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VETERINÄR/224: Pflichtimpfung gegen Blauzungenkrankheit - ja oder nein? (PROVIEH)


PROVIEH Heft 4 - Dezember 2008
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Pflichtimpfung gegen Blauzungenkrankheit - ja oder nein?

Von Sabine Zentis und Sievert Lorenzen


Seit 2006 ist in Mitteleuropa eine Tierseuche aufgetreten, die Wiederkäuer, vor allem Schafe, Ziegen und Rinder befällt: die Blauzungenkrankheit (englisch: Bluetongue, kurz BT). Diese Tierseuche wurde erstmals in Südafrika festgestellt und tritt fast weltweit auf. BT ist nicht ansteckend, wohl aber übertragbar durch Gnitzen (kleine Mücken) der Gattung Culicoides. Da Gnitzen fast nur in den frostfreien Monaten aktiv sind, wird BT nur in dieser Zeit übertragen. Der übertragene Krankheitserreger ist das Blauzungen-Virus (kurz: BTV). Mindestens 24 Serotypen sind bekannt, von denen in Mitteleuropa zunächst nur BTV-8 aufgetreten ist. Doch im Oktober 2008 wurde in den Niederlanden BTV-6 entdeckt und breitete sich bis November 2008 nach Niedersachsen aus. Von Südwestfrankreich breitet sich BTV-1 nach Norden aus. BT ist die erste schwere Tierseuche, die in der Europäischen Gemeinschaft nicht durch Keulen (unblutiges Töten) von Tierbeständen bekämpft wird, sondern durch Impfungen. Das ist ein Sieg für den Nutztierschutz, denn das Keulen hatte allein einen marktwirtschaftlichen Grund: Aufhebung von Exportsperren.

Die Impfungen sind Pflicht. Vor allem Biobauern, die in Verbänden wie Demeter und Biokreis ökologischer Landbau organisiert sind, plädieren für Freiwilligkeit. Wie üblich in solchen Fällen gibt es also ein Für und Wider, das einer umsichtigen Abwägung bedarf. Dieser Aufgabe hat sich unser Mitglied Frau Sabine Zentis aus unserem Arbeitskreis Tierseuchen gewidmet und ist zum Schluss gekommen, dass Pflichtimpfungen angemessen sind. Die Erwägung wird im Folgenden in Frage-Antwort-Form dargestellt.

Frage: Vermutlich werden die Landwirte 2009 wieder mit der Pflichtimpfung gegen die Blauzungenkrankheit konfrontiert, diesmal gegen BTV-1, das aus Frankreich langsam näher rückt.

Antwort: Bisher ist auch für 2009 eine Pflichtimpfung gegen BTV-8 vorgesehen, das seit 2006 in Deutschland zirkuliert. Ausnahmslos alle Wiederkäuer sollen geimpft werden. Seit 2008 jedoch breitet sich von Südwestfrankreich BTV-1 in nördlicher Richtung aus. Die Behörden haben Kontakte mit den Impfstoffherstellern aufgenommen um zu klären, ob und wieviel Impfstoff gegen BTV-1 zur Verfügung gestellt werden könne. Dieser Impfstoff würde nach heutigem Stand aber nur zum Einsatz kommen bei einem von BTV-1 erzeugten Ausbruch.

Frage: Können Sie aus tierärztlicher Sicht die Impfung empfehlen, obwohl eine natürliche Immunisierung angeblich möglich ist?

Antwort: Eine "natürliche Immunität" ergibt sich logischerweise als Folge einer Infektion mit anschließender Erkrankung. Daher ist die Impfung immer vorzuziehen, vor allem bei einer so schweren Krankheit wie BT, die nicht nur Todesfälle verursacht hat, sondern auch schwere, überaus schmerzhafte Leiden. Zu den Folgeschäden gehören die Geburt missgebildeter oder toter Kälber, massive Klauenprobleme und eine erhöhte Anfälligkeit für Sekundärinfektionen. Zu den wirtschaftlichen Schäden gehören Milchrückgang, starke Verzögerungen in der Entwicklung der Tiere und erhebliche Arbeitsüberlastung bei der erforderlichen Pflege der erkrankten Tiere. Erwiesenermaßen führte der so erzeugte Druck zu einigen Verstöße gegen das Tierschutzgesetz. Impfung ist das einzige Mittel, die vielfältigen Leiden zu verhindern.

Frage: Begrüßen Sie die Impfungen mit Impfstoffen, die vermutlich über Jahre hinweg kein ordentliches Zulassungsverfahren durchlaufen?

Antwort: Was heißt ordentliches Zulassungsverfahren? Die einzelnen Komponenten der Impfstoffe wie Adjuvantien und Lösungsmittel werden seit Jahren bei anderen Impfstoffen mit großem Erfolg eingesetzt. Die Impfstoffe unterscheiden sich einzig und allein im Antigen, d.h. dem abgetöteten Erreger, der eine Immunität gegen die Krankheit herbeiführen soll. Diese Komponenten sind seit Langem weltweit zugelassen und erwiesenermaßen wirksam und unschädlich.

