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INTERVIEW/013: Tierrechte human - Fortschritt gemeinsam, Kritik voran ... Matthias Rude im Gespräch (SB)


Verschüttete Traditionen sozialrevolutionärer Bewegungen freilegen

Interview am 8. November 2013 in Hamburg-Eimsbüttel



Als Aktivist der Tierbefreiungsbewegung und Linken hat der Philosoph und Religionswissenschaftler Matthias Rude die historischen Hintergründe einer Tradition erforscht, in der die Befreiung von Mensch und Tier keine einander ausschließenden Ziele darstellen, sondern als universales Element solidarischen Handelns entwickelt wurden. Im Rahmen seiner publizistischen Tätigkeit legte er vor kurzem das Buch "Antispeziesismus - Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken" vor. Am Rande der Herbstakademie der Assoziation Dämmerung, die den praktischen wie theoretischen Fragen dieses Themenkomplexes gewidmet war, beantwortete der Autor dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick: Was hat dich dazu bewogen, das Buch "Antispeziesismus - Die Befreiung von Mensch und Tier in der Tierrechtsbewegung und der Linken" zu verfassen?

Matthias Rude: Ich bin seit Jahren sowohl in der Tierbefreiungsbewegung als auch in der Linken aktiv und habe stets nach einer Verbindung zwischen beidem gesucht. Mir hat vor allem gefehlt, daß es kaum Publikationen über eine linke Tradition gab, die gegen Tierausbeutung argumentiert und die Befreiung von Mensch und Tier zusammengedacht hat. Mir war jedoch bekannt, daß Veröffentlichungen dieser Art existierten. Vor allem die Hamburger Tierrechts-Aktion-Nord (TAN) hat darüber geforscht und einige bemerkenswerte Details wie die Geschichte des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) oder Zitate von Rosa Luxemburg aufgedeckt, aber bisher war das Thema nie in einem Gesamtüberblick dargestellt worden. Diese Lücke wollte ich schließen. Als ich anfing, in diesem Bereich nachzuforschen, veröffentlichte ich zunächst einige kleinere Artikel im Rahmen meiner journalistischen Tätigkeit sowie für die Antispeziesistische Aktion Tübingen, auf die der Schmetterling Verlag aufmerksam wurde. Er fand Gefallen an den Texten und trat mit dem Wunsch an uns heran, zu dem Thema ein Buch in der Reihe theorie.org herausgeben zu wollen. Das Angebot kam für mich genau zur rechten Zeit, da ich ohnehin mit dem Gedanken gespielt hatte, aus meinen Recherchen ein Buch zu machen.

SB: Sind Publikationen im deutschsprachigen Raum im Kontext linke Politik und Tierbefreiung wirklich so dünn gesät?

MR: Der Zusammenhang zwischen Tierbefreiung und linker Tradition ist in einigen Publikationen aus den 90er Jahren marginal angerissen worden, aber mehr nicht. Meistens bezieht sich das auf Zitate von Rosa Luxemburg oder Max Horkheimer. Angefangen, diese Tradition aufzuarbeiten, hat vor allem Susann Witt-Stahl von der TAN im Tierrechtsmagazin Tierbefreiung aktuell, der Vereinszeitschrift von die tierbefreier e.V. Ansonsten gab es in Deutschland ab den 80er Jahren den sogenannten "autonomen Tierschutz", der aus der Autonomenszene heraus Tierbefreiungen nach dem Vorbild der Animal Liberation Front in England durchgeführt hat. Der Verein wurde zur legalen Unterstützung von Tierbefreiungsaktionen gegründet, vor allem, um Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Die damalige TAN hat eine Zeitlang mit der Zeitschrift zusammengearbeitet. Aus dieser Zeit gibt es ein paar Publikationen, in denen gerade auf Traditionslinien in der Kritischen Theorie, auf Leonard Nelson und den ISK aufmerksam gemacht worden ist. Diese Beiträge waren aber ziemlich verstreut und wurden in der Hauptsache szeneintern diskutiert. 2010 hat der Verlag Graswurzelrevolution das Buch "Das Schlachten beenden!" herausgegeben, in dem unter anderem anarchistische und linkssozialistische Traditionen angesprochen worden sind. Dabei wurde auch Bezug genommen auf Clara Wichmann, Leonard Nelson, Elisée Reclus und den ISK. Teilweise habe ich mich auch auf englischsprachige Literatur bezogen, die noch ältere Traditionen aufarbeitet.

