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INTERVIEW/036: Mexikospektive - Re-Import der Werte ...    Ricardo Braojos im Gespräch (SB)


"Crossover Identities" - Der Mexikaner in der Fremde

Interview mit Ricardo Braojos am 2. März 2017 in Hamburg


Begleitet wurde das Theaterfest "Kontext Mexiko" anfang März auf Kampnagel von einem von der deutsch-mexikanischen Choreographin Yolanda Gutiérrez gestalteten Rahmenprogramm "Mexican Spirit". Vor den eigentlichen Aufführungen fanden jeden Abend in einem Wrestling-Ring sowie auf einer Bühne mit gesellschaftlich engagierten Mexikanern, darunter Filmemacher, Journalisten und Menschenrechtler, Gesprächsrunden statt, die den Besuchern einen tieferen Einblick in die politische und kulturelle Realität in Mexiko gewährten. Am 2. März diskutierte unter dem Stichwort "Crossover Identities" der 1965 in Mexiko-Stadt geborene Regisseur Ricardo Braojos über die poetisch-reflektiert erzählte Filmtrilogie, die er vor einigen Jahren über das traditionelle Gitarrenspiel Mexikos gedreht hatte, bei der es vor allem aber über das Thema Migration und das Verhältnis mexikanischer Einwanderer zum Land ihrer Vorfahren bzw. zu ihren kulturellen Wurzeln geht. Etwas später am selben Abend stellte sich Braojos den Fragen des Schattenblicks.


Ricardo Braojos diskutiert beim 'Mexican Spirit' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ricardo Braojos
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Herrn Braojos, bitte erzählen Sie uns, wie Sie zum Film gekommen sind und warum Sie sich in Spanien niedergelassen haben.

Ricardo Braojos: Mein 13 Jahre älterer Cousin studierte Film in Mexiko-Stadt. Ich habe bei zwei kleinen Filmen, die er noch an der Hochschule drehte, geholfen. Das war der Einstieg. Als ich später selbst zur Universität ging, studierte ich zunächst Soziologie. Noch während meines ersten Trimesters fing mein Vetter mit der Dreharbeit zu seinem ersten Spielfilm an. Ich habe da nebenher als Produktionsassistent mitgemacht. Im Laufe der Arbeit am Set mußte ich feststellen, daß Film mich vielmehr interessierte als Soziologie. Also habe ich das Fach gewechselt und mich ebenfalls auf der Filmhochschule in Mexiko-Stadt eingeschrieben. Dort gerieten ich und der damalige Dozent für Dokumentationen, der auch der Schulleiter war, aneinander. Darum habe ich dort nichts über das Drehen von Dokumentarfilmen gelernt. Dessen ungeachtet mache ich inzwischen seit 15 Jahren Dokumentationen.

SB: Warum sind Sie nicht wie Ihr Cousin beim Spielfilm geblieben? Was hat Sie zum Dokumentarfilm hingezogen?

RB: Ich habe schlicht für solche Projekte die Finanzierung bekommen können. Ich hätte nichts dagegen Spielfilme zu drehen, aber die Dokumentationen laufen gut und machen mir Spaß, also von daher bin ich mit der momentanen Situation voll zufrieden.

SB: Was brachte Sie nach Spanien?

RB: Ich lebe mit meiner Familie seit einem Jahr in Spanien. Wir sind nach Europa wegen der katastrophalen Sicherheitslage in Mexiko gezogen.

SB: In welchem Teil von Mexiko wohnten Sie zuletzt?

RB: In der Stadt Xalapa im Bundesstaat Veracruz. Ich habe zwei Söhne, jeweils zehn und 17 Jahre alt. Die Situation für junge Leute derzeit in Mexiko ist schrecklich. Viele Menschen, darunter nicht wenige Jugendliche, werden verschleppt - sie "verschwinden" einfach.

