Schattenblick →INFOPOOL →THEATER UND TANZ → REPORT

INTERVIEW/006: Pippo Delbono über die geheimnisvollen Zutaten, die dem Theater eine Seele geben (SB)



Ein Gespräch mit Pippo Delbono über die geheimnisvollen Zutaten, die dem Theater eine Seele verleihen

von Julia Barthel

Logo des Simple Life Festivals 2010 - © 2010 by Schattenblick

© 2010 by Schattenblick

Pippo Delbono wurde 1959 im süditalienischen Ort Varraze in der Provinz Savona geboren. Ursprünglich begann er seine Ausbildung im traditionellen Theater, bis eine Begegnung mit dem Argentinier Pepe Robledo ihn dazu brachte, einen ganz anderen Kurs einzuschlagen. Er lebte einige Jahre im Ausland, studierte in Asien orientalischen Tanz und wurde zum Buddhisten. In seiner Zeit als Reisender arbeitete er mit bekannten Theatergrößen wie Iben Nagel Rasmussen und Ryszard Cieslak zusammen. Neben diesen Projekten war es das Zusammentreffen mit der Begründerin des modernen Tanztheaters, Pina Bausch, welches ihn in seinem Werdegang als Künstler am stärksten beeinflusste. Sie lehrte ihn, daß Tanz und Bewegung eines der intensivsten Ausdrucksmittel für einen Schauspieler sein kann. Die Fähigkeit, sich nicht allein über Sprache, sondern auch über den Körper präzise artikulieren zu können, half ihm später dabei, mit Darstellern wie dem taubstummen Bobò eine außergewöhnlich wirkungsvolle Bühnenpräsenz zu erarbeiten. All diese Einflüsse bewogen Pippo Delbono, Mitte der 80er Jahre eine eigene Company zu gründen. Neben vielen Profis setzt sich sein spezielles Ensemble auch aus ehemaligen Obdachlosen, Straßenkünstlern, früheren Patienten der Psychiatrie und einem Mitglied mit Down Syndrom zusammen. Gemeinsam mit dieser Truppe wurde Delbono zu einem Vorreiter des dokumentarischen Theaters und revoltierte durch seine visionären Inszenierungen gegen die engen Fesseln der althergebrachten Vorstellungen von klassisch schönem Schauspiel in seiner Heimat. Er wagte sogar, den heiligen Gral der europäischen Kulturlandschaft zu attackieren, indem er einmal sagte: "Italiens Theater ist ausgestorben". Wer nun glaubt, Delbono würde Italien nicht lieben, der irrt. Ihm geht es lediglich darum, die regressiven Tendenzen des Landes zu bekämpfen, Verantwortung zu übernehmen und die kulturelle Leere dort mit neuen Ideen zu füllen.

Mit seinem unkonventionellen Ensemble inszenierte Pippo Delbono während der letzten Jahre viele sozialkritische Stücke, wie "Barboni" (Clochard) aus dem Jahr 1997, das dem Leiden von Randständigen gewidmet ist, "Urlo" (Schrei) von 2004, das die Unterdrückungsmechanismen der Gesellschaft offen legt oder "La menzogna" (Die Lüge), das seit 2008 bereits mehrfach aufgeführt wurde. Diese und viele andere Werke verschafften ihm eine weltweite Fangemeinde und Delbono avancierte zum Star des dokumentarischen Theaters. Er ist seit 2009 Preisträger des "Premio Europa Nuove Realtà Teatrali", einer Auszeichnung für neues Theater und drehte eine ganze Reihe von Filmen. Für den künstlerisch hoch ambitionierten Streifen "I am Love" konnte er sogar die Hollywood Größe Tilda Swinton gewinnen.

Pippo Delbono ist Theaterregisseur, Filmschaffender und Schauspieler aber vor allem ist er ein sehr ernsthafter, kritischer Geist, der durch die langjährige Zusammenarbeit mit seinem nonkonformen Ensemble jeden Verdacht, er könnte sogenannte "exotische Experten des Alltags" benutzen, um Aufmerksamkeit zu erregen, ad absurdum führt. Abseits der Bühne erweist sich Delbono als eher leiser, zurückhaltender Mensch, der nicht so leicht aus der Reserve zu locken ist. Dem Schattenblick gelang es trotzdem, mit ihm einige Worte darüber zu wechseln, wie er seine beiden ungewöhnlichsten Mitstreiter kennen lernte, welchem schauspielerischen Geheimnis er seit Jahren auf der Spur ist und weshalb er nicht müde wird, finstere Themen auf der Bühne zu verhandeln.

Der Theaterregisseur Pippo Delbono - © 2010 by Schattenblick

Der Theaterregisseur Pippo Delbono
© 2010 by Schattenblick
Schattenblick: Guerra ist wirklich ein wunderbares Stück. Bei der Vorführung ist mir aufgefallen, dass auf der Bühne viele sehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit verschiedenen Lebensgeschichten zu sehen sind. War es schwierig für Sie, all diese Menschen dazu zu bringen, zusammenzuarbeiten?

