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BERICHT/103: Omphalos - Tanz der Kulturen ... (SB)


Dernière auf Kampnagel am 16. März 2019: Die europäische Erstaufführung OMPHALOS von Damien Jalet wird zum dritten Mal gezeigt. Die achtundzwanzigreihen hohe Tribüne füllt sich bis auf den letzten Platz. Erwartung ist spürbar.

Langsam erhellen Scheinwerfer die Bühne und lassen eine runde, überdimensional große Satellitenschüssel zum Vorschein kommen. Das Gebilde erinnert an eine alte grau und braun gefärbte Mosaikschale, die sich fast in einem Winkel von 45 Grad dem Publikum entgegen aufgerichtet zeigt. Begleitet von einer anschwellenden Klangkulisse beginnt die Konstruktion sich langsam einmal um sich selbst zu drehen, bis sie schließlich wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen ist. Jetzt befinden sich vier Wesen in ihrer Mitte, in glitzernden, wie mit federartigem Lametta behangenen Anzügen steckend, jeder in einer anderen Farbe. Schnell und rhythmisch vollführen die Wesen ihren Tanz, schreiten in alle vier Richtungen aus und kehren zu ihrem Ursprungsplatz zurück, wo sie wie in einer rituellen Handlung die am Boden liegenden vogelartigen Helme aufnehmen und sich aufsetzen.


Vier Wesen in goldenem, schwarzem, rotem und blauem Anzug mit vogelartigen Helmen in gleicher Farbe stehen in der Mitte der Antenne, zwei in der Lochmitte, zwei am Rand des Loches - Foto: © by Daniel Lugo

Foto: © by Daniel Lugo

Es heißt, Zeus habe eines Tages zwei Adler von beiden Seiten der Welt ausgesandt. Der Ort an dem sie sich trafen, definierte das Zentrum, das "Omphalos" oder auch den "Nabel der Welt". (Damien Jalet über Omphalos) [1]

Die vier Himmelsrichtungen verkörpernd, öffnen die Vogelwesen ein rundes Loch in der Mitte der Schüssel und steigen hinab, nur um gleich darauf scheinbar lehmartige Klumpen aus dem Loch hervorzuholen.


Ein Lehmmensch wird von zwei Vogelwesen auf die Plattform gehoben - Foto: © by Emmanuel Adamez

Foto: © by Emmanuel Adamez

Von der mythologischen Achse zwischen Europa und Mexiko ausgehend, holt OMPHALOS fast vergessene Erzählungen hervor, die sich oftmals aus der Beobachtung des Kosmos speisen. [1]

Aus der Öffnung in der Satelittenschüssel sind keine Lehmklumpen entstiegen, sondern Tänzer, die sich langsam und sehr introvertiert kriechend zum äußersten Rand der Antenne bewegen. Ihr Kopf steckt in einer Maske, der eine Art Schnur, eher noch ein Schlauch, anhaftet, eine Nabelschnur versinnbildlichend, deren Ende noch immer in die Mitte der Schüssel hinunterreicht.

Sechzehn dieser grauen Menschen verteilen sich am Rand um die Antenne. Es scheint, als würden sie sich krampfhaft dort festhalten wollen. Von einem Haken werden alle Nabelschnüre nach oben gezogen. Immer weiter in die Höhe. Die Menschen kriechen, rutschen und wenden sich wieder der Mitte der Schüssel zu. Die lehmartige Substanz wird abgestreift und verschwindet mitsamt den Nabelschnüren im Himmel des Theaters. Die Menschheit ist geboren.