SB: Hast du einen akademischen Hintergrund?

MR: Ich habe in Tübingen Vergleichende Religionswissenschaft und Philosophie studiert.

SB: In Tübingen gibt es eine rege Tierbefreiungsszene. Bist du da organisiert?

MR: Ich bin in der Antispeziesistischen Aktion Tübingen tätig. Über diese Verbindung ist der Schmetterling Verlag auch auf mich aufmerksam geworden.

SB: In Tübingen habt ihr gegen Versuche an Primaten protestiert. War der Kampf erfolgreich?

MR: Tübingen forscht als einzige Stadt in Baden-Württemberg noch mit invasiven Methoden an Primaten, und das an gleich drei Instituten. Mit der Kampagne gegen die Affenversuche haben wir im Januar 2009 angefangen. Dazu konnten wir unter anderem "Ärzte gegen Tierversuche e.V." als Bündnispartner gewinnen. Im Rahmen der Kampagne wurden Demonstrationen in Tübingen und Stuttgart veranstaltet, es gab viele unterschiedliche kleinere Aktionen, bundesweit wurden über 60.000 Unterschriften gesammelt. Wir hatten keinen Erfolg in dem Sinne, daß die Versuche abgeschafft worden wären; als kleiner Erfolg wurde zunächst gewertet, daß die Grünen unter dem politischen Druck zur Landtagswahl 2011 die Forderung nach einem Ende von Primatenversuchen in ihr Wahlprogramm aufgenommen haben. Seit sie jedoch Regierungsverantwortung übernommen haben, wollen sie davon nichts mehr wissen. Kurz nach der Bildung der Regierung gab es ein Lobbygespräch, bei dem SPD-Vertreter von den Experimentatoren eingeladen wurden, die Forschungsanlage zu besichtigen. Hinterher hat die SPD der Presse erklärt, daß sie die Versuche an den Primaten jetzt befürworten würde. Bei den Grünen gibt es zwar noch einzelne Parteivertreter, die ihre einstige Forderung ernst meinen, aber sie besitzen in der Partei keine Durchsetzungskraft. Was das Ziel angeht, in Baden-Württemberg Tierversuche mit Primaten abzuschaffen, so gilt ganz klar: Die Sozialdemokraten haben uns verraten, die grüne Partei war mit dabei.

SB: Bei Affen gibt es eine gewisse öffentliche Resonanz. Sie gelten als verteidigenswerte Geschöpfe, bei denen ein Abbruch der Experimente leichter zu propagieren ist als etwa bei Mäusen. Hast du den Eindruck, daß die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für den Kampf gegen Tierversuche generell zugenommen hat?

MR: Wir haben es zumindest geschafft, die Öffentlichkeit auf das Leiden der Tiere aufmerksam zu machen. Gleich nach unserer ersten Demo im April 2009 in Tübingen hatte das ZDF-Magazin Frontal 21 einen Bericht dazu gemacht, der sehr positiv ausgefallen ist. Die letzten Worte des Kommentators lauteten sinngemäß: Es geht um viel Geld, Karrieren und wissenschaftliches Prestige - für die Affen um ein Leben voller Leiden, für die zweckfreie Forschung. Realistisch betrachtet, werden wir unser Ziel, die Versuche abzuschaffen, wohl nicht mehr erreichen können: Das "Zentrum für integrative Neurowissenschaften", in welchem die drei Institute, an denen die Versuche stattfinden, zusammengefasst sind, ist an der sogenannten Elite-Universität Tübingen in der Zwischenzeit zum "Exzellenz-Cluster" geworden, viel zu viel Geld und Prestige hängt also inzwischen an diesen Experimenten. Für uns konzentriert sich in diesem Zentrum Einiges, was wir ablehnen, neben den Tierversuchen etwa Elitarismus sowie Militärforschung - trotz Zivilklausel in der Präambel der Hochschulordnung.

