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HIPPOS/82: Fluchttier Pferd - zum Weglaufen geschaffen (SB)


Hohe Beine, großes Auge - große Angst


Wer Pferde liebt, tut dies meist auf pragmatische Art. Das heißt, ein junger Mensch, der den auch von vielen als Pferdenarrheit verhöhnten Virus in sich spürt, hat eigentlich kaum eine andere Möglichkeit, den geliebten Wesen nahe zu sein, als sich freiwillig, und natürlich unbezahlt, dem Frondienst im Stall zu unterwerfen. Beim fröhlichen Boxenausmisten, stundenlangem Pferdemähnenentwirren, Striegeln und Hufeauskratzen wird man zwar von den jeweiligen Reitsportunternehmern, die solche Dienste manchmal auch mit freien Reitstunden honorieren, gewissermaßen ausgebeutet, fühlt sich aber dennoch vom Glück gesegnet. Denn der Andrang auf die wenigen dieser "ehrenamtlichen" Stallknechtposten ist groß, und vermutlich wird man von vielen Anwärtern glühend beneidet.

Andere Pferdeverrückte müssen dagegen kilometerweit laufen oder radeln, um schließlich geduldig am Rand einer Weide zu warten, Ponies oder Pferde, die sie oft nicht einmal beim Namen kennen, für ein paar Krauleinheiten mit einem Büschel Gras heranzulocken oder sie einfach nur zu beobachten (wobei man es als echter Pferdefreund dann auch lassen sollte).

Die Faszination, die von den großen in der Sonne glänzenden Kraftpaketen ausgeht und die mit donnernden Hufen oder großen kraftvollen Galoppsprüngen über den Erdboden fliegen, daß jeder abgemessene und ihnen zugestandene Weideraum zu klein erscheinen muß, kann man wohl kaum einem vermitteln, der nicht selbst ein wenig infiziert ist.

Daß ein solcher Ausbund an Kraft, Schönheit und Stärke den nur vergleichsweise schwachen Menschenwurm als Führer und Leittier akzeptiert, ist kaum zu begreifen. Ebenso, daß ein derart großes und wehrhaftes Tier vor harmlosen, am Boden herumliegenden Gegenständen ängstlich zurückschreckt oder gar davor davonläuft. Der Grund für das häufige und vor allem in Reiteraugen meist völlig "unnötige" Scheuen, ist die große, immanente Lebensangst und ständige Fluchtbereitschaft, die das Pferd in jeder ungewohnten Situation in gewaltigen Streß versetzt. Nur in einer vertrauten und gewohnten Umgebung entwickelt ein Pferd die Gelassenheit und Souveränität, die man seinem großen Freund so sehr wünscht.

Reiter, denen Pferde nur Fortbewegungsmittel oder Sportgerät sind, sehen hierin eine Unannehmlichkeit, die aberzogen werden muß. Bedenkt man aber, daß das Pferd in seiner natürlichen Umgebung nur durch sofortige, blitzschnelle Reaktion seinen Feinden entkommen kann - und ohne diese Reaktion vermutlich längst ausgestorben wäre -, begreift man sein Verhalten und wirkt entsprechend beruhigend auf das verängstigte Tier ein.

Das Pferd ist eigentlich ein richtiges "Augentier". Um in der weiten Steppe seiner ursprünglichen Heimat in Eurasien den Überblick zu haben, entwickelte es die größten Augen aller landbewohnenden Säuger. Die beiden Sehapparate liegen so stark seitlich am Kopf, daß ein Pferd fast 360 Grad Rundumsicht hat. Nur genau hinter seinem Rücken oder im toten Winkel direkt vor der Nase sieht es nichts.

Ein Pferd würde deshalb auch nie von Natur aus (es sei denn in höchster Panik und wenn ihm kein anderer Fluchtweg offen bleibt) über ein Hindernis springen, weil es die Gefahr, die möglicherweise hinter dem Hindernis lauert, nicht einschätzen bzw. nicht sehen kann.

Die Größe des Pferdeauges hat allerdings auch einen Preis: Auf der gesamten Netzhaut verteilt sollen pro Quadratmillimeter nur 50 Sehzellen sitzen, was dem Pferd lediglich die halbe Sehschärfe im Vergleich zum Menschen gestattet. Nur in einem schmalen Band in der Mitte der Netzhaut findet man Sehzellen in einer hundertmal größeren Dichte. Das soll ihm die Fähigkeit geben, Gefahren schon sehr früh, d.h. wenn sie gewissermaßen am Horizont auftauchen, zu erkennen. In der Nacht sehen Pferde ebenfalls sehr gut. Farben jedoch nehmen sie nur mäßig wahr, zum Beispiel können sie nicht grün von grau unterscheiden.