Um den Antennenrand herum verteilen sich die sechzehn Lehmmenschen, die 'Nabelschnüre' von ihren Köpfen ausgehend werden hoch in den Himmel gezogen - Foto: © by Daniel Lugo Um den Mittelpunkt der Antenne versammeln sich die Lehmmenschen, noch immer gehen die 'Nabelschnüre' hoch in den Himmel - Foto: © by Daniel Lugo

Fotos: © by Daniel Lugo


Mythologische und wissenschaftliche Kosmologie, bewusstes und unbewusstes Wissen einbeziehend, wird das Stück zu einer körperlichen Reflektion über die menschliche Wahrnehmung von Zeit, die vielfältig und dehnbar scheint. [1]

In neuer Kostümierung liegen die sechzehn Tänzer im Kreis um den Mittelpunkt der Schüssel. Wie die Muster eines Kaleidoskops bewegen sie ihre Arme und Beine und verändern die Position in einer Art Einheit. Sie atmen im gleichen Rythmus, bewegen sich wellenförmig in Aufwärts- und Abwärtsbewegungen und scheinen wie in einem gemeinsamen Fluß verbunden. Die Antenne setzt sich erneut in Bewegung. Die Tänzer erheben sich vom Boden und bekommen es nicht nur mit der eigenen gewohnten Schwerkraft, sondern auch mit den beweglichen Kräften der Satelittenschüssel zu tun.


Gruppe sitzend um die Mitte der Schüssel, die Arme miteinander verschränkt - Foto: © by Daniel Lugo Gruppe stehend auf der Schüssel verteilt, alle den Blick gen Himmel gerichtet - Foto: © by Emmanuel Adamez

Fotos: links © by Daniel Lugo, rechts © by Emmanuel Adamez


Mit ihren viszeralen Bewegungen versuchen sie, ein Tor zwischen menschlicher Zeit und Parallelzeit zu öffnen und unter Bezugnahme auf Gravitationsgesetze, Geometrie und persönliche Geschichten eine persönliche Kosmologie zu kreieren. [1]

Durch die Drehung der Satelittenschüssel rückt die Unterseite ins Blickfeld des Betrachters. Hier hängen die Vogelwesen in den Gestängen der "Welt" und nehmen sie von unten her ein. Eine akrobatische Leistung wie die Vogelwesen sich im Dämmerlicht mal kopfüber mal in den Kniekehlen aufgehängt sich mit der drehenden Schale mitbewegen. Aber auch auf der sich drehenden Fläche ist es nicht einfach zu stehen oder sich fortzubewegen und dabei nicht zu stürzen. Jetzt steigen die Vogelwesen ganz von dem Gerüst herunter. Die Antenne dreht sich immer weiter.


Vogelwesen hängen an den Gestängen unter der Satelittenschüssel - Foto: © by Emmanuel Adamez

Foto: © by Emmanuel Adamez

Hin- und hergerissen zwischen den vier Himmelsrichtungen, gleich einem atmenden Pendel, erfassen sie zeitgenössische Echos über gestörte Frequenzen, Funksender oder Transmitter, welche physikalisch übersetzen, was nicht sichtbar ist. OMPHALOS bewegt sich zwischen einer fast vergessenen Vergangenheit und einer zunehmend ungewissen Zukunft ... [1]

Sendersalat im Radio. Ein Piepsen, wie ein Signal aus dem All, auf das der Weltraumneugierige schon lange gewartet hat. Sita-Musik als Rückgriff auf die paradoxerweise immer gegenwärtige Vergangenheit erklingt, mischt sich unter all die anderen Töne des Fortschritts. Die Oberseite der Antenne rückt erneut ins Blickfeld und auf ihr erscheinen Menschen von heute. Alle bewegen sich in gleicher Manier. Sie blicken gen Himmel, den Oberkörper nach hinten gedehnt, als ob dort etwas wäre, das sie alle gleichermaßen mit ihren Blicken verfolgten. Eine Macht hält sie im Bann. Die Macht der Medien verwandelt die Menschen in Puppen ohne Fäden. Die Antenne stoppt und die Erde bebt bis hinauf in die Zuschauerreihen. So die Gegenwart.