SB: In der Linken gibt es einige Vorbehalte gegen die Tierbefreiungsbewegung. Der letzte größere Streit entbrannte um die Preisverleihung von Peter Singer in Frankfurt, bei der Colin Goldner die Laudatio gehalten hat. Wie kam es dazu, daß ein linker Tierrechtsaktivist wie Goldner Singer an einer derart exponierten Stelle unterstützt hat?

MR: Gegenüber Peter Singer haben wir eine recht klare Position. Zur Preisverleihung haben wir auch eine deutliche Stellungnahme veröffentlicht, in der wir nochmals unterstrichen, daß wir das verurteilen. Colin Goldner hat uns gegenüber argumentiert, daß er sich der Problematik durchaus bewußt war, es aber trotzdem für wichtig hielt, Singer in seinem Engagement zu unterstützen, da er sich im Bereich der Primaten stark einsetzt und des öfteren davon gesprochen hat, den Einsatz für Menschenaffen als "Türöffner" zu benutzen, um eine größere Resonanz für eine Akzeptanz von Tierrechten anzustreben.

SB: Der Komplex Biomedizinkritik und Behindertenunterstützung ist eigentlich ein traditionelles Feld der Linken, das heutzutage aber kaum noch von linken Gruppen begangen wird. Inwieweit müßten aus einer Tierrechtsperspektive zugunsten einer Herrschaftskritik für Mensch und Tier die Bereiche Biomedizin, Life Sciences und die Zurichtung des Menschen auf bestimmte biologische Normen einbezogen werden?

MR: Da gibt es durchaus Zusammenhänge. Hinsichtlich der Zurichtung sind ja Menschen und Tiere gleichermaßen davon betroffen, wie Körper funktionieren sollen, damit sie am besten ausgebeutet werden können.

SB: Wenn Behinderte gegen Singer protestieren, tun sie es aus einem spezifisch menschlichen Interesse heraus. Ihr wiederum übt Kritik an Tierversuchen, was im gewissen Sinne auch eine Kritik an Wissenschaft überhaupt darstellt. Inwieweit läßt sich da ein Bogen schlagen?

MR: Ich glaube, daß sowohl die Linke als auch die linke Tierbefreiungsbewegung vehement gegen solche Positionen, wie sie durch Singer transportiert werden, eintreten muß. Singer wird manchmal zum Vater der Tierrechts- oder gar Tierbefreiungsbewegung stilisiert, was jedoch ganz und gar nicht stimmt. Er hat dieses Thema lediglich in den 70er Jahren populär verkauft, ist aber eigentlich ein utilitaristischer Philosoph. Eine derart bürgerliche Philosophie hat für mich keinerlei linke Ansätze. Das läßt sich an der Art und Weise, wie er argumentiert, leicht erkennen. Er spricht davon, daß die Tierbefreiungsbewegung vergleichbar sei mit der Befreiung der Schwarzen oder der Emanzipation der Frauen. Aber wenn er dann behauptet, daß es bei einer Befreiungsbewegung wesentlich darum ginge, Vorurteile oder Diskriminierungen abzubauen, spiegelt sich darin für mich nur ein bürgerliches Denken wider.

Meines Erachtens muß man das Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis an sich angehen und abschaffen, bevor man darüber redet, ob irgendwelche weiteren Diskriminierungsformen, etwa im Bereich der Linguistik, beseitigt werden müssen. Das ist auch wichtig, aber stellt nicht das primäre Ziel dar. Die Philosophie des Utilitarismus folgt einem Nützlichkeitsprinzip und ist daher für mich nichts weiter als eine Apologie des kapitalistischen Systems. Mit einem linken Ansatz hat das nichts zu tun. Daher hat sich die dezidiert linke Tierbefreiungsbewegung auch nie auf Singer bezogen. Im Gegenteil hat sie ihn von Anfang an verurteilt. Nur im öffentlichen Bewußtsein existiert eine angebliche Verbindung zwischen Singer und den Tierbefreiern. Aus diesem Grund ist es für die ganze Bewegung natürlich kontraproduktiv und problematisch, wenn jemand wie Colin Goldner, der eigentlich der linken Tierbefreiungsbewegung zuzuordnen ist, in einem öffentlichen Forum wieder diese Verbindung herstellt. Das finde ich persönlich sehr schade.