Da sich die Gesichtsfelder der beiden Augen nur wenig überschneiden, können Pferde außerdem schlecht Distanzen einschätzen. Die meisten nehmen daher weite Umwege in Kauf, bis sie beispielsweise eine natürliche Brücke über einen schmalen Graben finden, den sie eigentlich mit einem kleinen Satz überwinden könnten.

Für Raubtiere ist das stereoskopische Fixieren lebensnotwendig, da sie schnelle Beute ins Auge fassen müssen. Ein Grasfresser kann auf solche körperlichen Voraussetzungen verzichten. Um Gefahren in der Nähe zu lokalisieren, verläßt dieser sich eher auf sein feines Gehör und den guten Geruchssinn.

Pferde ziehen auf bestimmten Pfaden von einem Ort zum anderen. Sie kennen diese Wege genau und registrieren jede Veränderung. Tauchen jedoch unverhofft Gegenstände auf, die beispielsweise das Leittier weder riechen noch hören und schon gar nicht richtig optisch erfassen oder einordnen kann, reagiert es alarmiert, was sich auf den Rest der Herde überträgt. Scheuen, Laufen oder sogar panikartige Flucht sind dann oft die Folge.

Ein Reiter ist daher auf dem Pferderücken nie wirklich vor Überraschungen sicher. Sicher werden mir hier viele widersprechen und von der Verläßlichkeit ihres Tieres überzeugt sein. Man sollte sich aber angesichts dieser ganz natürlichen Voraussetzungen nie vollständig darauf verlassen, sondern gerade als Reiter aufmerksam sein, den Weg im Auge haben und jedes unbekannte Objekt möglichst früher entdecken als das eigene Pferd, um ihm durch die eigene Haltung und Stimme vermitteln zu können: "Es ist alles in bester Ordnung." Je größer das Vertrauen zwischen Reiter und Pferd, desto eher verzichtet das Pferd auf seinen natürlichen Fluchtreflex.

Pferde können sich auf ihre Schnelligkeit meistens verlassen. Bei einer Tierolympiade würden sie zwar nicht Gold holen. Für den Sprinter Weltrekord der Menschen von 9.93 Sekunden über 100 m haben sie jedoch nur ein müdes Lächeln übrig, ein Vollblüter ist etwa doppelt so schnell!

Noch überlegener sind uns Pferde auf Marathondistanzen (42,2 Kilometer). Vor allem Araberpferde und die athletischen Achal-Tekkiner laufen auf Langstrecken rund dreimal schneller als die besten menschlichen Marathonläufer.

Während jedoch der Mensch seine Leistung in den Laufdisziplinen immer noch zu verbessern scheint (der Weltrekord im Marathon lag vor 50 Jahren noch bei 2 Stunden 35 Minuten, 1999 lief Khalid Khannouchi die über 42 Kilometer lange Strecke in weniger als 2 Stunden 6 Minuten; über die Distanz von 1500 Meter erfolgte eine ähnliche Leistungssteigerung von 3 Minuten 50 Sekunden auf 3 Minuten 26 Sekunden), ist es im Pferdesport ganz anders.

1964 gewann "Northern Dancer" das Kentucky-Derby in 2 Minuten. Seither lief nur "Secretariat" schneller - er gewann 1973 in 1 Minute 59 Sekunden. Und dies ist möglicherweise nur ein Erfolg verbesserter Meßtechnik. Auch beim Epsom Derby sind die Siegerzeiten heute in etwa dieselben wie schon vor 70 Jahren. Zwar haben Rennstallbesitzer, Pferdetrainer und Veterinäre in neuerer Zeit enorme Anstrengungen unternommen, auch die Leistungen ihrer Spitzentiere zu steigern - doch ohne Erfolg.

