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BERICHT/085: Kampnagel Sommerfestival ...    bewegende Zeiten (SB)


Am 16. Juni hat Kampnagel zur Vorstellung seines Programms für das Sommerfestival 2017 eingeladen, das vom 9. bis zum 27. August das kulturelle Leben in Hamburg bereichern wird. Nach einer kurzen Begrüßung durch Intendantin Amelie Deuflhard hat sich Festivalleiter András Siebold etwa eine Stunde dafür genommen, die verschiedenen Künstler,Aufführungen und Installation vorzustellen, die demnächst in der Hansestadt zu erleben sein werden. Wie nicht anders zu erwarten, hat Kampnagel für das diesjährige Sommerfestival ein Programm zusammengestellt, das sich absolut sehen lassen kann und aus dem an dieser Stelle lediglich einige Highlights hervorgehoben werden.

Amelie Deuflhard stehend, hinter ihr András Siebold - Foto: © 2017 by Schattenblick

Grußwort von Amelie Deuflhard
Foto: © 2017 by Schattenblick

Im Bereich Theater wird das experimentierfreudige Trio Forced Entertainment aus der einstigen englischen Stahlhochburg Sheffield zu sehen sein, das in seinem schrägen Stück "REAL MAGIC" die Hölle des Reality-Fernsehens in Form einer Endlosschleife aus Quizfragen persifliert. Unter dem Titel "The Second Season" bringt die kanadische Gruppe Socalled & Friends um Josh Dolgin eine aberwitzige Gesellschaftssatire auf die Bühne, deren Darsteller fast ausschließlich aus Tierpuppen bestehen. Die einzige Ausnahme bildet Fred Wesley, der Funk-Pionier aus Parliament, und James Browns JBs, der hier erstmals als Schauspieler in der Rolle des Besitzers einer Posaunenfabrik auftritt. Die Kubanerin Tania Bruguera wartet mit einer eigenwilligen Inszenierung von Samuel Becketts "Endspiel" auf, in der das Bühnenbild - passend zum aktuellen Thema Überwachungsstaat - stark an Jeremy Benthams Panopticon erinnert. In der von Philippe Quesnes entworfenen, zunächst völlig skurril anmutenden "Nacht der Maulwürfe" spielen sieben Schauspieler mitten in einer fantastischen, entsprechend düsteren Bühnenarchitektur das unterirdische Leben dieser scheuen Kreaturen nach und hinterfragen auf witzige Weise die Alltagsbeschäftigungen der vermeintlichen Herren der Schöpfung.

Eröffnet wird das Sommerfestival von der Truppe um den schottischen Tanzmeister Michael Clark, der, obwohl Absolvent der Royal Ballet School, bereits in den achtziger Jahre durch Crossover-Auftritte u.a. mit der Post-Punk-Band The Fall berühmt wurde. In seinem neuesten Stück setzen Clark und seine Mittänzer Musik von Erik Satie, Patti Smith und David Bowie körpersprachlich in Szene. Unter dem Titel "Monument 4.0" wird die ungarische Choreographin Eszter Salamon mit neun Tänzern am Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe eine Mélange verschiedener nicht-europäischer Tanzstile präsentieren.


Pressekonferenz im Kartenverkaufbereich auf Kampnagel - Foto: © 2017 by Schattenblick

András Siebold blickt zur lebensgroßen Pappmaché-Figur von Juan Dominguez hin
Foto: © 2017 by Schattenblick

Marlene Monteira Freitas aus Portugal hat eine durch Elemente des Karnevals angereicherte Version der klassischen Tragödie "Die Bakchen" von Euripides kreiert, die nach dem Urteil von András Siebold aktuell die "wichtigste Arbeit der Tanzwelt" ist. Entsprechend glücklich schätzen sich die Kampnagel-Verantwortlichen, Freitas und ihre Kompanie im August an die Elbe holen zu können. Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso hat sich intensiv mit dem Wirken von Fela Kuti, dem Gründer des Afrobeats, der bis zu seinem Tod 1997 der Militärdiktatur in seinem Heimatland Nigeria ein Dorn im Auge war, auseinandergesetzt. Das Ergebnis ist das Tanzstück "Kalakuta Republik", das sich aus der Musik und dem ereignisreichen Leben Kutis speist. An 17. August wird im Anschluß daran sogar Seun Kuti mit Egypt 80, der legendären Band seines Vaters, auf Kampnagel ein Konzert geben.

