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BERICHT/083: Zwischen "Lila Kuh" und Bauernhof-Kitsch (PROVIEH)


PROVIEH Heft 2 - Juni 2009
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Zwischen "Lila Kuh" und Bauernhof-Kitsch
Wie erfahren Kinder eigentlich, woher ihr Essen kommt?

Von Susanne Aigner


Die Milch kommt aus dem Tetra-Pack, der Joghurt aus dem Becher. In der Schule werden Snacks für die Pause verkauft, zu Hause Fertigsuppen aufgewärmt. Stadtkinder machen sich heute kaum Gedanken darum, woher ihr Essen kommt. Vor allem Kinder aus ärmeren Bevölkerungsschichten oder mit Migrationshintergrund wissen nur lückenhaft über die Herkunft von Lebensmitteln Bescheid.

Für Kinder, die auf dem Lande aufwachsen, gilt dies offenbar noch nicht. Sie halten sich öfter in Gärten, Wäldern und auf Feldern auf, so der "Jugendreport Natur '06". Von 2200 befragten Landkindern der Klassen 6 und 9 gaben immerhin 63 Prozent an, bereits in einem Garten mitgearbeitet zu haben, 16 Prozent sogar auf einem Bauernhof. 17 Prozent haben schon mal gesehen, wie ein Tier geschlachtet wurde. Immerhin 60 Prozent der Landkinder haben Kontakt zu Haustieren. Das Leben in der Stadt dagegen sieht anders aus - Alltagskontakte mit der Lebensmittelherstellung oder mit Nutztieren fehlen.

Damit Kinder überhaupt Kochen lernen, wird vor allem an Hauptschulen Hauswirtschaft als Unterrichtsfach angeboten. Auf dem Stundenplan steht das Zubereiten einfacher Speisen unter Verwendung von Kartoffeln, Zwiebeln und Milch. Doch manche Stadtkinder entwickeln geradezu Berührungsängste mit Lebensmitteln. Birgit E., Hauswirtschaftslehrerin einer 7. und 9. Hauptschulklasse, unterrichtet Mädchen und Jungen in einer niedersächsischen Kleinstadt. Sie berichtet, dass einige ihrer Schüler gar keine Vorstellung haben, wo bestimmte Lebensmittel herkommen. Die Verwendung von keimenden Kartoffeln oder der Anblick von rohem Fleisch löse sogar grundsätzliche Ablehnung bis hin zum Ekel aus. So sei die Zubereitung von Fleisch im Unterricht praktisch unmöglich, wenn die Kinder aufgefordert seien, es dazu anzufassen.


Halbfertig gleich "selbst gemacht"

Von Halbfertigprodukten wie Nudelsaucen oder Tiefkühl-Menüs glauben viele Kinder nach dem Zubereiten, sie seien "selbst" gemacht. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung stellte bereits 1972 fest, dass die meisten Nahrungsmittel überhaupt nur im verarbeiteten Zustand - als "Designer-, Functional-oder Convenience-Food" gegessen werden. Herkunft und Produktionsprozesse von Lebensmitteln bleiben im Dunkeln. Das moderne weltweite Transportnetz führt dazu, dass saisonale Erntezeiten in den Supermärkten kaum eine Rolle mehr spielen. Im Winter kommen die Erdbeeren aus Südafrika und die Äpfel aus Neuseeland. Milch wird aus großen Molkereien quer durch das Land gekarrt. Lebensmittel und ihre natürliche Herkunft sind räumlich und zeitlich immer stärker entkoppelt. Allenfalls an der Höhe der Preise lässt sich erkennen, welches Produkt gerade Saison hat.

Familien mit Kindern nehmen sich immer weniger Zeit für gemeinsame Mahlzeiten. Einer Befragung zu Folge, die an einer Berliner Gesamtschule unter 457 Schülern der 8. bis 10. Klasse durchgeführt wurde, gaben 63 Prozent an, ganz ohne Frühstück in der Schule zu erscheinen. Glaubt man der Dole-Studie aus dem Jahr 1995, so aßen damals im Schnitt 73,3 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 14 Jahren regelmäßig zu Mittag und 77,8 Prozent hatten ein regelmäßiges Abendessen. Heute dürften sich diese Zahlen weiter reduziert haben. Denn viele Kinder kaufen sich ihr Frühstück in der Schule, anstatt Brot und Obst von zu Hause mitzubringen.

Doch es gibt auch Gegenbeispiele. Die Sarah-Wiener-Stiftung nahm die zunehmende Fehl- und Mangelernährung, Essstörungen und Übergewicht bei Kindern aus allen sozialen Schichten zum Anstoß für ihr Programm "Kochen mit Kindern". Im Zentrum der Kochkurse an Schulen in Großstädten stehen neben dem Kochen auch Kommunikation, Teamarbeit und die Schulung der Sinne Riechen, Schmecken und Tasten. Mit dem Kauf von artgerechten und naturnah hergestellten Produkten auf nahe gelegenen Bauernhöfen können Kinder die Herkunft und Verarbeitung dieser Produkte nachvollziehen.


