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ETHIK/014: Der Fluch des Fleisches (Ingolf Bossenz)


Der Fluch des Fleisches

Von Ingolf Bossenz, Mai 2008


"Und das Wort ward Fleisch", heißt es im Johannesevangelium. Das Wort kam diesmal aus Brüssel. Und ward nicht Fleisch, sondern Fleischverbot. Angesichts extremer Ausbreitung von Schweinepest, Rinderwahn und Vogelgrippe wurden in der gesamten EU Herstellung, Besitz und Verzehr von Fleisch unter Androhung schwerster Strafen untersagt.

Das Szenario entstammt einem vor zwei Jahren erschienenen Roman. Es ist unrealistisch. Zwar könnte der totalitäre Überstaat der Unionsherrschaft eines Tages die Macht dazu besitzen. Allerdings würde er ein solches Diktat schwerlich über den Tierausbeutungssektor des agro-industriellen Komplexes und dessen Profitquellen verhängen. Dabei wäre es höchste Zeit, wider den Fleischkonsum eine ebensolche Kampagne sozialer Ächtung zu starten, wie sie derzeit europaweit gegen das Rauchen im Gange ist.

Denn es geht dabei nicht nur wie beim Rauchen um die individuelle Gesundheit (deren Gefährdung durch den in den Industrieländern üblichen massiven Verbrauch tierischer Produkte längst unbestritten ist). Es geht um nicht weniger als das Überleben von Millionen Menschen und die Rettung der Erde für die kommenden Generationen. Jedenfalls, wenn man die tagtäglich von der Politik und ihren Meinungsmultiplikatoren abgesonderten Worthülsen wirklich ernst nimmt. Dass Ernährungskrise und Umweltzerstörung auch etwas mit Steaks und Eisbein zu tun haben, war lange vor der Aufregung über steigende Lebensmittelpreise und ruinierte Ökosysteme bekannt. Allein Rinder gibt es heute auf der Erde rund 1,3 Milliarden - ebenso viele Menschen leiden laut Weltgesundheitsorganisation an chronischem Hunger. Um ein Kilo Steak zu produzieren, sind 16 Kilo Getreide und 20 000 Liter Wasser nötig. Jährlich werden über 600 Millionen Tonnen hochwertiges Getreide als Viehfutter verschwendet. Die Rodung der Regenwälder geht in erster Linie auf das Konto der Fleischproduktion. Bereits ein Viertel der gesamten Festlandmasse ist inzwischen Weideland. Nicht zu vergessen: Massentierhaltung erzeugt mehr Treibhausgas als der gesamte Straßenverkehr.

Schon aus diesen Gründen ist eine Reduzierung des Fleischkonsums dringend geboten. Angesichts des mit der Fleischherstellung untrennbar verbundenen Elends unserer "Mitgeschöpfe" - so die zynische Bezeichnung im deutschen Tierschutzgesetz - wäre wohl der Totalverzicht eine angemessene Reaktion.

Doch laut Prognose der EU-Kommission wird der Pro-Kopf-Verbrauch in Europa in den nächsten Jahren weiter steigen. Und in den Programmen und Verlautbarungen von Parteien und Politikern, auch dezidiert linker, ward das Thema Fleisch bislang nur spärlich Wort. Was wohl vor allem an der Furcht liegt, sich - ähnlich wie beim Individualverkehr - dem Verdacht auszusetzen, man wolle womöglich anderen vorenthalten, was man selbst hemmungslos praktiziert. Dieser potenzielle Vorwurf könnte indes wirkungsvoll dadurch entkräftet werden, dass man die eigenen Lebensgewohnheiten ändert. Aber wer will schon im Kampf gegen den Welthunger zum Vegetarier werden? So viel zum Geschwätz, was "wir" tun müssen. Jean Ziegler, langjähriger UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, nannte die Biospritherstellung "ein Verbrechen gegen einen Großteil der Menschheit". Was zweifellos ebenso auf die Fleischproduktion zutrifft - ergänzt durch den Zusatz "und gegen die Tiere".


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Mai 2008
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 09.05.2008


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2008