er zum moralischen Status von Tieren angefertigt. In seiner Dissertation ging es darum, wie tierethische Anliegen im Kontext der Haltung sogenannter Nutztiere umgesetzt werden können und auf welche Probleme man dabei stößt.


Der Bundesverband Menschen für Tierrechte stellt die Nutzung von Tieren grundsätzlich infrage und setzt sich dafür ein, dass Tieren ein Recht auf Leben und Unversehrtheit zugestanden wird. Solange Menschen jedoch noch Tiere nutzen, sehen wir die Notwendigkeit, die Bedingungen dieser Tierhaltung so gut wie möglich zu gestalten.


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Quelle:
tierrechte - Nr. 51/Februar 2010, S. 10-11
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2010