SB: Singer propagiert ein hierarchisches Verhältnis unter Tieren. So sagt er zum Beispiel, daß Hühner aus der Perspektive der Tierrechte durchaus getötet werden können, weil sie nachrangige Geschöpfe seien. Ist ein solches Denken in der Tierrechtsszene nicht nur in Deutschland in irgendeiner Weise wirkmächtig oder wird man, wenn man das soziale hierarchische Denken einfach nur nach unten verlagert, eher als Außenseiter abgestempelt?

MR: Selbst in der bürgerlichen Tierrechtsbewegung gibt es viel Kritik an Singer, die in ihm mehrheitlich gar nicht wirklich einen Tierrechtler sieht. Sein Einfluß rührt daher, daß er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt eine große Öffentlichkeitswirksamkeit verschafft hat. Aber ich bin eigentlich noch gar niemandem begegnet, der seine Ansätze auch wirklich vertritt. Er wird zwar diskutiert, aber eigentlich meistens mit Vorbehalt oder Kritik.

SB: Veganismus ist inzwischen zu einem Trend geworden. Viele Leute bekennen sich dazu. Es müssen nicht unbedingt Tierrechtsgründe sein. Einige tun es wegen ihrer Gesundheit. Neben dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton propagieren auch viele Hollywood-Größen ein veganes Leben. Wie wirkt es sich auf die gesellschaftliche Rezeption der Tierrechte aus, wenn ein veganer Lebensstandpunkt derart zu einem Modethema wird?

MR: Die vegane Lifestyle-Szene an sich ist problematisch, weil sie ein ganz falsches Bild vertritt, denn sie geht davon aus, daß alle nur ihren individuellen Konsum ändern müßten, um das Gesellschaftssystem zu verändern. Dieser Ansatz wurde im 19. Jahrhundert auch von der Lebensreformbewegung propagiert, die auf Selbstreform gesetzt hat, um die Gesellschaft zu verändern. Ich glaube nicht, daß diese Boykottlogik im Kapitalismus funktioniert. Es kann schon deswegen nicht zum Erfolg führen, weil es nicht die Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie widerspiegelt. Problematisch ist zudem, daß dieser verkehrte Ansatz in vielerlei Weise reproduziert wird und als neue Theorie in Erscheinung tritt. Natürlich ist es aus linker Sicht absurd, daß man sich an Prominenten orientiert oder auf die Fitness- und Lifestyle-Bewegung schwört. Ich weiß nicht, ob ich es als Modetrend einschätzen soll, vielleicht spiegelt sich darin trotz allem ein bestimmtes Bewußtsein wider, das insgesamt in der Gesellschaft langsam aufkommt. Eine dezidiert linke Perspektive könnte natürlich versuchen, diese Aufmerksamkeit zu nutzen, um Impulse hineinzusetzen. Möglicherweise wird das zu wenig gemacht. Auch in der Ankündigung auf diese Veranstaltung wird darauf verwiesen, daß man die Chance, jetzt, wo das Thema in der Öffentlichkeit ist, nicht dahingehend nutzt, um auf das Leiden der Tiere aufmerksam zu machen.

SB: Bei Veranstaltungen der linken Szene wird fast immer eine vegane Küche angeboten, so daß man nicht unbedingt den Eindruck hat, als würden Tierrechte oder Tierbefreiung in der Linken marginalisiert werden. Ist denn dieser Gedanke nicht längst schon innerhalb der Linken vorgedrungen?

