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BERICHT/099: Zum Beispiel Schach ... (SB)



Diese besondere Liebe oder Neugier für gefährdete Menschen hat mich übrigens mein ganzes Leben begleitet... (aus: Stefan Zweig, Die Welt von Gestern)

Als Stefan Zweig am 22. Februar, einen Tag vor seinem Freitod im Jahr 1942, sein letztes Manuskript auf den Postweg brachte, hatte er lediglich 250 Exemplare für den Druck geordert.

Der Schriftsteller, in jenen Jahren einer der meistgelesenen Autoren deutschsprachiger Literatur und international bekannt als Protagonist europäischer Kultur, glaubte nicht an den Erfolg seines neuen Werkes. Vielleicht auch, weil Die Schachnovelle nur vordergründig vom Schach, in ihrem dramatischen Kern aber von Haft, Isolation und Folter handelt.


Titelblatt der Erstausgabe - Foto: Andreas Bohnenstengel [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Die Erstausgabe der Schachnovelle von Stefan Zweig [1]
Foto: Andreas Bohnenstengel [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons

Auf einem Schiff treffen der Schachweltmeister Mirko Czentovic, dessen einzige Begabung aus einem tumben slawischen Dorfburschen einen geldgierigen Idioten gemacht hat, der erfolgreiche schottische Tiefbauingenieur McConnor, dessen Leidenschaft weniger der Kunst des königlichen Spiels als der des Gewinnens um jeden Preis gilt und Dr. B., eine seltsam blasse Erscheinung mit kantigen Gesichtszügen, den das Schachspiel in der Isolationshaft der Gestapo vor dem Wahnsinn rettete, um ihn später genau dort hinzutreiben, um das Brett mit den 64 Feldern aufeinander.

"Die Rezeption von Stefan Zweig", schrieb die NZZ 2013, "hat unterschiedliche Phasen durchlaufen. Vor dem Zweiten Weltkrieg einer der grossen Erfolgsschriftsteller deutscher Sprache, wurde er nach 1945 aus ästhetischen Gründen mit Missachtung gestraft." [2] Erst im 21. Jahrhundert, als Dekonstruktion und selbstbespiegelnde Sprachspiele ihren Reiz verloren hatten und das Erzählerische wieder mehr in den Mittelpunkt rückte, erlebte er eine Renaissance. Und die Lektüre zeigt, wie aktuell er ist.

Die Schachnovelle, die heute als das bekannteste Werk des Dichters gilt und durch Generationen von Schülern und Wissenschaftlern zahllose Interpretationen erlebt und erlitten hat, die 1960 mit Curd Jürgens, Hans Jörg Felmy, Mario Adorf u.a. verfilmt wurde, als Oper 2013 im Kieler Opernhaus zur Uraufführung kam und auch als Theaterstück den Weg auf die Bühne fand, war am Abend des 29. Oktober 2018 Gegenstand einer Lesung im Theater der Komödianten in Kiel. Mit Stenzel liest hat sich - in Zusammenarbeit mit der Volksbühne Kiel e.V. - seit Jahren ein Format etabliert, das jeweils am letzten Montag im Monat eine zwar überschaubare, aber sehr aufmerksame Zuhörerschaft um den Schauspieler Horst Stenzel im Zimmertheater an der Wilhelminenstraße versammelt.


Der Schauspieler Horst Stenzel hinter dem Lesetisch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Stenzel liest ...
Foto: © 2018 by Schattenblick

Als der Ich-Erzähler erfährt, daß der Schachweltmeister Mirko Czentovic mit an Bord eines Überseedampfers reisen wird, der Passagiere von New York nach Buenos Aires bringt, läßt er sich einiges einfallen, um dessen Bekanntschaft machen zu können. Der beste Köder, so schlußendlich sein Plan, dürfte das Schachspiel selbst sein. Aber der Meister beißt nicht an. Erst der Einsatz einer nicht unerheblichen Summe von 250 Dollar durch den schwerreichen Ingenieur McConnor vermag Czentovic zum Spiel zu reizen. Obwohl der Weltmeister gegen eine ganze Gruppe antritt, gewinnt er mit Leichtigkeit die Partie. Revanche!

