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ETHIK/010: Die Würde der Tiere (Provieh)


PROVIEH Heft 2 - Juni 2007
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Die Würde der Tiere

Von Prof. Dr. Urs Thurnherr


In einem Aufsatz beantwortet der tschechische Philosoph Vilém Flusser die Frage, was ein Gegenstand ist, indem er die Bezeichnung wörtlich nimmt und den Gegenstand als Hindernis begreift. [1] Auf meinen Wegen durch die Welt begegnen mir gemäß Flusser überall natürliche Gegenstände, die hingeworfen scheinen, um mich aufzuhalten, wie zum Beispiel Hänge, Wasser und Gestrüpp. Um diese natürlichen Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, entwirft und formt der Mensch spezifische Gebrauchsgegenstände wie Straßen, Boote und Äxte. Diese Gebrauchsgegenstände werden selber aus Gegenständen gefertigt und definieren sich nach Flusser von ihrer Nützlichkeit her beim "Abräumen von natürlichen Hindernissen". Das Wort "Gebrauch" ist bei Flusser in seiner weitesten Bedeutung zu nehmen. So repräsentieren auch Gesetze, Symphonien oder philosophische Begriffe Gebrauchsgegenstände. Die Gesamtheit der Gegenstände macht letztlich nach Flusser die Natur aus, und das Inventar der Gebrauchsgegenstände stellt die Kultur vor.

Menschen sind weder Gegenstände noch Gebrauchsgegenstände, obwohl sie zu beidem gemacht werden können. Dem Menschen als Menschen schreiben wir einen Wert an sich oder eine Würde zu. Jede Handlung, durch die der Mensch für irgendwelche Zwecke instrumentalisiert und damit vergegenständlicht wird, stellt folglich eine Entwürdigung und damit eine Dehumanisierung des Menschen dar. Hierauf bezieht sich auch Immanuel Kant in der "Zweck-Formel" des kategorischen Imperativs: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." [2]

Dabei stehen wir vor der unüberwindbaren Schwierigkeit, die menschliche Würde positiv zu fassen. Wie die aktuelle philosophische Diskussion zeigt, gibt es kaum eine Möglichkeit, die Würde von einer Sonderstellung des Menschen im Kosmos oder aus einer vorhandenen menschlichen Eigenschaft abzuleiten und zu definieren. [3] Die Würde des Menschen lässt sich begrifflich nicht durch eine Beschreibung fassen, sie stellt auch unmittelbar keine Vorschrift dar. Die Würde ist ein Titel, den wir dem Menschen aus spezifischen Gründen verleihen, und diese Verleihung hat gewisse Regeln und Normen zur Konsequenz. Und jene Gründe lassen sich allgemein lediglich in einer negativen Form angeben. Mit Würde wird am Ende nichts anderes als die Differenz des Menschen zum Gegenstand bzw. zum Gebrauchsgegenstand bezeichnet. Die Frage ist, inwiefern wir auch Gründe haben, diesen Titel den Tieren oder gewissen Tieren zu verleihen.

In der tierethischen Diskussion können grundsätzlich drei Sichtweisen auf das Tier unterschieden werden. Vom ersten Blickpunkt aus wird das Tier als Gegenstand gesehen. Das Tier in der Wildnis wird dementsprechend als Bedrohung und Hindernis erfahren, das im Zuge der Ausdehnung des menschlichen Lebensraumes einfach weggeräumt oder ausgerottet wird. Zoologische Garten werden hierbei mehr und mehr zu Begegnungsstätten mit zum Teil vom Aussterben bedrohten Tieren, wo die Menschen ihre Restskrupel zu beschwichtigen versuchen.

Vom zweiten Gesichtspunkt aus werden die Tiere als Gebrauchsgegenstände angesehen. Der Mensch hat es von Natur aus auf seinem Lebensweg mit einer Vielfalt von Hindernissen zu tun. Er hat Hunger, er friert, er langweilt sich und er wird von Krankheiten geplagt. Mit dem Fleisch der Tiere räumt er seinen Hunger weg, mit dem Fell der Tiere die Kälte, mit der ritualisierten Tierquälerei die Langeweile, und mit dem Leiden der Versuchstiere arbeitet er an der Beseitigung seiner Krankheiten.

Erst die dritte Betrachtungsweise gesteht den Tieren einen Wert an sich und damit eine Würde zu. Diese Position verbietet es, die Tiere als Gegenstände oder Gebrauchsgegenstände zu behandeln. Wenn wir einem Tier den Titel der Würde verleihen, basiert dies vor allem auf der Grundlage von Analogieschlüssen, durch die wir Verhaltensweisen und Fähigkeiten der Tiere als ähnlich mit unseren eigenen Verhaltensweisen und Fähigkeiten zu verstehen lernen. Um einem anderen Menschen wirklich persönlich zu begegnen, suchen wir den Blickkontakt. Wo immer der Mensch in die Augen eines lebenden Tieres schaut, mag er einsehen, dass sein Konzept, Tiere seien Gegenstände oder Gebrauchsgegenstände, nicht mehr aufgeht. Dem Tier konkret ins Auge geblickt, begegnet er subjektiv zum Beispiel beim Kalb der eigenen Lebensneugier, beim Hund dem eigenen Wunsch noch Verbundenheit, beim Menschenaffen der eigenen reflektierten Aufmerksamkeit etc. Entsprechende Analogieschlüsse vollziehen sich heute vor einem ganz spezifischen wissenschaftlichen Hintergrund. Und dies ist das entscheidend Neue. Die Evolutionsbiologie und -psychologie sowie die Genomforschung oder die Verhaltenspsychologie rücken die Tiere immer näher an den Menschen. Entsprechend bestärken die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Einsichten den Menschen auch mehr und mehr in jenen Analogieschlüssen. Im Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnisse wird die eigene Begegnung mit dem lebendigen Blick des Tieres zu einem "Point of No Return" des erwachenden tierethischen Gewissens. Wenn man sich der Frage nach dem Status der Tiere aufrichtig stellt, bleibt am Ende eigentlich nur noch eine Position übrig: Tiere sind keine Gegenstände und haben darum eine Würde.