Schulbauernhöfe machen Nutztiere erlebbar

Fragt man Kinder nach dem Leben auf einem Bauernhof, so wirken ihre Antworten oft idealisiert wie aus dem Bilderbuch. Aber woher sonst sollten Kinder ihre Kenntnisse über Kühe, Schweine oder Hühner und deren Bedürfnisse auch beziehen? Tatsächlich wissen die allerwenigsten Bescheid über die Verarbeitung von Lebensmitteln oder gar über die verschiedenen Bewirtschaftungs- und Tierhaltungsformen in der Landwirtschaft. Auch deshalb werden Schulbauernhöfe bei Kindern und Lehrkräften immer beliebter. Bereits im Jahr 2002 erfüllten 724 Betriebe das Kriterium "Lernen auf dem Bauernhof", so eine Studie.

Ob Hofführungen oder Schulbauernhöfe - hier lassen sich der ökologische Pflanzenbau, die artgerechte Tierhaltung und die Verarbeitung von Lebensmitteln hautnah erleben. In Schulgartenprojekten werden eigene Kräuter und Gemüse auf Hochbeeten und Kräuterspiralen angebaut. Spielerisch lernen Kinder, wie man Nisthilfen für Vögel anlegt sowie Hecken, Blumen und Obstbäume pflanzt. Selbst angebauter Salat, Tomaten, Möhren und Kräuter werden nach der Ernte in der Schulküche verwertet.

Der "Lernort Bauernhof" wird mittlerweile konkret in die Lehrpläne mit einbezogen. Allgemeinwissen über landwirtschaftliche Pflanzen, Tiere, Lebensräume und Anbaumethoden steht für alle Schüler der Klassen 5 und 6 auf dem Programm. Die älteren Jugendlichen in den Klassen 7 bis 9 befassen sich mit den Stoffkreisläufen im Boden und in der Nahrungsmittelproduktion. Nebenbei erfahren sie, dass die natürlichen Lebensräume durch menschliche Einflüsse zunehmend gefährdet sind. Auf dem Lehrplan der Gymnasien steht weiteres theoretisches Wissen zum Thema Landwirtschaft. Der biologisch-dynamische Landbau als besondere Form des Öko-Landbau wird Waldorfschülern der 9. Klassen in einer 2-wöchigen Praktikumszeit näher gebracht.

Öko-Landbau und artgemäße Tierhaltung spielen beim Lernen auf dem Bauernhof eine Schlüsselrolle. Auf dem Hutzelberghof bei Witzenhausen in Nordhessen zum Beispiel erleben Kinder in mehrtägigen Kursen, wie Produkte des Öko-Landbaus verarbeitet werden. Sie erfahren, wie aus Milch Quark, Joghurt, Sahne, Butter und Käse entstehen und arbeiten selbst mit. Sie helfen beim Backen von Brot aus Vollkorngetreide, erleben die Verarbeitung von Wolle und lernen, dass Schafhaltung auch einen praktischen Nutzen hat. Die drohende Entfremdung von Kindern in Hinblick auf Lebensmittel und ihre Entstehung sind im Prinzip erkannt. Die Gesellschaft ist dafür verantwortlich, die klaffenden Wissenslücken zu schließen. Und dieser Auftrag geht vor allem an uns Erwachsene, an Eltern und an Lehrer.


79 % der Deutschen wollen eine artgerechte Tierhaltung in der Landwirtschaft, so eine repräsentative Umfrage des Allensbach Instituts (Erhebung Nov./Dez. 2008) im Auftrag der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft DLG. Dies ist ihnen sogar wichtiger als die Garantie für Qualität bei der Fleischproduktion (75 %), die Sicherung der Ernährung in Deutschland (73 %) oder die Nachhaltigkeit bei der Produktion (72 %). Projekte wie der "Lernort Bauernhof" orientieren sich an diesem Wunsch: So erleben Jugendliche hautnah, welche Lebensbedürfnisse Nutztiere haben. Der grausame Alltag in Anlagen der industriellen Tierhaltung findet dagegen selten Einzug in den praktischen Unterricht. Die Missstände der tierquälerischen Intensiv-Tierhaltung und ihre Ursachen dürfen aber nicht durch Bauernhof-Romantik verdrängt werden. Deshalb bleiben die stetige Aufklärungsarbeit und öffentliche Kampagnen von PROVIEH - und ihre Unterstützung durch Spenden und Beiträge - so wichtig.


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Quelle:
PROVIEH Heft 2, Juni, 2009, Seite 6-9
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009