Auch das zweite Spiel scheint für die Herausforderer in einer Niederlage zu enden. Da mischt sich im entscheidenden Moment ein unauffälliger, merkwürdig blasser Passagier ein. Obwohl der Fremde vorgibt, seit 25 Jahren kein Schachbrett mehr berührt zu haben, gelingt mit seiner Hilfe zumindest ein Remi. Jetzt ist der Meister auf den Plan gerufen - verlangt ein neues Spiel am nächsten Tag, diesmal allerdings zwischen ihm und diesem Dr. B. allein. Die Partie endet mit einer Niederlage des Weltmeisters, eine weitere allerdings mündet in eine emotionale Katastrophe des Dr. B.. Der Ich-Erzähler, dem er tags zuvor an Deck des Schiffes seine Geschichte erzählt hat, kann Schlimmeres verhindern.

Als Rechtsanwalt war Dr. B. in der österreichischen Kanzlei seines Vaters, später allein, mit der Verwaltung kirchlicher und auch kaiserlicher Güter betraut. Die Kanzlei operierte im Stillen, konnte aber nicht verhindern, daß sich auch bei ihr ein Spitzel der Nazis einschlich. So kam es, daß Dr. B. bereits einen Tag, bevor Hitler in Wien einzog, von der SS verhaftet wurde. Statt ins Gefängnis allerdings sperrt man ihn in ein Hotelzimmer. Was zunächst als die harmlosere Haftvariante und scheinbar bevorzugt erscheint, erweist sich als die Hölle.

Auge, Ohr, alle Sinne bekamen von morgens bis nachts und von nachts bis morgens nicht die geringste Nahrung, man blieb mit sich, mit seinem Körper und den vier oder fünf stummen Gegenständen Tisch, Bett, Fenster, Waschschüssel rettungslos allein; man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean dieses Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, daß das Seil nach der Außenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe. Es gab nichts zu tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall und ununterbrochen war um einen das Nichts, die völlige raumlose Leere. [3]

Und das über viele Monate. Kurz, bevor er dem Wahnsinn erliegt und alles zuzugeben bereit ist, was man von ihm hören will, gelingt es Dr. B., während eines der zahllosen Verhöre, ein Buch zu stehlen: ein Werk mit 150 berühmten Schachpartien. Zunächst über den Inhalt tief enttäuscht, stürzt er sich bald darauf, lernt alle Partien auswendig, spielt anfangs mit Brotkrümeln auf dem karierten Bettuch, später 'blind'. Als sich diese Strategie der Beschäftigung nach weiteren Monaten der Haft erschöpft, fängt er an, im Kopf gegen sich selbst zu spielen; aber was ihn zu retten schien, treibt ihn nun neuerlich in den Wahnsinn. Die Folge ist der vollständige Zusammenbruch. Durch die Hilfe eines zugewandten Arztes wird er entlassen, allerdings mit der Auflage, das Land binnen 14 Tagen zu verlassen. So kommt er auf das Schiff.

Auf äußerst eindringliche und fesselnde Weise, erzählerisch reich, aber nie ausschweifend, beschreibt Stefan Zweig, was mit einem Menschen geschieht, der von allen Sinneseindrücken und jeglicher Kommunikation abgeschnitten ist.

Seit Menschengedenken wird die weiße Folter, so benannt, weil sie keine äußerlich sichtbaren Spuren hinterläßt, angewandt, ist nicht nur ein Mittel zur Erzwingung von Geständnissen, sondern auch probates Werkzeug der Erniedrigung und Entmenschlichung von Gefangenen und gleichermaßen und folgerichtig Gegenstand der Erforschung von Machbarkeit und Grenzen der Manipulation von Menschen.

Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf, ... das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen, wie Backobst z.B., das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert - das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt - das Gefühl, man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann ... Man kann nicht klären, ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert - man kann nicht klären, warum man zittert - man friert ... Das Gefühl, man verstummt - man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren, nur noch raten ... Kopfschmerzen - flashs - Satzbau, Grammatik, Syntax - nicht mehr zu kontrollieren ... Das Gefühl, innerlich auszubrennen ... Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewußtsein, daß man keine Überlebenschance hat ... Das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden. [4]

Diese Zeilen sind keine Literatur. Sie stammen von Ulrike Meinhof, geschrieben zwischen dem 16. Juni 1972 und dem 9. Februar 1973 aus der Zeit ihrer Isolation in der Vollzugsanstalt Köln-Ossendorf, in der sie für acht Monate, so lange, wie kein Häftling zuvor, visuell und akustisch vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war.