SB: Gestern Abend auf Kampnagel hat ihr ältester Sohn Emilio einen Kurzfilm präsentiert, in dessen Schlußszene drei Jugendliche, nachdem sie zuvor eine Hausfete besucht haben, nachts auf offener Straße von bewaffneten Männern in den Kofferraum eines Allradwagens hineingezwungen und weggefahren werden. Es gab in dem Film bis dahin nichts, was vielleicht erklärt hätte, warum die drei Freunde verschleppt wurden. Der Außenstehende könnte angesichts der Vorgänge in Mexiko denken, daß die Entführten wegen Erpressungsgeld verschleppt wurden oder weil sie, wie im Falle von Journalisten und Behördenvertretern, irgendwie den Drogenkartellen in die Quere gekommen waren. Im Film fehlt ein Motiv für das Verbrechen völlig. Es war, als wurden die Jugendlichen grundlos entführt. Können Sie uns das vielleicht erklären?

RB: Ich bin ebenfalls der Meinung, daß niemand ohne Motiv verschleppt wird. In vielen der Entführungsfälle in Mexiko weiß aber niemand, was der eigentliche Grund ist. Die meisten Mexikaner gehen aber davon aus, daß der von den Behörden genannte Grund meistenteils falsch ist. Seit dem offiziellen Beginn des Antidrogenkrieges in Mexiko, Operation Merida, im Jahr 2006, schieben die Behörden, wann immer ein schlimmes Verbrechen geschieht, den Opfern die Verantwortung zu, als seien diese an ihrem grauenhaften Schicksal selbst schuld, als hätten sie es verdient, ermordet oder verschleppt zu werden. Alle wissen, daß das nicht zutrifft. Bei einem Teil der Verschleppungen geht es um Lösegeld. Bei einem anderen Teil werden junge Männer entführt und mit der Wahl konfrontiert, selbst Bandenmitglieder oder getötet zu werden.

SB: Also verschaffen sich die Drogenkartelle neue Rekruten mittels Entführung?

RB: Bei Jungs ist es so. Bei Mädchen und junge Frauen geht es um Prostitution. Nicht wenige der Vermißten werden wegen ihrer Organe verschleppt und ermordet.

SB: Also geht es auch um den illegalen Organhandel?

RB: Ohne Zweifel. In dem Film meines Sohn waren die drei Jugendlichen zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Damit sollte deutlich gemacht werden, daß es jeden treffen kann.

SB: Bezog sich die Handlung des Films auf einen konkreten Fall, etwa im Freundeskreis ihres Sohnes?

RB: Nein. Die Stärke des Films besteht gerade darin, die schier unglaubliche Alltäglichkeit solcher Vorfälle in Mexiko zu zeigen. Es kann wirklich jeden treffen, von einem Moment auf den nächsten.


Ricardo Braojos erläutert mit Mikrophon in der Hand - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Momentan ist in Europa die Einwanderung ein großes Thema. Dasselbe gilt bekanntlich in den Beziehungen zwischen Mexiko-Stadt und Washington, seit Donald Trump angekündigt hat, als US-Präsident eine riesige Mauer zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Mexiko bauen zu wollen. Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie mit Ihrer Familie praktisch von Mexiko nach Spanien emigriert. War es schwierig?

RB: Meine Mutter stammt aus Spanien. Ich und meine Söhne hatten das Recht auf die spanische Staatsbürgerschaft. Also war es das Land, wo wir am einfachsten hin auswandern konnten. Der Anlaß für mich, Mexiko zu verlassen, war folgender: Mein Sohn, Emilio, interessiert sich seit Jahren fürs Filmgeschäft. 2015 sagte er mir, er würde gern einen Kurzfilm drehen, und fragte, ob ich ihm helfe. Ich sagte zu unter der Bedingung, daß er garantiert, mindestens vier Schulfreunde beim ersten Workshop dabei zu haben, denn das sei meiner Meinung nach das Minimum an Darstellern, die man braucht, um einen Spielfilm zu realisieren. Eines Tages während der Vorbereitungen gab er mir das Drehbuch zum Lesen. Als ich feststellte, daß es in der Handlung um die Entführung mehrerer Jugendlicher seines Alters ging, war mir klar, daß ich Mexiko verlassen mußte, um die Sicherheit meiner Familie zu gewährleisten. Es war nicht so sehr die Bedrohungslage, die ich in dem Moment erkannte, als vielmehr die Alltagsrealität meiner Kinder, die unter solchen Umständen aufwachsen mußten. Das wollte ich ihnen dann nicht mehr zumuten.