Eine zweite Deutung ist futuristischer Natur. Die Menschen werden durch die wissenschaftlichen Möglichkeiten - geräuschvoll symbolisiert durch Radio-Wellen, die aus dem Äther zu kommen scheinen - auf den Kosmos aufmerksam, sehen sich in ihrer Zukunft dort oben. Hier liegt gleichzeitig wieder eine Parallele zur Vergangenheit. Denn schon die Maya glaubten an eine Verbindung des Menschen mit dem Kosmos.

Die Vogelwesen erscheinen ebenfalls auf der Plattform. Panik bricht aus, als sei eine außerirdische Macht gelandet. Die Menschen wollen sich retten, Kämpfen krampfhaft ums Überleben. Mehr und mehr von ihnen verschwinden im Mittelloch. Die Vogelwesen lassen kein Überleben zu, selbst das letzte menschliche Wesen stirbt im Todeskampf. Die Menschen sind fort, auch die letzte Frau. Die vier Vogelwesen lassen die Mittelplatten zufallen. Fahles Mondlicht ist wieder das Licht der Stunde.


Vor der Sattelittenschüssel, auf der wieder die vier Vogelhelme liegen, stehen alle 20 Tänzer zum Applaus bereit - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Applaus sagt mehr als viele Worte und dieser kam: mit drei Rückzügen hinter die Bühne und wieder Auftauchen der insgesamt 20 Tänzer und Tänzerinnen wollte das Publikum beim letzten Vorhang die Mitglieder der CEPRODAC-Company mit Klatschen, Stampen und Zurufen nicht mehr von der Bühne lassen.

Zuschauer, die schon gestern bei der Aufführung und auch beim anschließenden Podiumsgespäch waren, kamen erneut zur letzten Aufführung, um sich diese großartige Inszenierung nicht entgehen zu lassen.

Der Schöpfer dieser Welt der Zukunft und der Rückschau in die mythische Vergangenheit blieb beim Applaus im Verborgenen. Wer ist dieser Choreograph? Es ist der Ritter der Kunst und Literatur, zu dem die französische Regierung 2015 den Brüsseler Damien Jalet ernannte. Omphalos, seine neueste Tanztheater-Produktion, entstanden in Zusammenarbeit mit der mexikanischen Tanzcompanie CEPRODAC [2], nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise zwischen Mythen und Wissenschaft, Glauben und Aberglauben, Legenden und Technik, indem Jalet einen cleveren roten Faden bzw. eine Antenne die Vergangenheit, Gegenwart und schlußendlich auch die Zukunft der Menschheit verbinden lässt.

Die Legende von Gott Zeus und seinen zwei Adlern, die er um die Welt sandte, um den Mittelpunkt der Welt (nahe Delphi in Griechenland) zu bestimmen, aufgreifend, geht Jalet durch alle Zeiten und findet einen Bezug zur Gegenwart in Mexiko. 'Omphalo', in der Mythologie auch als 'Nabel' oder 'Nabel der Welt' bezeichnet, welcher in vielen Geschichten von einer Schlange bewacht wird, dieser aus Mythen entstandene Titel des Stückes stellt eine direkte Verbindung zur mexikanischen Hauptstadt her, deren Name 'Mexico' auch 'Nabel des Mondes' bedeutet und deren Flagge ein Adler ziert, der eine Schlange frißt.

Mit vielen thematischen und mythologischen Zusammenhängen und Übereinstimmungen der geographisch weit voneinander entfernt lokalisierten Orte 'Delphi' und 'Mexico City' kreierte Damien Jalet mit den zwanzig Tänzern von CEPRODAC ein neues Meisterwerk des Geschichtenerzählens, das wie üblich in seinen Produktionen die Grenzen zwischen Tanz, Musik, Bühnenbild, Kostümen und Technik intelligent verschwinden lässt. So versinnbildlichte das Spiel mit dem Licht zum einen durch den Eindruck von Sonnenaufgang und -untergang die Zeit. Zum anderen erzeugte das Licht mittels der unterschiedlichsten Einstellungen des sich drehenden Aufbaues der Sattelitenschüssel enorme Spannung. Dieses Wechselspiel gab dem Besucher, der von sich aus betrachtet im dunklen Hallenteil verschwand, wirklich den Eindruck, auf einen sich drehenden Planeten im All herunterzuschauen.