Pippo Delbono: Glücklicherweise ist das meine eigene Company. Also muss ich nicht für jedes Stück neue Auditions machen. Jeder der Darsteller bringt einen anderen Hintergrund und eigene Erfahrungen mit. Für mich hat Theater etwas mit Wahrhaftigkeit zu tun, das bedeutet, jeder Einfluss macht einen Unterschied. Die Vorstellung, die Sie gesehen haben, ist auch schon 1997 entstanden.

SB: Das heißt, die Besetzung ist seit 1997 die gleiche geblieben?

PD: Ja. Es ist wichtig, die Alltagserfahrung in die Theaterkunst mit einzubringen. In diesem Zusammenhang ist es für mich ein wichtiger Aspekt, dass wir im wahren Leben alle so unterschiedliche Persönlichkeiten sind. Das ist sehr interessant, wobei die wesentlichen Unterschiede natürlich nicht nur in den körperlichen Besonderheiten bestehen.

Bei Guerra wurde viel mit Tanz gearbeitet. Manchmal wirken sogar ganze Szenen wie eine Tanzimprovisation. Diese Art zu arbeiten hat viel mit der orientalischen Theatertradition zu tun. Das ist meine Art fernöstlicher innerer Ruhe. Ich arbeite sehr viel mit dieser Theaterrichtung. Im orientalischen Theater hat jede kleine Bewegung auch eine Bedeutung für das Innere. Beispielsweise kann in der Art, wie man auf der Bühne ein Glas Wasser trinkt, sehr viel Dramatik enthalten sein, wann man seine Bewegung unterbricht, die Richtung ändert oder den Rhythmus wechselt. All das kann etwas bedeuten.

SB: Obwohl Sie schon gesagt haben, dass alles, was auf der Bühne geschieht, präzise durchgeplant ist, wirkt es doch sehr spontan und überhaupt nicht künstlich. Es macht den Eindruck, als ob Sie die Realität ins Theater holen. Mir ist außerdem aufgefallen, dass manche Szenen wie eine Zeitlupenaufnahme der Wirklichkeit wirken. Denken Sie, dass die Menschen der modernen Gesellschaft die Fähigkeit verloren haben, Dinge auf diese Weise zu sehen?

Pippo Delbono - © 2010 by Schattenblick

© 2010 by Schattenblick

PD: Das ist eine wichtige Frage. Einer der wichtigsten Bestandteile dieser Performance ist die Wahrhaftigkeit. Aber Vorsicht, hier muss man zwischen Wahrhaftigkeit und Naturalismus unterscheiden. Naturalismus ist aus meiner Sicht ein Konzept, das der Wahrheit entgegengesetzt ist. In dieser Hinsicht war die Begegnung mit Pina Bausch für mich eine sehr wichtige Erfahrung. Ich erinnere mich daran, dass beim Studium ihrer Performance im Tanz etwas Wahres zu erkennen war. All die speziellen und kleine Dinge, die man bemerkt, wenn man im Tanz aufgeht, das sind Elemente, die schon immer im eigenen Körper gesteckt haben. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich beispielsweise meine Geschichte sehr von Bobòs, Gianlucas oder Nelsons Ausgangssituation (Anmerkung der SB-Redaktion: Bobò ist taubstumm und Gianluca wurde mit dem Down Syndrom geboren). Sie alle arbeiten schon seit 15 oder mehr Jahren im Theater mit mir zusammen und sie bringen etwas ganz Besonderes in diese Arbeit ein. Sie haben sich dieses Gefühl erhalten, als ob sie die Erfahrung des Spielens zum allerersten Mal machen würden. In ihrer Art, Dinge zu wiederholen, sind sie extrem präzise, mehr noch als jeder Tänzer, sie führen sie aus wie ein Ritual. Bobo zum Beispiel setzt etwas um, als ob er es das erste Mal tun würde, obwohl er es in seinen Auftritten schon viele Male wiederholt hat. Aber entschuldigen Sie, jetzt bin ich etwas von Ihrer Frage abgekommen.

SB: Ich wollte gern von Ihnen wissen, ob die Leute es verlernt haben, sich in ihrem hektischen Alltag die Zeit zu nehmen, andere Menschen so präzise wahrzunehmen, wie Sie es in ihrem Stück tun?

PD: Für mich bedeuten Theater und Kunst, dort etwas zu sehen, wo man dachte, es gäbe nichts mehr zu sagen. Also muss man innehalten, um es zu erkennen. Und dann findet man Schönheit bei Menschen, die normalerweise nicht als schön betrachtet werden.

SB: Ah!

PD: Ja, es gibt für alles einen passenden Moment. Auch im Theater gibt es einen Augenblick, in dem man beginnen sollte, seine Augen zu öffnen. Es gibt nicht nur zwei Varianten von Häßlich oder Schön, sondern es ist möglich, auch andere Arten von Schönheit zu finden!

Pippo Delbono - © 2010 by Schattenblick

© 2010 by Schattenblick

SB: In Ihrem Stück gibt es eine Stelle, an der sozusagen Menschen zu Wort kommen, die der Überzeugung sind, sie könnten sich nur durch eine Revolution aus ihrem Elend befreien. Glauben Sie, dass sich der Krieg so lange wiederholen muss, wie es Menschen gibt, die alles haben und solche, die nichts haben?