SB: In Ihrer Filmtrilogie über das mexikanische Gitarrenspiel und seine teilweise Neuentdeckung durch die Gemeinde der mexikanischen Einwanderer in die USA und deren Nachkommen war das Bild Amerikas bzw. Kaliforniens sehr stark durch Autokultur mit den vielen Highways et cetera geprägt. Läßt sich das Interesse seitens der Nachkommen mexikanischer Einwanderer in den USA an Mariachi und anderen Gitarrenspielformen, ähnlich der britischen, irischen und nordamerikanischen Folkmusik-Bewegungen der 50er und 60er Jahre, unter anderem durch die Sehnsucht nach einer einfachen, weniger industrialisierten Welt, in der die Gemeinde und nicht das Individuum im Mittelpunkt steht, erklären?

RB: Die Wiederbelebung trifft nicht für die Mariachi zu, sondern für den Son Jarocho, die traditionelle Musik der Region Veracruz.

SB: Aber steht nicht Julian Gonzalez als letzter Vertreter der alten Mariachi im Mittelpunkt der Trilogie?

RB: Nein. Er war lediglich am Anfang und am Ende der Vorführung der verschiedenen Ausschnitte aus den drei Filmen heute abend präsent. Um die Mariachi steht es derzeit nicht gut. Eigentlich stirbt er langsam aus. Son Jarocho dagegen ist richtig populär geworden in den letzten Jahren. Um seine Entwicklung geht es im zweiten der drei Filme.

Mariachi und Son Jarocho sind traditionelle Musikformen, die über die Jahrhunderte von den einfachen Menschen auf dem Land gepflegt wurden. Beide wurden von den Behörden zu regionalen bzw. nationalen Symbolen und wichtigen Komponenten des Kulturerbes erhoben. Dadurch wurden sie stark kommerzialisiert sozusagen auf Markttauglichkeit getrimmt. Diese Entwicklung beginnt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und setzt sich bis heute fort. Bei der Mariachi kann man praktisch nicht mehr ohne riesigen Sombrero und diese schwarzen Uniformen auftreten. Doch die Kostümierung hat mit der ursprünglichen Mariachi nichts zu tun. Sie ist ihr künstlich aufgesetzt worden. Das gleiche gilt für die Trompete. Mariachi spielten früher einfache Bauern auf Dorffesten oder wenn sie sich abends trafen. Erst später kamen die Berufsmusiker, die Kostüme, die Trompeten et cetera. Die Mariachi wurde zu einer lauten, bunten Musikform, bei der viele Musiker als Truppe spielen. Ursprünglich war sie eine viel kleinere Angelegenheit, gespielt von höchstens drei oder vier Männern an Gitarren. Heute gibt es Mariachi nur noch in der modernen, überladenen Version. In Mexiko ist es wirklich schwer, echte traditionelle Mariachi zu finden.

Eugene Rodriguez, der 1994 in San Pablo, nahe San Francisco, das Los Cenzontles Mexican Arts Center gründete, das später in die Kunstakademie Los Cenzontles umbenannt wurde, hat die Filmtrilogie produziert. 2003 hat er mich kontaktiert und gefragt, ob ich nicht für ihn einen Film über Mariachi drehen könnte. Damit hat alles angefangen. Es wurden schließlich drei Filme - zwei über Mariachi und einer über Son Jarocho. Am Anfang war ich vom Vorschlag nicht besonders angetan. Wie die meisten Mexikaner war die einzige Mariachi, die ich kannte, die kommerzielle Version, und für die habe ich wenig übrig. Aber was soll's - es war halt ein Job. Um so überraschter war ich, als ich wenige Tage vor Drehbeginn feststellte, hier ging es nicht um die Mariachi, die ich nicht mag, sondern um eine mir bis dahin unbekannte, ursprüngliche Version ohne das ganze kommerzielle Drumherum.

