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INTERVIEW/029: Geisterbahn - Der Ethos und die Gegenstimme ...    Thomas Fiedler im Gespräch (SB)


"Geisterbahn" - eine posthumanistische Musiktheaterinstallation von Kommando Himmelfahrt

Besuch der Uraufführung am 28. April 2016 auf Kampnagel in Hamburg

Thomas Fiedler über das Ausloten von Grenzen, das Streben nach Wissen und die Konfrontation des Publikums sowohl mit den Geistern des alten Humanismus als auch denen der Aufklärung


Nach der zuletzt mit dem Rolf-Mares-Preis ausgezeichneten Musiktheaterproduktion "Die Speisung der 5000" blieb man zwei Jahre lang im ungewissen über das nächste Projekt des Künstlerkollektivs Kommando Himmelfahrt um den Komponisten Jan Dvořák, den Regisseur Thomas Fiedler und die Produktionsleiterin und Dramaturgin Julia Warnemünde. Die Spannung löste sich endlich bei der Uraufführung von "Geisterbahn - Eine posthumanistische Musiktheaterinstallation" am 28. April 2016 auf Kampnagel in Hamburg. Im Zentrum der Konfrontation mit einem ob nun sinnvollen oder törichten Menschenbild stand diesmal der französische Aufklärer, Philosoph und Arzt Julien Offray de la Mettrie (1709-1751), der vor allem mit seinen Schriften "L'homme machine" und "L'homme plante" den Zeitgeist gegen sich aufbrachte und geächtet und verfolgt als Enfant terrible schließlich auf tragische Weise ums Leben kam.

Erstmals hat das Hamburger Kollektiv mit der Konstruktion einer begehbaren Installation die Zuschauer unmittelbar auf eine Reise in die Untiefen und Fährnisse des menschlichen Strebens nach Erkenntnis mitgenommen. Avantgardistisch-verspielt, im Kern jedoch ernsthaft um die Frage bemüht, Utopien und Zukunftsvisionen aus den verstaubten Gelehrtenstuben in die reale Gegenwart gesellschaftlicher Konflikte und Veränderungen zu tragen und provokant zuzuspitzen, ist Kommando Himmelfahrt einmal mehr der große Wurf gelungen, kritischen Gedanken gerade in Hinblick auf die Brisanz ihrer Sprengkraft eine Bühne zu geben. Im Anschluß an die Premiere hatte der Schattenblick Gelegenheit, Thomas Fiedler einige Fragen zu stellen.


Porträt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Thomas Fiedler, Kommando Himmelfahrt
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Es hat viele Philosophen gegeben, die sich mit gesellschaftlichen Widersprüchen auseinandergesetzt haben. Was macht Julien Offray de la Mettrie für Sie so interessant?

Thomas Fiedler (TF): Interessant war für uns, daß er in der Zeit der Aufklärung so radikal weit gedacht hat, daß es den anderen bekannten Aufklärern schon unheimlich wurde und man eigentlich erst heute erkennt, was er alles vorausgesehen hat. Mit dem Gedanken, den Menschen zu einer Maschine oder auch spielerisch zu einer Pflanze zu erklären, hat er versucht, das Denken aufzustoßen. Ihm war es wichtig, nur das anschaulich zu machen, was tatsächlich vorhanden ist, statt mit Definitionen, die von der Religion überliefert sind oder aus moralischen Überlegungen herrühren, den Menschen, die Natur oder auch die ganze Welt in Bann zu legen. In der Folge ist er von anderen Aufklärern sehr unterdrückt worden, die sich radikal von ihm distanziert, Scherze über ihn gemacht, ihn gar diffamiert haben, weil er mit seinen Ideen tatsächlich bis an die Grenzen der Moral gegangen ist. Und natürlich hat er auch den Begriff Seele in Frage gestellt und somit das religiöse Gebäude seiner Zeit zum Einsturz gebracht.