Frage: Wie schätzen Sie die Impfsituation ein: Fluch oder Segen? Schließlich berichten Landwirte auch von Impfschäden.

Antwort: Die bisher als Impfschäden gemeldeten Vorfälle wie Todesfälle, Verkalbungen oder Allgemeinerkrankungen konnten überwiegend auf andere Ursachen zurückgeführt werden. In den meisten Fällen handelte es sich um Krankheiten, die schon vor der Impfung in den Betrieben auftraten oder latent vorhanden waren. Eine Impfung bedeutet immer Stress, und dann manifestieren sich auch vorher vorhandene Krankheiten. Es sind extrem wenige Fälle von allergischen Reaktionen (anaphylaktischer Schock) auf den Impfstoff vorgekommen. Diese Reaktionen sind im Tier selbst begründet und nicht im Blauzungenimpfstoff. Diese Tiere würden auf jeden Impfstoff reagieren.

Frage: Wie beurteilen Sie es, dass die Bullen auf Besamungsstationen von der Impfpflicht befreit werden?

Antwort: Bei dem in der EU eingesetzten Impfstoff handelt es sich um einen inaktivierten "Totimpfstoff", der keinerlei Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit von männlichen Zuchttieren und somit der Bullen auf den Besamungsstationen hat. Die Ausnahmeregelung für Besamungsstationen beruht einzig und alleine darauf, dass bestimmte Exportländer bei Sperma darauf bestehen, dass die Besamungsbullen antikörpernegativ für das Blauzungenvirus sind, also weder an BT erkrankt waren noch gegen BT geimpft wurden. Man muß ferner bedenken, dass die Besamungsstationen viel bessere Möglichkeiten haben als der "normale" Landwirt, ihre Bullen vor Gnitzen zu schützen. Wenn die Bullenhaltung tatsächlich 100% gnitzengeschützt ist, können sie nicht an der Blauzungenkrankheit erkranken und sind somit epidemiologisch nicht von Bedeutung.

Frage: Ein Impfschutz ist erreicht, wenn 80 % der empfänglichen Tiere geimpft sind: Demzufolge könnten 20 % der Tiere eine Ausnahmegenehmigung erhalten, und das Prinzip der Freiwilligkeit könnte für die Impfung zugelassen werden.

Antwort: Das ist nicht richtig so, denn es gibt genügend Wildtiere wie Rehe, Hirsche oder Muffelwild, die ebenfalls empfänglich für die Krankheit sind und als Erregerreservoir dienen. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine 100% Impfung von Nutztieren anzustreben. Man darf auch nicht vergessen, dass z.B. die im Frühjahr geborenen Kälber zunächst über die Antikörper der Biestmilch geschützt sind und nach deren Abbau nach ca. 3 Monaten für das Virus empfänglich sind. Auch bei hoher Impfdichte wächst also in jedem Jahr ca. 1/3 der Population ungeschützt heran. Logischerweise hängt die Zeitspanne der Impfkampagne davon ab, wie viele empfängliche Tiere durch Impfung geschützt sind. Einfach gesagt: Je weniger Tiere geschützt sind, desto länger muss geimpft werden.

Frage: Macht es Sinn, dass die Kreisveterinärämter Ausnahmegenehmigungen sehr unterschiedlich handhaben? (z.B. Gefährdungspotential bei behornten Fleischrindern).

Antwort: Unter Seuchenbekämpfungsaspekten macht das überhaupt keinen Sinn. Doch die Ausnahmeregelungen wurden sozusagen im Vorfeld erlassen, als noch nicht gesichert war, dass genügend Impfstoff produziert werden könnte. Insofern ist diese Entscheidung nicht wissenschaftlich, sondern politisch begründet. Ab 2009 wird es diese Ausnahmeregelungen nicht mehr geben.

Insgesamt gesehen sind die Argumente gegen eine Impfung sehr erschreckend. Gerade wenn Tiere artgerecht auf Stroh und mit Weidegang gehalten werden, sind sie den Gnitzen besonders stark ausgesetzt. Erwiesenermaßen sind Tiere, die in Ställen an der Kette oder auf Spalten dahinvegetieren, wesentlich weniger von der Blauzungenkrankheit befallen worden als Rinder, die artgerecht gehalten werden.

Unter all diesen Aspekten ist eine Pflichtimpfung in jedem Falle zu befürworten, auch für Tiere in Biobetrieben, denn eine kranke Biokuh leidet genauso wie ihre "konventionelle" Kollegin, verursacht dem Landwirt Schaden und schadet dem Ansehen der ökologischen Landwirtschaft.


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Quelle:
PROVIEH Heft 4, Dezember, 2008, Seite
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2009