Die Menschen in Jalisco, dem Bundesstaat im Westen Mexikos, wo die Mariachi ursprünglich herkommt, waren über den Film sehr glücklich. Sie haben sich bei mir dafür bedankt, die echte Mariachi wieder aus der Versenkung geholt und der breiten Öffentlichkeit vorgestellt zu haben. Dennoch sind die Filme kein Indiz für eine Wiederbelebung der alten Mariachi, weder in Mexiko noch in Kalifornien. Einzig Eugene Rodriguez bemüht sich in seiner Akademie um den Erhalt dieser Kunstform und ihrer Weitergabe an die junge Generation.

Hugo Arroyo wurde zum wichtigsten Charakter in den drei Filmen. Im Grunde genommen war es seine Geschichte, die ich dort erzähle. Aber im ersten Film dreht sich fast alles um Julian Gonzalez, den alten Mariachi-Lehrer.


Interviewszene am Kneipentisch - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ricardo Braojos und SB-Redakteur
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Wenn ich alles richtig verstanden habe, war Gonzalez in Vergessenheit geraten, lebte zurückgezogen irgendwo in Kalifornien, bis eine Gruppe Mariachi-Interessierter bei ihm an der Tür klingelte und ihn darum bat, ihr sein Gitarrenspiel beizubringen. Stimmt das?

RB: Ja, mehr oder weniger. Aus der Begegnung mit bzw. der Wiederentdeckung von Gonzalez entwickelt sich der erste Film "Pasajero - Un viaje por el tiempo y la memoria". Im zweiten Film "Fandango, buscande al mono blanco" spielt Gilberto Gutierrez die Hauptrolle. Er ist derjenige, der die ganze Bewegung um den Son Jarocho losgetreten hat. Als er um die zwanzig Jahre alt war, haben er und einige Freunde begonnen, sich für Son Jarocho zu interessieren. Er selbst ist Jarocho.

SB: Was heißt das? Gehört er zu einer bestimmten ethnischen Gruppe?

RB: Jarocho ist der Name, den man ursprünglich für die ländliche Bevölkerung aus der Küstenregion um den Río Papaloapan südlich der Stadt Veracruz benutzte. Heute werden alle, die aus dem Bundesstaat Veracruz kommen, als Jarochos bzw. Jarochas, letztere ist die weibliche Form, bezeichnet. Gilberto lebte in Mexiko-Stadt. Erst dort haben er und seine Freunde das Interesse am Son Jarocho entdeckt. Da Gilberto ursprünglich aus Veracruz kam, war es ihm möglich, Kontakt zu den älteren Gitarrenspielern dort aufzunehmen und von denen die alten Formen zu lernen. Später hat Gilberto eigene Workshops veranstaltet, woraus dann quasi die ganze Bewegung um den Son Jarocho gewachsen ist. Im Verlauf der Jahre hat sich diese Musik- und Tanzform von Veracruz auf ganz Mexiko ausgebreitet.

Irgendwann hat sich Eugene mit Gilberto in Verbindung gesetzt und ihn eingeladen, einige Workshops in der Kunstakademie Los Cenzontles abzuhalten. Ausschnitte sind davon in den Filmen zu sehen. Im Anschluß hat Eugene Gilberto geholfen, ein Musik-Stipendium für drei Jahre an der Universität von Kalifornien zu bekommen. Damit konnten die beiden ihre Zusammenarbeit fortzusetzen. Während all dieser Zeit hat Gilbertos Einsatz zugunsten von Son Jarocho in Mexiko nicht nachgelassen. Inzwischen haben junge Menschen nicht nur in Veracruz und in Mexiko-Stadt, sondern in ganz Mexiko Son-Jarocho-Gruppen gebildet. In der Folge finden inzwischen Fandangos, die traditionellen Tanzfeten, die fast ausgestorben waren, an den Wochenenden praktisch überall in Mexiko wieder statt. Es kommen die Alten, welche die Fandangos von früher kennen, und die jungen Menschen, die sie erst wieder entdeckt haben, zusammen. Wie man in den Filmen sehen kann, sind die Fandangos damit zu einem belebenden, generationenübergreifenden Element des gesellschaftlichen Lebens in den Gemeinden geworden.

SB: Die drei Filme sind zwischen 2003 und 2006 gedreht worden und zwischen 2004 und 2008 erschienen. Sind sie viel gesehen worden?