MR: Daß vegane Verpflegung angeboten wird, hat viel mit der Tierrechtsszene in den 1990er Jahren zu tun. Vor allem die Vegane Offensive Ruhrgebiet, die 1991 gegründet wurde, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in der radikalen Linken Bewußtsein dafür zu schaffen. Mit einem dezidierten Tierbefreiungsgedanken hat das heute aber oft nichts mehr zu tun. Es ist eher so, daß alle mitessen können sollen. Auch in bestimmten Subkulturen, wie zum Beispiel in der Hardcore-Szene, ist Veganismus verbreitet, aber das gehört dann, wie allgemein beim Straight Edge, eher zum Lifestyle dazu und hat oft weniger einen Tierrechtshintergrund.

SB: Besteht nicht die Gefahr, wenn Jugendliche sich eine Art Enthaltsamkeit auferlegen, daß darüber eine neue Moral oder ein neuer Puritanismus eingeführt wird, wie das beispielsweise beim Rauchen zu beobachten ist? Der auf diese Weise transportierte Gesundheitsgedanke dient im Grunde genommen der Verhaltensdisziplinierung, um den Leuten darüber klarzumachen, wenn ihr dieses oder jenes tut, dann mindert das euren Wert als Arbeitskraft. So könnten selbst alternative oder progressive Konzepte einer Konsumverweigerung über den Umweg einer Gesundheitsphilosophie wieder sozioökonomischen Verwertungsinteressen zuarbeiten.

MR: Zu den aktuellen Debatten innerhalb der Hardcore- oder Straight Edge-Szene kann ich nicht viel sagen, weil ich selber nicht darin involviert bin. Ich kenne nur die spezifischen Entwicklungen und Trends aus den 1990er Jahren. So hat vor allem die Hardcore-Szene teilweise eine regressive Entwicklung genommen. Aus den USA kam seinerzeit die Earth First!-Bewegung nach Deutschland, die geradezu primitivistisch argumentiert hat. Ich habe mir Publikationen aus diesem Bereich angeschaut, die teilweise wirklich haarsträubend und fast noch schlimmer sind als die regressiven Strömungen in der Lebensreformbewegung. So wird beispielsweise von der glorreichen Zeit geredet, als der Mensch ein Tiervolk unter anderen war; es ginge darum, wieder zur Stammesgesellschaft zurückzukehren und die Bevölkerungszahl am besten zu reduzieren, um auf diese Weise die Erde zu schützen. Das ist Ideologie und auf jeden Fall nicht fortschrittlich.

SB: In deinem Buch hast du die Lebensreformbewegung, aus der sich unter anderem die Reformhäuser entwickelt haben, als ambivalent beschrieben. Handelte es sich dabei um einen Gesundheitskult oder eine Zurück-zur-Natur-Bewegung, und wie hat sie sich zum bürgerlichen Mainstream verhalten?

MR: Es gibt verschiedene Interpretationen. Einige sehen in der gesamten Lebensreformbewegung eine Reaktion auf die verlorene Revolution von 1848. In diesem Rahmen wird die ganze Bewegung als tendenziell rückschrittlich oder technikfeindlich abgetan, aber das muß man differenziert sehen. Im Endziel waren die Anliegen der Lebensreformbewegung durchaus kongruent mit den Zielen einer sozialistischen Revolution, und es gab auch Strömungen, die man als proletarische Lebensreformbewegung bezeichnen könnte. Meines Erachtens war die Bewegung vom Ursprung her zunächst bürgerlich, aber sie hatte auf die Arbeiterschaft auf jeden Fall einen Einfluß gehabt. Das läßt sich auch an soziologischen Erhebungen erkennen, die damals an Arbeitern gemacht worden sind. Verschiedene Einflüsse reichten noch bis ins 20. Jahrhundert hinein. So hat der Arzt Friedrich Wolf, der KPD-Mitglied und beim Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller tätig war, in seinem Hauptwerk "Die Natur als Arzt und Helfer" eine natürliche Medizin favorisiert, die nicht nur Symptomen begegnen, sondern präventiv-vorbeugend wirken soll. Er hat aber auch betont, daß dies nichts mit einem Zurück-zur-Natur-Denken zu tun hat. Für ihn waren Technik und Vegetarismus kein Widerspruch, beides stelle ein Vorwärtskommen dar. Es gäbe noch einige andere Beispiele, die deutlich machen, daß die Lebensreformbewegung an sich und die Ideen, die damals entstanden sind, auch in linken Kreisen aufgenommen und als Teil einer neuen sozialistischen Kultur verstanden worden sind, die irgendwann in der Zukunft entstehen wird und die man vorwegnehmend zu leben versucht hat.