Schnelligkeit und Ausdauer waren für die Entwicklung der Pferde lebensnotwendig. Ohne diese Fähigkeiten wären sie längst ausgestorben. Der Körperbau des Pferdes ist zum Laufen prädestiniert und somit eigentlich nicht mehr zu verbessern. Das Steppenleben hat dem Pferd im Lauf seiner Entwicklung für die Flucht vor Feinden und für die weiträumige Suche nach Futter ordentlich lange und sehnige Beine gemacht, und das optimal:

Abgesehen von der Länge der Beine besteht die Auflagefläche der Füße nur aus den kleinen harten Hufen. Die kraftvolle Muskulatur, mit welcher der Schwung mit Sehnen auf die Beine übertragen wird, sitzt nicht störend an den Beinen, sondern dicht am Rumpf. Der langgestreckte Hals soll sich ideal zur Erhaltung des Gleichgewichtes eignen und nach Ansicht mancher Hippologen als eine Art Balancierstange eingesetzt werden. Wer ein Pferd im gestreckten Galopp beobachtet, sieht allerdings, daß dies für den Bewegungsablauf sehr umständlich wäre, das Pferd scheint den Hals eher zum Schwungholen für den nächsten Galoppsprung zu verwenden.

Der maximale Stoffwechselumsatz eines Pferdes ist fast viermal so groß wie bei anderen Tieren vergleichbarer Körpergröße. Der Brustkorb ist besonders ausgeprägt, damit die leistungsfähigen Lungen und ein starkes Herz darin Platz finden. Die innere Oberfläche der Lunge, über die das Blut mit Sauerstoff versorgt wird, ist bei einem Warmblutpferd 2500 Quadratmeter groß, beim Menschen sind es ganze 90 bis 150 Quadratmeter. Das Herz eines Pferdes wiegt im Durchschnitt 3 kg, bei Vollblutpferden bis über 5 kg.

Selbstverständlich spielt die Geschwindigkeit für Pferde in offenen Steppen- und Wüstenlandschaften eine bedeutend größere Rolle als für ihre Verwandten, die in versteckreichen nordischen Tundren und Taigawäldern lebten. Die Nachfahren dieser Urwildpferde aus der Kälte, die Nordponys und Kaltblüter, haben daher einen weit weniger auf Schnelligkeit ausgerichteten Körperbau und auch einen weniger verschleißintensiven Stoffwechsel.

Vollblutpferde mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 70 Stundenkilometern sind hingegen ebenso schnell wie Antilopen. Ein Gepard läßt mit seiner Geschwindigkeit von 120 zwar jedes Pferd stehen. Doch die superschnelle Katze ist nach einer relativ kurzen Strecke von 400 Metern schon fix und fertig und muß sich mindestens eine Viertelstunde im Schatten abkühlen. Ein Pferd dagegen bleibt zwölf Stunden lang ohne größere Pausen (im wahrsten Sinne des Wortes) auf Trab und bewältigt in dieser Zeit auch noch eine Strecke von etwa 160 Kilometern.

Sein Lauftalent verdankt das Pferd nicht zuletzt den besonderen Beinen. Für ein Fluchttier hat eine Beinverletzung daher in der Regel katastrophale Folgen. Seine eingeschränkte Lauffähigkeit wird von Raubtieren meistens sehr bald erkannt und ihm damit zum Verhängnis.

Deshalb sind die Beine des Pferdes eigentlich von Natur aus äußerst widerstandsfähig. Ein Wildpferd verletzt sich auch bei panikartiger, rasender Flucht in rauhem Gelände höchst selten an den Beinen.

Trotzdem treten gerade bei Haus- und Sportpferden häufig Verletzungen an den Beinen auf. Das liegt zum einen an dem höheren Wuchs von Hauspferden (im Durchschnitt um 35 cm höher als Wildpferde). Je länger die Beine, desto größer wird der Schritt. Die längeren Beine bilden aber gleichzeitig auch größere Hebel und sind damit stärkeren Belastungen ausgesetzt. Gleichzeitig müssen die Pferdebeine zum Erzielen hoher Geschwindigkeiten schlank und leicht gebaut sein, weshalb sich das Pferd im Verlauf seiner Entwicklung zu einem regelrechten Spitzentänzer entwickelt hat. Es steht nur auf der mittleren Zehe, dessen Zehennagel zum Huf geworden ist.

Was die Beine allerdings besonders schnell macht, läßt sie unter Belastung wiederum leicht anfällig werden: So muß das Pferd nicht mehr die ganze Fußsohle umständlich aufsetzen, sondern nur noch den Zehennagel. Schlägt dieser, besser der Huf, kurz auf den Boden, spannen sich die speziellen Gelenkbänder an den Vorder- und Hinterläufen des Pferdes wie Federn. Dadurch wird nicht nur der Aufprall des Hufs gedämpft, sondern auch Schwung für den nächsten Absprung vom Boden geholt. Damit sich der vergleichsweise mächtige Körper beim Laufen möglichst wenig auf und ab bewegt (was die Vorwärtsbewegung bremsen würde), knickt das Pferd in der Schrittmitte die Fußgelenke extrem stark ein. Der Reiter kann daher selbst beim Galopp relativ ruhig im Sattel sitzen bleiben, was das Pferd als Reittier und Fortbewegungsmittel früher so attraktiv machte. Während die zarten Pferdebeine wirbeln, sitzt der Reiter gemütlich und bequem.