RB: In Mexiko nur partiell. In den USA bei der mexikanischen Exilgemeinde dagegen wurden sie häufig gezeigt. Dieser Umstand hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß für Eugene, der die Filme produzierte, die mexikanischen Einwanderer in den USA von vornherein das Zielpublikum waren.

SB: Sie interessieren sich sehr für Mythologie. Daher die Frage, inwieweit die Mythologie, die alten Legenden - sei es der Spanier, der Azteken oder der anderen indigenen Bevölkerungen - im Bewußtsein der Mexikaner verankert ist bzw. sind. Kommt die Mythologie Mexikos in Ihren eigenen Filmen vor?

RB: Da haben Sie ein großes Problem angesprochen. Die wichtigste Mythologie in Mexiko ist diejenige der indigenen Gruppen, die leider immer noch sehr stark sozial benachteiligt sind. Die Diskriminierung der Ureinwohner führt dazu, daß die Nachfahren der Spanier wenig Neugier verspüren, die alten Mythen Mexikos kennenzulernen geschweige denn sich damit auseinanderzusetzen. Hinzu kommt, daß sehr wenig spanische Mythologie den Sprung über den Atlantik geschafft hat. Wenn es Menschen in Mexiko gibt, welche die alten Mythen pflegen, dann sind es die Indigenen auf dem Lande.

In dem Film "Fandango: Searching For The White Monkey" aus der Gitarrenen-Trilogie kam die olmekische Mythologie im Bundesstaat Veracruz vor. Dort im südlichen Bezirk namens Catemaco gibt es einen Berg mit Namen Mono Blanco, wo einmal im Jahr der weiße Affe erscheint. Die christlich geprägten Menschen halten diese Gottheit für ein böses Wesen, während diejenigen, die der alten Religion der Olmeks näherstehen, sie für einen Glücksbringer halten. Die Erscheinung soll auf den ersten Freitag im März oben auf dem Mono Blanco passieren. An jenem Tag feiern deshalb jedes Jahr am Ufer des Catemaco Sees die Brujos, die mexikanischen Schamanen, eine Art "schwarze Messe", die inzwischen zu einer Touristenattraktion ersten Ranges geworden ist. Wegen der Urreligion bzw. der Urmythologie hat der Mono Blanco für die Menschen in der Stadt und dem Staat Catemaco einen hohen, nicht nur symbolischen Stellenwert. Auf ähnliche Bräuche stößt man in den anderen ländlich geprägten Regionen Mexikos.

1998 habe ich auch einen Dokumentarfilm über den Tag der Toten, Día de Muertos, der jedes Jahr rund um den 2. November in Mexiko gefeiert wird, gedreht. Diese Feier geht eigentlich auf einen indigenen Brauch, der sich aus den verschiedenen Legenden in den unterschiedlichen Regionen Mexikos speist, zurück.


Braojos und SB-Redakteur auf Hochstühlen an der Tischecke - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Dieser mexikanische Nationalfeiertag, der inzwischen weltweit bekannt ist, hat für den Außenstehenden etwas von Halloween an sich. Stimmt das?

RB: Schon, denn es handelt sich in beiden Fällen um heidnische Totenfeiern, die von katholischen Missionaren durch die Verbindung mit dem Feiertag Allheiligen im christlichen Sinne umfunktioniert wurden. Während Halloween in Irland und Nordamerika in der Nacht vom 30. Oktober auf den ersten November stattfindet, wird Día de Muertos in Mexiko mit leichten regionalen Variationen in der Nacht vom ersten auf den zweiten November gefeiert. In dem Teil Südmexikos, wo ich meine Dokumentation "Animecha Kejtsïtacua - Ofrenda para las ánimas en Uricho y comunidades Purépecha de Michoacán" ("Offerings for the Souls") drehte, dauern die Feierlichkeiten viel länger. Mit allen Vorbereitungen zusammen läuft die Feier beim Volk der Purépecha am Ufer des Pátzcuoro-Sees im Bundesstaat Michoacán ungefähr 15 Tage.

SB: Die Teilnehmer führen bestimmte Rituale durch. Legen sie den Toten auch Opferbeigaben vor und wenn ja, welche?