Die Empörung über diesen Umgang mit Gefangenen, der nicht nur unmenschlich, sondern auch eines Rechtsstaates unwürdig ist, beschränkte sich damals auf einige wenige, Familie, Freunde, Weggefährten, der Mehrheit der Gesellschaft war für die Mitglieder der Roten Armee Fraktion keine Strafe hart genug.

Mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregten in späteren Jahren Bilder aus Guantanamo oder Abu-Ghuraib, die das Ansehen Amerikas in der Welt zumindest zeitweise schwer beschädigten, zumal die Perversion weißer Folter keine Grenzen zu kennen schien. Geändert hat sich seitdem - nichts.


Der Dichter im Porträt - Foto: By s/a [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Stefan Zweig um 1912
Foto: By s/a [CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)], via Wikimedia Commons

Es ist nicht schwer anzunehmen, daß Stefan Zweig mit der Darstellung des Dr. B. auch ein Stück seiner eigenen Geschichte erzählt. Geboren 1881 in Wien als Sohn wohlhabender Eltern studiert er Philosophie, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin, promoviert bereits 1904 zum Dr. phil.. Er schreibt viel und reist gern und weit. 1933 werden auch seine Bücher verbrannt, er selbst ins Exil getrieben, abgeschnitten und isoliert von Freunden, Familie, von eigener Kultur und Sprache.

Konzentriert und die Hörer trotz eines gehörigen Tempos mitnehmend, das Gelesene mit gezielten Gesten lebendig veranschaulicht, zieht Horst Stenzel, selbst leidenschaftlicher Leser und Vorleser und Freund des gedruckten Buches auf Papier, wie er in einem Gespräch mit dem Schattenblick bekennt, das Publikum über eine Stunde in den Bann dieser Erzählung. Bei der sprachlichen Dichte sei es nicht günstig, eine Pause zu machen, kommentiert er eingangs, auch die notwendige Kürzung auf das Format eines Leseabends sei schwierig gewesen.


Der Schauspieler im Halbseitenporträt - Foto: © 2018 by Schattenblick

Horst Stenzel im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2018 by Schattenblick

Auf unsere Frage, was ihn an dieser Novelle am meisten berührt habe, antwortet der Schauspieler: "Die Figur des Dr. B., das, was wir heute als Isolationsfolter bezeichnen würden. Dann der Versuch, sich über dieses Buch zu retten, irgendetwas, an das man sich halten kann. Das gelingt ja letztendlich nicht, weil er sich so in die Schachpartien wirft, daß er darüber den Verstand verliert."

Die Schachnovelle ist eine erschreckend aktuelle Erzählung darüber, was Isolation und Folter bedeuten, man kann sie aber auch lesen als ein gelungenes Stück Literatur über Schach mit zeitkritischen Anklängen. Am Abend des 29. Oktober stand, das zeigte das abschließende Gespräch mit dem Publikum, in dem sich auch der Vorlesende als begeisterter und kundiger Spieler zu erkennen gab, wenngleich er - eine Wortschöpfung Zweigs aufgreifend - Schach nicht "ernstet", mehr das Spiel im Vordergrund als die Folter.

Mag sein, daß alles andere zu sehr an und unter die Haut ginge.


Eingang zum Theater Die Komödianten in Kiel - Foto: © 2014 by Schattenblick

Foto: © 2014 by Schattenblick


Anmerkungen:

[1] Die aufgeschlagene Erstausgabe der Schachnovelle von Stefan Zweig. Sie ist Bestandteil der Bibliothek der verbrannten Bücher von Georg P. Salzmann (1929 bis 2013), die seit 2009 in der Augsburger Universitätsbibliothek beheimatet ist.

[2] https://www.nzz.ch/gerechtigkeit-fuer-stefan-zweig-1.18130252

[3] Stefan Zweig, Die Schachnovelle, Buenos Aires 1941, zitiert aus: 234. Hamburger Leseheft, Hamburger Lesehefte Verlag, S. 27

[4] Ulrike Meinhof, Briefe aus dem Toten Trakt, aus: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF), GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte, 1. Auflage, Köln Oktober 1987, Nr. 8, S. 90f


6. November 2018


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