SB: La Mettrie ist noch heute eine umstrittene Gestalt der europäischen Geistesgeschichte. Zu Beginn des Stückes wirft ihm Earl Tyrconell vor, indem er den Menschen zur Maschine degradiert, ein Verbrechen der Aufklärung begangen zu haben. Wie berechtigt ist dieser Vorwurf?

TF: Tyrconell vertritt in dem Stück diejenige Position, in der gewisse Werte und Moralvorstellungen das Forschen nach Erkenntnis begrenzen sollen, damit keine Probleme in der Gesellschaft hervorgerufen werden. La Mettrie ist in dieser Konstellation sein Gegenpart mit der Forderung, die Augen nicht vor der Wahrheit zu verschließen, nur weil irgendein moralisches Konstrukt es verbietet. Insofern haben wir das konträre Moment in zwei Extrempositionen zugespitzt, das sich bis zum Ende des Stückes mit der Entscheidung Ja oder Nein zur entgrenzten Forschung durchzieht.


Earl Tyrconell am oberen Ende einer langen Leiter vor der Geisterbahn stehend - Foto: © 2016 by Julia Kneuse

Earl Tyrconell, der Rekommandeur, empfängt das Publikum
Foto: © 2016 by Julia Kneuse

SB: Inwiefern kann Kunst Menschenbilder kreieren und damit in gesellschaftliche Debatten eingreifen?

TF: Die Kunst kann Ideen oder Welten aufstoßen bzw. ein Fenster in Möglichkeiten hinein öffnen und damit im besten Fall einen Diskurs lostreten. Ich glaube, daß die Welt ansonsten unglaublich viel selbständig macht. Das Verrückte ist ja, daß man sich Fragen darüber stellt, wie sinnvoll die Pränataldiagnostik ist und zur Klärung eine Ethikkommission einberuft, aber gleichzeitig passiert das schon. Diese Gleichzeitigkeit ist typisch für technische Innovationen. Erst haben alle darüber diskutiert, ob ein Smartphone überhaupt nötig sei und jetzt hat jeder eines. Insofern befinden wir uns permanent in einem diffusen Bereich zwischen der Forschung, dem Entwickeln technischer Erneuerungen und der Diskussion über moralische Kategorien oder Wertesysteme und damit der Frage, wie man sich dazu überhaupt verhalten will. In unserer Konzeption ist La Mettrie tatsächlich derjenige, der erst einmal danach fragt, was möglich ist und das Streben nach Wissen nicht von vornherein unterdrückt sehen möchte.

SB: Welche Relevanz hat es für Sie, den alten Streit zwischen Materie und Geist, der sich in der Geistesgeschichte Europas in vielerlei Formen und Gegensatzpaaren wiederfindet, in dem Stück erneut zu thematisieren, statt ihn im Sinne der Dialektik zu überwinden?

TF: Ich denke, wir befinden uns permanent in diesem Streit, ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht. Er ist alltäglich. Im Falle einer schweren oder unheilbaren Krankheit lehnen wir einerseits lebensverlängernde Maßnahmen ab, sind aber andererseits sofort bereit, uns einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen oder uns einer Bypassoperation zu unterziehen. Oder ein anderes Beispiel dazu: Jeder, der Kinder möchte, ist mit der Frage konfrontiert, ob er eine Nackenfaltenuntersuchung machen lassen soll und muß sich fragen, wofür das gut ist und was er tut, wenn die Antwort 1:160 lautet. Läßt man dann noch eine Fruchtwasseruntersuchung nachfolgen? Insofern sind wir auf die eine oder andere Weise ständig in dieser Position. Die Kunst bietet die Möglichkeit, genau in diese Fragestellung hineinzubohren.

SB: Am Ende des Stückes standen die Zuschauer vor der Frage, ob sie es mit La Mettrie halten, nämlich daß die Suche nach Erkenntnis nicht von Ideologien oder Moral eingeschränkt werden sollte. In dem Fall hätten sie über den Ausgang "Ja" nach draußen gehen können. Sollten sie sich aber für den Standpunkt des Earl Tyrconell entscheiden, daß Forschung eine moralische Grenze braucht, dann sollten sie den Ausgang "Nein" wählen. Ich möchte diese Frage gerne an Sie zurückrichten, und zwar in der Gestalt: Hat die Menschlichkeit noch eine Zukunft oder wird sie einer grenzenlosen Forschung geopfert?