RB: Alles mögliche, aber in erster Linie Wasser, Salz, Brot, Kerzen und Blumen.

SB: Wird während der Feier Alkohol getrunken oder vielleicht extra nicht getrunken? Ziehen die Leute festliche Kleider an?

RB: Es gibt keine festen Regeln. Die Leute benehmen sich, wie sie es für am geeignetsten halten. Als Opferbeigabe werden vor allem Dinge dargebracht, welche die Verstorbenen noch zu Lebzeiten mochten. Manche bringen Zigaretten, andere das Lieblingsessen oder die Lieblingsgetränke ihrer verstorbenen Verwandten mit.

SB: Also geht es weniger darum, irgendwelchen Gottheiten zu huldigen als vielmehr in Kontakt mit den toten Freunden und Verwandten zu treten?

RB: Das ist richtig. Es heißt, in dieser Nacht kehren die Toten zurück und besuchen die Hinterbliebenen, also bereiten letztere durch bestimmte Rituale einen gewissen Empfang vor, um zu signalisieren, sie haben die Verstorbenen nicht vergessen und denken weiterhin an sie. Die wichtigste Handlung überhaupt ist, mindestens eine Kerze anzuzünden, denn wenn man das nicht tut, findet der Geist des Verstorbenen nicht zu seinen Leuten in dieser Nacht zurück.

SB: Stellt man die Kerzen ins Fenster, wo sie gut sichtbar sind?

RB: Nein, man richtet bei sich zu Hause so etwas wie einen kleinen Altar mit Kerzen und den anderen Opferbeigaben ein. Am Abend des 2. November besuchen die Leute die Gräber der toten Verwandten im Friedhof. Die Feier dort dauert die ganze Nacht.

SB: In welchem Ausmaß greift die mexikanische Filmindustrie auf Geschichten und Figuren aus der landeseigenen Mythologie zurück?

RB: Recht wenig, muß ich mit Bedauern feststellen. In letzter Zeit sind solche Themen jedoch verstärkt von den Produzenten mexikanischer Animationsfilme verarbeitet worden. Es gibt eine Filmgesellschaft in Mexiko-Stadt, die seit rund sechs Jahren aus mexikanische Legenden Animationsfilme für Kinder macht. Dadurch kommen mexikanische Kinder inzwischen verstärkt mit den Mythen ihres Landes in Berührung, aber bei Spielfilmen für Erwachsene finden solche Stoffe bislang keine nennenswerte Verwendung. Als mexikanischer Filmschaffender finde ich das traurig. Solche Mythen sind häufig sehr inhaltsreich und vielschichtig. Sie behandeln Urthemen, die niemals an Aktualität für die Menschen verlieren und mit denen man sich im künstlerischen Sinne sehr produktiv auseinandersetzen kann.

SB: Wie sehen Sie Ihre gesellschaftliche Rolle als Filmemacher und Dokumentarist? Trägt man eine soziale Verantwortung?

RB: Ich denke schon, unabhängig davon, ob man Spielfilme oder Dokumentationen dreht. Als gestern Abend sozusagen als Auftakt zu der Diskussion mit der Enthüllungsjournalistin Anabel Hernández mein Sohn Emilio seinen Kurzfilm "Viviendo aqui" ("Wir leben hier") gezeigt hat, machte mich das sehr stolz. In seinem kleinen Erstlingswerk hat er die fiktive Geschichte der Entführung mehrerer Jugendlicher nach einer Fete auf offener Straße - etwas, das fast an jedem zweiten Tag in Mexiko in Wirklichkeit passiert - erzählt. Mit wenigen Mitteln hat er allen im Publikum, die meisten davon Nicht-Mexikaner, die gefährliche Lage in Mexiko nahegebracht. Ich bin jemand, der an der Möglichkeit des Films zu informieren, aufzuklären und Diskussionen loszutreten fest glaubt. Die Tatsache, daß Emilios Kurzfilm im Rahmen einer Diskussionsrunde zum Thema mexikanischer Drogenkrieg und nicht bei irgendeinem x-beliebigen Filmfest mit rotem Teppich und Glamour uraufgeführt wurde, fand ich zudem passend.