Gegenüber dem Zugeständnis der Würde an das Tier gibt es notorisch auch eine ganze Reihe entsprechender reaktionärer Abwehrstrategien. Von Seiten der Theologie wurde jüngst wieder eingeworfen, dass in der Tradition der Titel der Würde dem Menschen vorbehalten und das Tier nie mitgemeint war. Es fällt schwer, diesen Einwand philosophisch überhaupt als Argument ernst zu nehmen, denn danach dürfte sich aufgrund von neuen Erkenntnissen und Einsichten niemals auf der Welt irgendetwas ändern. Dereinst wurden schließlich auch traditionsgemäß Sklaven gehalten und die Frauen entmündigt ...

Eine andere Strategie, die auf die sprachliche Desensibilisierung baut, fährt zum Beispiel Carol J. Adams im Kontext der Vegetarismus-Diskussion vor Augen. [4] Uns ist es nur möglich, Tiere zu verspeisen, weil wir nicht von Tieren sprechen, sondern von Fleisch. Solange lediglich von Fleisch die Rede ist, wird niemand an ein einzelnes geschlachtetes Tier und an den betreffenden Vorgang des Schlachtens erinnert. Hinter dem Ausdruck "Fleisch" verschwindet der eigentliche Referent, das einzelne Tier, von dem dieses Fleisch stammt und das uns über den sprachlichen Ausdruck mit seinen Augen anschauen werde. Durch die Sprachtechnik der "abwesenden Referenten" ("structure of the absent referent" [5]) findet eine Vergegenständlichung der betreffenden Lebewesen statt.

In der Depressionsforschung werden Primaten durch Deprivation in eine bestimmte körperliche und gemütsmäßige Verfassung gebracht, um über das Studium der entsprechenden Auswirkungen ein Tiermodell für die Depression zu entwickeln. Dafür werden Primaten ausdrücklich aufgrund ihrer Verwandtschaft mit dem Menschen gewählt, gleichzeitig aber wird bestritten, dass die Tiere ein Ich-Konzept hatten und umfassend leiden könnten. Schließlich kann nicht sein, was nicht sein darf. Den eigenen Erfolg und Vorteil vor Augen beginnt sich das logisch-konsistente Denken selbst bei hoch qualifizierten Wissenschaftlern zu zersetzen.

Die Abwehrgefechte werden nichts nutzen; wer die Logik beugt, wird widerlegt werden. Zu dem, was das Tier ausmacht, haben wir keinen anderen Zugang als das analogische Erschließen. Hierbei müssen wir versuchen, uns unsere Argumentationsfehler und unsere Sprachfiguren der Verdrängung gegebenenfalls immer wieder bewusst zu machen, zu kritisieren und zu korrigieren. Wir kommen auch nicht umhin, uns den neusten Erkenntnissen aus den involvierten Wissenschaften zu stellen. Weiteres wird die eigene Beobachtung von Tieren oder die Begegnung mit Tieren hinzufügen. Mit der Zeit werden wir endgültig begreifen: Tiere sind keine Gegenstände. So wird die Rede von der Würde der Tiere irgendwann eine Selbstverständlichkeit darstellen.


Prof. Dr. Urs Thurnherr ist Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte finden sich im Bereich der Ethik, der Angewandten Ethik, der Philosophischen Anthropologie, der Hermeneutik und der Philosophie Kants. Er studierte Philosophie, Neuere deutsche Literaturwissenschaft sowie Deutsche Sprachwissenschaft und Ältere Literaturwissenschaft. 1993 Promotion, 1998 Habilitation in Philosophie an der Universität Basel. Seit 2003 ist er Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe. Seit 2004 ist er Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH).


Anmerkungen
[1] Vgl. dazu und zum Folgenden V. Flusser, Design: Hindernis zum Abräumen von Hindernissen?; in: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, hg. v. F Wurm, Göttingen 1993, S. 40-43.
[2] Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Band IV, Berlin 1968, S. 429.
[3] Vgl. R. Stoecker (Hq.), Menschenwürde. Annäherungen an einen Begriff, Wien 2004.
[4] Vgl. C. J. Adams, Ecofeminism and the eating of animals, in: Hypatia 6 (1991), S. 134-737.
[5] Vgl. ebenda.


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Quelle:
PROVIEH Heft 2, Juni 2007, Seite 20-22
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2007