TF: Das weiß ich nicht, weil dieser Prozeß die ganze Zeit im Gange ist bzw. in Wellen auftritt, wenn beispielsweise Religiosität wieder verstärkt aufkommt oder in manchen Teilen der Welt sogar die Oberhand gewinnt. Gleichzeitig schreitet aber die technische Entwicklung unaufhörlich fort. In diesem Sinne hat es auch uns überrascht, wieviele Leute sich für den Nein-Ausgang entschieden haben. Das hat sicherlich auch mit der Formulierung der Frage zu tun. Ich denke, es gibt eine Parallelität der Entwicklung. In dem Moment, wo eine wissenschaftliche Entdeckung gemacht wird, stürzen alle moralischen Fragen ganz schnell in sich zusammen. Letzten Endes wird die Gesellschaft die Frage klären müssen, wie weit sie bereit ist zu gehen. Auch wir von Kommando Himmelfahrt bewegen uns in unseren Lebensentwürfen häufig im Graubereich. Die Zuspitzung ist jedenfalls ein Mittel, das die Menschen anspricht, weil sie provoziert.

SB: Das Stück Geisterbahn oder, man könnte auch sagen, die Oper in drei Akten arbeitet mit der Auflösung der Bühne, weil die Zuschauer gleichsam auf eine Reise in die Biographie von La Mettrie mitgenommen werden. Haben Sie diesen Bruch mit der Theatertradition bewußt angestrebt, um möglicherweise zu älteren Wurzeln der Schauspielkunst zurückzukehren?

TF: Für uns von Kommando Himmelfahrt ist es immer wichtig, den Zuschauer in eine Situation hineinzubringen, in der er einer Theateraufführung wirklich beiwohnt als einem einmaligen Akt, in dem etwas heraufbeschworen wird. Insofern interessiert uns dieser Aspekt, was aber nicht heißt, daß damit irgendeine Tradition angegriffen wird. Uns interessiert die Gleichzeitigkeit von Mitteln und das Einbeziehen des Zuschauers in eine Situation. Das muß nicht immer bedeuten, daß die Leute nicht mehr in Zuschauerreihen sitzen, was aber durchaus sein kann. Uns geht es vielmehr darum, aus dem Gedanken eines Themas heraus die jeweilige Form zu finden.

In unserem Stück "Die Speisung der 5000" saß das Publikum tatsächlich ganz normal in der Tribüne und war trotzdem Bestandteil einer Tonaufnahme. Bei diesem Akt des Hochladens einer Kantate ins Internet ging es um das Leben im Zeitalter der Vervielfältigungstechniken. Dabei hat uns interessiert, daß der Geist des Humanismus, der immer noch in unseren Köpfen drin ist, an seine Grenzen stößt, weil wir das Gefühl haben, daß die Kategorien, mit denen wir in der Erziehung oder Schule aufgewachsen sind, sich an einer Realität reiben, die manchmal sogar schneller ist als eine philosophische Entwicklung. Insofern wollten wir das Publikum auch jetzt mit den Geistern des alten Humanismus, aber auch mit den Geistern der Aufklärung konfrontieren. Im übertragenen Sinne steht dafür der Name Geisterbahn des Stückes. Trotzdem spielt auch die Jahrmarktgeisterbahn mit diesen Elementen: Da gibt es die Guillotine, den Friedhof, es ist ein Spiel mit Angstszenarien, die aus Religion, Naturwissenschaften und verschiedenen anderen gesellschaftlichen Bereichen herkommen.