PD: Es gibt einen Film, in dem gesagt wird, dass es tatsächlich drei Familien auf der Welt gibt, die genauso viel Geld besitzen, wie 600 Millionen Menschen in Afrika zusammen. Man muss solche einfachen Tatsachen wiederholen. Normalerweise ziehen wir es vor, um diese Dinge drumherum zu reden. Wir fürchten uns davor, sie direkt anzusprechen. Gerade in diesem Stück (Guerra) ist es notwendig, direkt zu sein. Wir dürfen nicht vergessen, dass es in der Welt Millionen von Menschen gibt, denen es sehr schlecht geht. Warum können wir nicht darüber sprechen?

SB: Sie sagen also, dass es eigentlich unmöglich ist, diese Menschen zu vergessen. Trotzdem gibt es tatsächlich viele Leute, die es vorziehen, sich hinter dem Fernsehbildschirm zu verstecken oder sich durch irgendeine andere Form der Unterhaltung von solchen Gedanken und Problemen abzulenken. Wenn Sie die Möglichkeit hätten, diesen Leuten eine Botschaft zukommen zu lassen, was würden Sie ihnen sagen?

PD: Es wäre schwierig, da eine Botschaft zu formulieren. Ein schlimmes Beispiel für das, was Sie sagen, ist mein eigenes Land. In Italien findet gerade eine kulturelle Zersetzung statt. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass ich eine Notwendigkeit empfinde, bestimmte Dinge immer zu wiederholen. In meiner Heimat sind alle vollkommen verrückt geworden. Es wird ständig über Berlusconis Affairen gesprochen, aber Berlusconi ist nur eine Manifestation dessen, was in den Leuten vorgeht. In Italien drücken sich die Minister jeden Tag auf vulgäre Weise oder rassistisch aus. Die Bevölkerung ist dafür taub geworden, weil viele langsam selbst dieses Denken annehmen. Darüber vergessen wir einfach alles. Nichts ist mehr wichtig.

Pippo Delbono - © 2010 by Schattenblick

© 2010 by Schattenblick SB: Möchten Sie mit dem, was sie auf der Bühne zeigen, die Menschen aufwecken, damit sie aufhören, sich gedanklich im Kreis zu drehen?

PD: Ja, ich denke wir müssen sie wachrütteln. Meine Mutter hat mich einmal gefragt, warum ich nicht mehr Dinge mache, über die man lächeln kann. Ich glaube, jetzt ist die Zeit, um die Augen zu öffnen. Im Leben, wie auf der Bühne steckt immer eine Ironie in den Dingen. Alles hat zwei Gesichter.

SB: Sie sind mit Ihren Stücken um die ganze Welt gereist. Wie hat das Publikum in den unterschiedlichen Ländern darauf reagiert, dass Sie behinderte Darsteller auf die Bühne bringen?

PD: Meiner Meinung nach ist es letztlich eine Frage der Mentalität. In Deutschland zum Beispiel muss man einen Zugang zur Denkweise der Menschen finden. Dabei ist es wichtig, die Menschen zuerst auf der Ebene des Herzens anzusprechen, nicht auf der intellektuellen. Der Intellekt kann später folgen. Das Demokratische am Theater ist, dass dort mit dem Herzen gesprochen wird. Manchmal kann ich das rein intellektuelle Theater nicht ausstehen. Das kann gefährlich sein.

Deswegen spreche ich von rituellem Theater, denn das ist etwas, das die Leute beeindruckt. Bobò beispielsweise ist Analphabet, aber er versteht viele Dinge, besonders die Natur der Menschen. Und deshalb mag ich die Idee, Theater an erster Stelle für Analphabeten zu machen und erst dann für die Intellektuellen. Ich selbst fühle mich, was das angeht, zweigeteilt. Einerseits bin ich auch ein bisschen Analphabet, andererseits auch ein Intellektueller. Ich habe diese beiden Seiten in meinem Leben.

SB: Das bedeutet, Sie können beide Seiten nachvollziehen?

PD: Ja, absolut. Wissen Sie, in einer Szene mit Bobò braucht man nichts anderes tun, als ihm zuzusehen. Da ist etwas, das man sich nicht erklären kann. Man versucht es zu verstehen, aber es bleibt ein Geheimnis. Für die Art, wie er seine Arbeit macht, ist auch sein Schicksal sehr wichtig, durch das er Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus verbringen musste, als ob er vollkommen verrückt gewesen wäre. Er bringt all diese Erfahrungen in sein Schauspiel mit ein. Wenn man es so macht wie er, dann ist es präzise. Er nimmt alles in sich auf. Bobò ist der Protagonist der Ernsthaftigkeit, wenn er auf der Bühne ist, ist er absolut.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

SB-Redakteurin im Gespräch mit Pippo Delbono - © 2010 by Schattenblick

SB-Redakteurin im Gespräch mit Pippo Delbono
© 2010 by Schattenblick

26. November 2010