Freunde von mir, die das Morelia Filmfest, das zweitwichtigste Mexikos, ausrichten, laden mich jedes Jahr dazu ein. Das bringt mich aber in Verlegenheit, denn ich habe für die ganze Bussi-Bussi-Kultur in der Filmbranche nichts übrig. Ich drehe Filme, weil ich etwas zu sagen habe, Ideen entwickeln und sie der Öffentlichkeit präsentieren und sie damit zum Nachdenken anregen will und nicht, um mich im Blitzlichtgewitter auf dem roten Teppich zu aalen. Ich betreibe inzwischen eine eigene Filmschule namens El Foro - erreichbar unter elforodelcine.com - , die auch Online-Kurse anbietet. Die wichtigste Botschaft, die ich meinen Studenten mit auf den Weg gebe, ist, daß sie Filme machen und sich mit Themen befassen sollten, die ihnen wichtig sind.

Wenn man Filme drehen will, die später zum Beispiel bei den Filmfestspielen in Berlin, Cannes, Montreal oder Venedig gezeigt werden sollen, dann kostet normalerweise das Studium mit allem Drum und Dran eine Menge Geld. Bei El Foro sind wir dagegen der Meinung, daß jeder das Recht haben sollte, seine eigenen Geschichten audiovisuell erzählen zu können. Unser Ziel ist es, Leuten, die keine Filmschule besuchen können, weil sie zu wenig Geld haben oder auf dem Land und nicht in der Stadt leben, die Möglichkeit zu geben, eigene Filme zu drehen.

SB: Beim Stand und angesichts der vergleichsweise niedrigen Preise der heutigen Digitaltechnologie leuchtet der Ansatz ein.

RB: Natürlich. Deswegen sagen wir unseren Studenten, die nötige Filmkamera habt ihr in der eigenen Tasche auf eurem Mobiltelefon. Mit einem solchen Gerät ist man in Prinzip bereits im Besitz der technischen Grundausstattung, um Filme zu machen. Was man danach noch lernen muß, ist, wie man eine Geschichte filmisch erzählt.


Der vollbärtige Ricardo Braojos in der Nahaufnahme - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Namhafte Schauspieler und Regisseure Mexikos unterstützen öffentlich die Familien der Opfer des Massakers von Iguala und deren Forderung nach Aufklärung der Umstände und die Bekanntgabe des Ortes, wo die Leichen der ermordeten Studenten liegen, damit diese ein ordentliches Begräbnis samt Trauerfeier bekommen. Doch inwieweit setzen sich die Vertreter der Filmindustrie Mexikos, immerhin die größte Lateinamerikas, mit dem mörderischen Drogenkrieg im eigenen Land auseinander? Oder tragen sie lediglich dazu bei, den korrupten Status quo aufrechtzuerhalten?

RB: Ich denke, die meisten Filmemacher und Regisseure interessieren sich nicht wirklich für die Politik. Besonders für Leute im Spielfilmgeschäft kann es Schwierigkeiten mit sich bringen, wenn man sich politisch zu stark engagiert. Einen Spielfilm zu drehen kostet ein Vermögen. Man braucht finanzkräftige Produzenten. Großbanken und andere Finanzinstitute vertrauen ihr Geld Leuten ungern an, die Kritik am bestehenden System üben. Als Dokumentenfilmemacher hat man es leichter. Die Geldsummen, die erforderlich sind, um eine vernünftige Dokumentation zu drehen, sind viel geringer. Folglich kann man es sich als Regisseur bei Dokumentarfilmen eher leisten, sich mit schwierigen Themen zu befassen.

SB: Sie sagten vorhin, Sie hätten ein neues Projekt am Laufen. Bitte erzählen Sie etwas darüber.

RB: Der vorläufige Titel lautet "Losing Mexico". Es geht um mexikanische Künstler, die in den letzten Jahren nach Europe emigriert sind.

SB: Eine Gruppe, zu der Sie auch gehören. Von wie vielen Künstlern reden wir dann?