Damien Jalets Themen, die ihn immer wieder bewegen, sind die Natur, der Kosmos und die Entstehung menschlichen Lebens. In OMPHALOS übersetzt er die Mythen über den Ursprung Mexikos in eine ihm eigene und einzigartige Bewegungssprache, begleitet von der Musik des Japaners Marihiko Hara und dem als Klang-Angler [3] bezeichneten Landsmann Ryuichi Sakamoto.

Mythen, Legenden, Hexerei und Rituale - all diese Einflüsse begleiten Damien Jalet seit dem Beginn seiner Karriere als Künstler und Choreograph. Auch inspirierten ihn bislang Orte wie Bali, Japan, Island oder eben Mexiko, welche nicht nur eine vulkanische Gemeinsamkeit haben, sondern viel an Historie und (tänzerischen) Ritualen teilen. Und doch gelingt es dem wahren Künstler Jalet immer wieder aufs Neue in seinen Produktionen auch den Bezug zu unserer modernen Gesellschaft aufzubauen, indem er die Nutzung der aktuellen Technologie durch clevere Verbindungen und Übereinstimmungen mit der Menschheitsgeschichte auf der sich - ebenso wie die Welt - stetig drehenden Bühne darstellt.


CHOREOGRAFIE UND KÜNSTLERISCHE LEITUNG: Damien Jalet
MUSIK: Ryuichi Sakamoto & Marihiko Hara
ADDITIONAL TRACK: Tim Hecker
SOUND: Joel Argüelles
BÜHNENDESIGN: Jorge Ballina
LICHTDESIGN: Víctor Zapatero
VISUALS: Daniel Lugo
TECHNISCHE LEITUNG: José Valdés
BÜHNENARBEIT: Avelino Gómez
REGISSEUR: Á‘ngel Rosas
KOSTÜM: Jean Paul Lespagnard
KOSTÜMBILDNER: Rafael Villegas, Raymundo Sánchez
TEXTIL: Felipe Lara
CEPRODAC TÄNZER*INNEN: Ana Paula Ricalde Castillo, Bryant Pineda Torices, Claudia Nayeli Olvera Rodríguez, Ernesto Peart Falcón, Guillermo IV Obele Bustos, Guillermo Magallón Armenta, Héctor Manuel Ortíz Valdovinos, Ilse Orozco Corona, Jairo Cruz González, Jorge Emmanuelle Sanders Bustos, Juan Á‘ngel Garnica Vázquez, Luis Alberto Ortega Valdez, María Alejandra Corona Pérez, Marlene Coronel Ortiz, Paulina del Carmen Fernández Sánchez, Paulino Josafat Medina Domínguez, Samantha Nevarez del Castillo, Sergio Anselmo Orozco, Yansi Méndez Bautista & Zurisadai de Jesús González Fuente


Anmerkungen:

[1] Worte von Damien Jalet im Abendzettel zur Aufführung "Omphalos"

[2] Damien Jalet entwickelte das Stück mit der mexikanischen Company CEPRODAC, die 2017 bereits mit HORSE[M]EN auf Kampnagel zu Gast war.

[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/neu-im-kino-ryuichi-sakamoto-coda-ein-legendaerer-komponist.2177.de.html?dram:article_id=422771


Im Rahmen des Kampnagel-Festival "Kontext Mexiko" veröffentlichte der Schattenblick 2017 zur Aufführung von HORSE[M]EN folgende Interviews unter THEATER UND TANZ → REPORT:

INTERVIEW/031: Mexikospektive - Die junge, alte, neue Sicht ...     Uta Lambertz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: Mexikospektive - im Spiegel der Kämpfe ...     Jaciel Neri im Gespräch (SB)


27. März 2019


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