SB: In dem Buch erwähnst du auch verschiedene Lebensformen wie Monte Verità und Eden, die im Grunde den Kommunegedanken zu verwirklichen versucht haben. Sind dir persönlich Fälle bekannt, bei denen sich Menschen, die vegan leben oder als Tierbefreier aktiv sind, mit Gleichgesinnten zusammentun, um ihr Anliegen gemeinschaftlich zu verfolgen?

MR: Ich glaube nicht, daß dieses Thema wirklich einen zentralen Stellenwert hat. Es gibt bestimmt Lebensgemeinschaften oder Kommunen, die vegan leben, aber mir ist nicht bekannt, daß dies der eigentliche Grund für ihre Existenz ist.

SB: Dein Vortrag auf der Herbstakademie hat "Die Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung und die Linke" zum Thema. Wie siehst du das gegenseitige Verhältnis?

Ich will zum einen die Voreingenommenheiten aus der Linken heraus aufzeigen; natürlich gibt es andererseits auch Vorbehalte aus der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung vor allem gegen die traditionelle Linke. In diesem Sinne läuft viel im autonomen Spektrum. Mein Hauptanliegen ist, deutlich zu machen, daß es in einer langen gemeinsamen Tradition viele Anknüpfungspunkte gibt. Seit es den Kapitalismus und die Tierindustrie gibt, gibt es auch antikapitalistische Proteste gegen Tierausbeutung. Als Marx den Prozeß der ursprünglichen Akkumulation beschrieb, verwies er auf die aufsteigende Tierindustrie, zum Beispiel mit der Entstehung der Wollmanufaktur, indem Ackerland zu Schafweide gemacht wurde und die Gemeingüter privatisiert worden sind. Dieser Prozeß schuf erst die Grundlagen des Kapitalismus und die Masse von Besitzlosen, die ihre Arbeitskraft verkaufen mußten. Für mich war interessant, daß es schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt Leute oder Gruppen gegeben hat, die diesen Zusammenhang gesehen haben. So wurde zum Beispiel zur Zeit des englischen Bürgerkrieges, also Mitte des 17. Jahrhunderts, von bestimmten Personen bereits eine vegane Ernährung propagiert; verbunden war diese Forderung mit dem Klassengedanken. Das zieht sich durch die ganze Geschichte des antikapitalistischen Kampfes. Wenn es mir gelingt, aufzuzeigen, daß Tierbefreiung und linker Antikapitalismus kein Widerspruch sind, sondern dasselbe Ziel verfolgen und sich gegenseitig bedingen, hätte ich mein Anliegen erreicht.

SB: Kann man sagen, daß du mit dem Verweis auf die Geschichte für eine Unterstützung der Tierbefreiungsbewegung aus linken Kreisen wirbst, weil es sowohl ideengeschichtlich als auch von der Lebenspraxis her schon früh Ansätze eines gemeinsamen Interesses gegeben hat?

MR: Genau. Man muß bedenken, daß es sich bei der ab den 1960er Jahren entstandenen Bewegung um eine zweite Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung handelt, eine erste gab es bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es einen Bruch auch im Bewußtsein, nach dem nicht mehr an die erste Wirkungszeit angeknüpft wurde. Diese Tradition wieder auszugraben und für heutige Diskussionen fruchtbar zu machen, finde ich wichtig. Ich habe viele Argumentationsweisen gefunden, die in den 60er, 70er und 80er Jahren erst mühsam wieder erarbeitet werden mußten, obwohl schon alles einmal gedacht worden war. Darüber ist viel Potential verschenkt worden. Wenn diese Tradition früher fruchtbar gemacht worden wäre, wären wir heute vielleicht schon weiter.

SB: Matthias, vielen Dank für das Gespräch.


7. Dezember 2013