RB: Das weiß ich noch nicht. Einige der Leute kenne ich schon, entweder weil es Freunde von mir sind oder ich von ihrer Arbeit schon gehört habe. Im Mittelpunkt der Erörterung steht die Frage, was Mexiko durch die Auswanderung dieser Künstler verliert und inwieweit die Leute selbst aufgrund der Migration den Kontakt zu ihren Wurzeln verlieren.

SB: Im 19. und in der ersten Hälfte der 20. Jahrhunderts war die Massenemigration für die Betroffenen und ihre Familien daheim ein größeres Problem als heute. Damals haben zum Beispiel arme Europäer nach der Auswanderung per Schiff in die USA häufig ihre Verwandten niemals wieder gesehen, konnten nicht heimkehren, etwa um an Hochzeiten oder Trauerfeiern der eigenen Familie teilzunehmen. Heute können die Leute ins Flugzeug steigen und sind in einigen Stunden wieder zu Hause, können mittels Skype jeden Tag mit den Verwandten sprechen und sie dabei sogar sehen. Meinen Sie nicht, die moderne Technologie hat dazu beitragen, den Schmerz der Trennung infolge der Migration für die Betroffenen etwas zu lindern, indem sie den ständigen Kontakt über Kontinente hinweg ermöglicht?

RB: Ich stimme Ihnen zu. Ihre Schilderung der unterschiedlichen Lagen damals und heute trifft zu. Die ausgewanderten Menschen können heute leichter den Kontakt zu Freunden und Verwandten aufrechterhalten. Dennoch bin ich der Meinung, daß die Künstler die Ideen, die sie noch in Mexiko verfolgten, im Exil nicht so einfach nachgehen können. Ihre Lage hat sich verändert, häufig nicht zum Besseren. Dadurch, daß sie außerhalb von Mexiko sind, reflektieren sie über das Land auch anders. Das muß nicht schlechter sein, ist aber jedenfalls anders, als wenn sie in Mexiko geblieben wären.

SB: Zum Schluß eine hypothetische Frage - stellen Sie sich vor, ein schwerreicher Mäzen käme auf Sie zu und erklärte sich bereit, jedes Projekt, das Sie realisieren wollten, zu finanzieren. Wie würden Sie auf ein solches Angebot reagieren?

RB: Ich würde ein altes Drehbuch, das ich vor Jahren geschrieben habe und bei mir in der Schublade liegt, in einen Spielfilm verwandeln. Leute, die mich kennen, wären überrascht zu erfahren, daß es eine Komödie ist, denn eigentlich habe ich den Ruf, eher eine ernste Person und weniger der Spaßvogel zu sein. Es wäre ein teurer Film, denn die Geschichte spielt in Mexiko der zwanziger Jahre.

SB: Handelt es sich um eine Screwball-Komödie oder vielleicht eine politische Satire?

RB: Eigentlich ist es eine Liebesgeschichte mit einem Happy-End - etwas, das meine Freunde und Bekannten niemals von mir erwarten würden. Aber diese Liebesgeschichte diente nur als Vehikel, um weitere, wichtigere Themen und Ideen zu transportieren. In dem Film kommen der französische Dramatiker Antonin Artaud und Los Contemporáneos, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die vielleicht wichtigste Kunstbewegung der Modernisten in Mexiko, vor. Auch wenn Artaud in Wirklichkeit erst in den dreißiger Jahren Mexiko bereiste, stand er mit einigen Mitgliedern dieser Gruppe in Verbindung. Also die Phantasie fußt auf der Realität in diesem Fall.

SB: Recht vielen Dank, Ricardo Braojos.


Intensive Unterhaltung übers mexikanische Filmgeschäft - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zum Kampnagel-Festival Kontext Mexiko im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → THEATER → REPORT:

INTERVIEW/031: Mexikospektive - die junge, alte, neue Sicht ...    Uta Lambertz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/032: Mexikospektive - flüchtig und konkret ...    Lukas Avendaño im Gespräch (SB)
INTERVIEW/033: Mexikospektive - ein loser Tanz ...    Knut Klaßen im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: Mexikospektive - im Spiegel der Kämpfe ...    Jaciel Neri im Gespräch (SB)
INTERVIEW/035: Mexikospektive - testen, warten und erleben ...    Edgar Pol-Toto im Gespräch (SB)

25. März 2017


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