Ein düsterer Raum, mit grünem und blauem Licht, Glaskästen und vielen Pflanzen - Foto: © 2016 by Julia Kneuse

Zum Gruseln schön - La Mettries Reich im Mittelpunkt der Geisterbahn
Foto: © 2016 by Julia Kneuse

SB: Wo würden Sie den utopischen Ansatz, der über die rein kritische Reflektion des Bekannten hinausgreift, in dem Stück setzen?

TF: Uns hat hierbei vor allem interessiert, auf eine Zweiteiligkeit hinzuweisen. Wenn man sich tatsächlich für eine radikale Position des Forschens um jeden Preis entscheidet, dann muß man mit Religion, Moralvorstellungen und so weiter brechen. Denn wenn man akzeptiert, daß der Mensch nur ein Zellhaufen oder ein nach gewissen Parametern ablaufendes Wesen ähnlich einem Tier oder einer Pflanze ist, dann macht es eigentlich keinen Sinn mehr, sich irgendwelche religiösen oder moralischen Kategorien zu eigen zu machen, außer sie erfüllen einen Zweck für die Gattung Mensch. Das wäre dann aber eine weitgehend kompromißlose Position. Nun läßt sich allerdings nicht leugnen, daß es die Moral gibt. Wenn heute jemand die Scharia fordert, ist auch das eine Position, die auf einem Moralkodex beruht, woher der auch immer kommt. Das gleiche gilt für die katholische Kirche. Genau diese Zwiespältigkeit klarzumachen, war unser Anliegen. Insofern berührt das Utopische die Frage, wie es dann weitergehen könnte.

SB: Der Hauptteil des Stückes war ein klassisches Liebesdrama. Es ging um Freundschaftsverrat und Treuebruch, da La Mettrie ein Liebesverhältnis mit der Gattin des Tyrconell unterhielt, was ihm zum Verhängnis wurde, als er eine Pastete aß, die der auf Rache sinnende Earl mit dem Gift der Alraune präpariert hatte. Weniger das philosophische Werk La Mettries als vielmehr das Zerstörerische seiner Liebschaften bildete so das Vordergründige der Inszenierung. Welche Idee stand dahinter, diese klassischen Motive einer Dramenhandlung als Rahmen zu nehmen für eine Fragestellung mit hoher gesellschaftlicher Brisanz, wenn man bedenkt, daß eine grenzenlose Forschung auch synonym steht für die Gefahren der Gentechnik, eine entufernde Entwicklung auf dem Implantationsmarkt und eine den Menschen halb zur Maschine umfunktionalisierenden Prothesentechnologie?

TF: Die Zwiespältigkeit, die in der Figur des Earl Tyrconell, der die Geisterbahn erbaut hat, steckt, spiegelt sich in gewisser Weise auch in unserem konkreten Leben wider. Er ist jemand, der wirklich mit einer großen Triebkraft danach strebt, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Auf die Zuschauer wirkt er begeisternd, faszinierend, zugleich aber auch verängstigend und verletzlich. Da hat man sofort diesen Widerspruch, den man auch in Bezug auf alle möglichen medizinischen oder wissenschaftlichen Forschungsergebnisse selber verspürt. Er verkörpert jemanden, der eine Entdeckung macht, sich aber selber eine Grenze setzt, jenseits derer er nicht weiterforschen darf, lediglich im geheimen an der Entwicklung dieser Pflanze arbeitet, weil es so vieles in Frage stellen würde. Und dann trifft er auf jemand anderen, der alle Grenzen ignoriert. Das schien uns ein guter Gegensatz, um die Problematik klarzumachen.

SB: Herr Fiedler, vielen Dank für das Gespräch.

Bisher zur posthumanistischen Musiktheaterinstallation "Geisterbahn" im Schattenblick unter INFOPOOL → THEATER → REPORT erschienen:

BERICHT/068: Geisterbahn - ein Golem tritt die Wiese platt ... (SB)
http://schattenblick.de/infopool/theater/report/trpb0068.html

INTERVIEW/028: Geisterbahn - Schreckschuß für Homo flexus ...    Julia Warnemünde im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/theater/report/trpi0028.html


4. Mai 2016


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