Besonders deutlich wird das beim Tölt der Islandpferde, doch das ist eine andere Geschichte.

Daß Pferde vom Menschen zum Reiten "mißbraucht" werden, ist der zweite Grund, warum Hauspferde häufiger als Wildpferde Verletzungen an diesen empfindlich gewordenen Körperteilen davontragen.

Zwar wäre die menschliche Last für das Pferd weiter nicht schlimm, wenn es damit nicht auch noch über Hindernisse springen müßte, was es, wie schon gesagt, freiwillig nie tun würde. Weitaus die meisten Verletzungen entstehen auf Spring- und Military-Parcours.

Läßt man einem Pferd die freie Wahl, wählt es fast immer eine Marschgeschwindigkeit um die fünf Kilometer pro Stunde. Bei diesem Tempo sollen seine Beine laut einem Bericht der populärwissenschaftlichen Zeitschrift natur&kosmos vom August 2001 genau im natürlichen Rhythmus eines physikalischen Pendels der gleichen Länge und Masse schwingen und das Tier so am wenigsten Energie verbrauchen. Geht es die gleiche Strecke mit der halben Geschwindigkeit, steigt der Energieaufwand auf das Doppelte. Das Pferd muß das Schwingen seiner Beine dann sozusagen abbremsen.

Auch für die oben erwähnte Leistungsbegrenzung bei der Geschwindigkeit von Sportpferden wurde in diesem Bericht eine Erklärung vorgeschlagen, die noch zu überprüfen wäre, auch wenn sie zunächst plausibel klingt:

Ein galoppierendes Pferd braucht für seine Muskeln viel Sauerstoff, was eine tüchtige Pumpe nötig macht. Um seine Lungen optimal zu betreiben, nutzt das Pferd einen Zusatzmechanimus. Während etwa im menschlichen Körper der Arm über das Schlüsselbein mit dem Oberkörper verbunden ist, fehlt dieser Knochen beim Pferd. Seine Vorderbeine sind direkt mit kräftigen Muskeln an die Rippen gekoppelt. Schlagen die Vorderbeine beim Galopp kräftig auf den Boden, drückt der Aufprall die Rippen nach oben und quetscht so verbrauchte Luft aus den Lungen.

Einen halben Schritt später reißt das Pferd Kopf und
Hals in die Höhe, was die Vorderbeine entlastet, den
Brustkorb dehnt und die Lunge wieder füllt.

Dieser Pumpmechanismus läßt das Pferd pro Galoppschritt genau einmal atmen. Je schneller es nun seine Beine bewegt, desto mehr Sauerstoff pumpen die Lungen ins Blut.
(natur&kosmos August 2001)

Und dieser Leistungsregler begrenzt letztlich auch die Möglichkeiten des Pferdes, denn kein Training auf der Welt kann ein Rennpferd schneller atmen lassen, als es Schritte macht.

Darüber hinaus mußten die Forscher feststellen, daß kein Pferd seine "Energiereserven" optimal ausnutzt. So geht es schon bei einem Tempo von sechs oder sieben Stundenkilometern vom Trab in den Galopp über, obwohl der Aufwand des Galoppierens etwa 10 Prozent größer ist. Diese aus menschlicher Sicht vermeintliche Verschwendung hat jedoch einen guten Grund: Muskeln und Knochen werden durch den frühzeitigen Wechsel zur Galoppgangart genau um diese 10 Prozent weniger strapaziert, so daß Verletzung und damit Abnutzung entsprechend verringert werden.

Höchstleistung ist eben nicht alles für ein gesundes Pferd. Und es läßt sich vorstellen, welche Qualen und welchen Streß Pferde durchleiden, die z.B. im Trabrennen oder im Springsport immer wieder dazu getrieben werden, ihre natürlichen Instinkte, Gewohnheiten und Ängste zu durchbrechen, um dem Menschen als Sportgerät zu Diensten zu sein.

Erstveröffentlichung 2002
neue, überarbeitete Fassung
31. März 2008