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BERICHT/086: Die Zeitraffer - gekrümmte Linien ... (SB)



Wie in einem etwas albernen Film aus den 70er Jahren dudelt monotone Fahrstuhlmusik in Dauerschleife aus den Lautsprechern des kleinen Theaters. Noch während das Publikum sich langsam zu setzen beginnt, tummelt sich schon eine Vielzahl von Darstellern in dem Raum, die völlig unbekümmert ihren Tätigkeiten nachgehen. Ein lautes "KLACK" ist zu hören, als ein Mann hinter seinem Schreibtisch mit eindrucksvoller Vehemenz auf einen Tacker einschlägt. Ganz stumm hingegen bleibt die Malerin, die sich eine gläserne Staffelei auf einen rollenden Stuhl geschnallt hat und darauf Portraits einzelner Zuschauer mit einem roten Lippenstift zeichnet. Ist eines fertig, wird ein Abdruck davon auf einen weißen Zettel gebannt, umgehend an den Mann hinter dem Schreibtisch weitergereicht und "KLACK" wird die nächste Tackernadel genussvoll ins Papier getrieben. Im Hintergrund treiben sich Menschen zwischen schiefen Regalen herum und schleppen dutzende Aktenordner hin und her, während von der Decke hängende Gesichter aus Eis langsam zu schmelzen beginnen und in die darunter aufgestellten Weingläser tropfen. "Willkommen bei der Zeitraffer Bank, leider sind derzeit alle unsere Leitungen belegt ..", ertönt eine Durchsage und leitet damit das Thema des Stückes ein. Um Zeit wird es gehen, darum wie wir sie wahrnehmen, mit ihr umgehen und was sie für uns bedeutet. Der Herr hinterm Schreibtisch jagt mit großer Geste eine weitere Nadel in einen Papierstapel und beginnt zu erzählen:


Eine Frau mit Brille blickt durch eine Glasscheibe auf einen jungen Mann, den sie mit einem Lippenstift sorgsam portraitiert. - Foto © 2017 by Fabian Hammerl

Momentaufnahmen der Zuschauer mit Lippenstift auf Glas gebannt
Foto: © 2017 by Fabian Hammerl

Zeit ist etwas, das für uns trotz der intensiven Auseinandersetzung von Natur- und Geisteswissenschaften mit diesem Phänomen nur schwer begreiflich ist. Newtons Idee von einer linearen und konstanten Zeit, auf der unser traditionelles, physikalische Verständnis beruht, ist durch Relativitätstheorie und Unschärferelation inzwischen widerlegt. Eigentlich hat der Mensch aber derartige quantenmechanische Erkenntnisse gar nicht gebraucht, um zu verstehen, dass die Zeit nicht eindimensional vor sich hin strömt, sondern von vielen Faktoren beeinflusst wird. Schon die alten Griechen hatten in ihrer Götterwelt gleich zwei Verantwortliche für die Zeit. Zum einen Chronos, der die newtonsche, fließende Zeit beherrschte, und zum anderen Kairos, der für den Augenblick im Hier und Jetzt stand. Dieses widersprüchliche Empfinden spiegelt sich auch in unserer alltäglichen Wahrnehmung der Zeit wieder, die sich zwar insgesamt konstant zu verhalten scheint, sich im Augenblick jedoch krümmt und dehnt, je nachdem wie lustvoll oder quälend wir diesen empfinden. Nun, da wir dank Einstein, Heisenberg und Co. wissen, dass die Zeit von der Materie beeinflusst und gekrümmt wird, kann man sich fragen, ob unsere Wahrnehmung von Zeit so subjektiv ist, wie wir zu wissen meinen, oder ob auch diese Krümmung eine reale ist.


Ein Junger Mann mit freiem Oberkörper schlägt mit einem Hammer auf ein Gesicht aus Eis, das er in ein Handtuch gewickelt hat. Daneben sitzt der Erzähler hinter einem Schreibtisch und blickt versonnen auf seine Unterlagen. - Foto: © 2017 by Fabian Hammerl

Die zerfließende Zeit, in ein Gesicht aus Eis gebannt, kommt unter den Hammer.
Foto: © 2017 by Fabian Hammerl

Auf die eine oder andere Art diskutieren die Darsteller derartige Fragen rund um das Thema Zeit und geben Impulse zum Nachdenken. Dabei werden philosophische Cola Cocktails geschlürft, vergnügliche Zeitauktionen mit dem Publikum veranstaltet, in denen man aushandelt, ob der spendable Zuschauer lieber den verhassten Montag am Wochenanfang oder fünf Minuten in der Warteschlange an der Supermarktkasse zu besserem Gebrauch verschenken möchte. Uhren tanzen durch den Raum und ein Orakel sagt voraus, wer heute Abend sterben wird.

Vergnüglich ist es, mit anzusehen, wie die Mitglieder des Klabauter Theaters es gemeinsam mit dem Künstlerduo "Die Azubis" geschafft haben, ein derart schwieriges und abstraktes Thema mit so viel Spaß zu füllen. Besonders, als die überkommene Verwaltung der Zeitraffer Bank für obsolet erklärt wird und der dort angestellte "Zeitgeist des 20. Jahrhunderts" beginnt, leere Aktenordner auf ihre Kollegen zu werfen und sich dabei so vergisst, dass man kurz Panik in den Augen der anderen Darsteller aufflackern sieht, wird klar, mit wie viel Elan und Freude alle Beteiligten dabei sind. Die etwas skurrilen Gesangseinlagen und das teilweise nicht ganz geglückte Einbeziehen des Publikums sind leicht verziehen. Mit "Die Zeitraffer" zeigen alle Beteiligten, dass ein modern inszeniertes Stück ohne stringenten Handlungsverlauf wirksam und freudvoll sein kann, wenn man sich selbst dabei nicht zu ernst nimmt. Vor allem aber dann, wenn die Darsteller das Publikum in eine andere Welt entführen, in der die Regeln der Gesellschaft, der Physik und der Zeit für einen Moment außer Kraft gesetzt werden.


Ein Blick aus dem linken Winkel auf die Bühne, wo mehrere Darsteller sich versammelt haben. Im Vordergrund der Erzähler hinter seinem Tisch, der eine bedeutsame Handbewegung macht. Vor der Bühne sitzt eine Frau im Rollstuhl, hinter der ein Mann und eine Frau mit Mikrophon eine Auktion abhalten. Auf der Bühne steht ein Mann in einem Bademantel neben dem mit einem Turban bekleideten Orakel. - Foto: © 2017 by Fabian Hammerl

Das Todesurteil des Orakels führt zu einer turbulenten Zeitauktion.
Foto: © 2017 by Fabian Hammerl

"Die Zeitraffer", Premiere am 01.07.2017 im Klabauter Theater.
Es findet eine weitere Vorstellung am 16.07.2017 um 16 Uhr statt.


13. Juli 2017


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