Musikalisch kommt es auf dem Sommerfestival 2017 zu einer Zusammenarbeit zwischen Kampnagel und der Elbphilharmonie, dem neuen Aushängeschild Hamburgs am Hafen. Dort wird an einem Abend die alternative Gitarrenband Tindersticks aus Nottingham eine Homage an den frühen Filmemacher F. Percy Smith zu Bildern aus dessen Werken spielen und an einem anderen Abend der kanadische Singer-Songwriter Rufus Wainwright Stücke von Judy Garland singen. Zu den anderen Musikern, die im Rahmen des Sommerfestivals auf Kampnagel zu belauschen sein werden, gehören der kanadische Gitarrist Daniel Lanois, der vor allem als U2-Produzent bekannt ist, das amerikanisch-französische Dream-Pop-Duo Beach House aus Baltimore und die einflußreiche Indie-Rock-Kombo Deerhoof aus San Francisco.


András Siebold, hinter ihm Eszter Salamon auf dem TV-Monitor - Foto:  © 2017 by Schattenblick

Der Festivalleiter kommt mit seinen Erläuterungen in Fahrt
Foto: © 2017 by Schattenblick

Auf dem Plakat und der Vorderseite des Programmhefts für das diesjährige Sommerfestival steht im Anzug, und damit quasi als Politiker verkleidet, Juan Dominguez. Der Spanier, der als führender Performance-Künstler gilt, wird zusammen mit seiner Kollegin Arantxa Martinez im Freien ein "Avant-Garden" gestalten und auf dem Kampnagel-Gelände über mehrere Abende für Aufregung und Überraschungen sorgen. Der Performer und Videokünstler Kim Noble aus England wird sein Stück "You are not alone", in dem sich alles um das Fehlen menschlicher Nähe im digitalen Zeitalter dreht, aufführen, während in der Hamburger HafenCity die Gruppe Geheimagentur mit "Freeport Baakenhöft" ihre Vision eines menschenfreundlichen Seehandels und Kulturaustausches vorspielen und damit zur Diskussion stellen will.

Im Schanzenviertel wird Jimmy Cauty von der berüchtigten Chaos-Musikduo KLF ein Schiffscontainer aufstellen, in dem drei Wochen lang seine Installation "The Aftermath Dislocation Principle" für Besucher zu bestaunen sein wird. Es handelt sich hier um eine durch Aufstände zerstörte, quasi nur noch von Polizisten und Katastrophenhelfern bevölkerte Miniaturstadt. Das verstörende Kunstwerk, das 2016 in England als Teil von Banksys Anti-Vergnügungspark "Dismaland" Furore machte, ist aktuell im Rahmen der sogenannten "ADP Riot Tour" europaweit unterwegs und dürfte gewissermaßen als ernüchternder Gegenentwurf zum Miniatur Wunderland in der Hamburger Speicherstadt verstanden werden. Neben der beeindruckenden Vielfalt an kulturellen Leckerbissen wird es auf Kampnagel auch Vorträge und Diskussionsrunden unter anderem mit dem belorussischen Publizisten Evgeny Morozov und dem Schweizer Journalisten Hannes Grassegger zu Themen wie digitalisierte Gesellschaft, Vermischung von Politik und Show Business, gläserner Mensch, Zukunft der Demokratie u. v. m. kommen.


Interviewszene am Kaffeetisch - Foto: © 2017 by Schattenblick

SB-Redakteur im Gespräch mit András Siebold
Foto: © 2017 by Schattenblick

Im Anschluß an der Pressekonferenz konnte der Schattenblick ein kurzes Gespräch mit András Siebold führen. Er bestätigte den Eindruck, daß im diesjährigen Sommerfestival-Programm mit Michael Clark, Jimmy Cauty, den Tindersticks und Forced Entertainment die Briten stark vertreten seien und man damit ein Zeichen gegen Brexit und gegen ein kulturelles Abdriften des Vereinigten Königreichs vom europäischen Festland setzen wolle. Dazu sagte Siebold: "Die Tindersticks leben zum Teil in England und Frankreich. Europa ist etwas, das sie als Band verbindet. Mit Brexit wird für sie das Leben und die Zusammenarbeit schwieriger. Das neue Stück von Forced Entertainment, bei dem es um das Gefangensein in der Endlosschleife einer Game-Show geht, kann gut als Metapher der Brexit-Lage der Briten gelesen werden. Es ist wie eine Stagnation; niemand weiß, wie es weiter geht. Die Insel ist plötzlich isoliert. Die Schotten streben nach der Unabhängigkeit. Viele fragen sich, wie sie da wieder raus kommen.

Zur Frage nach der Relevanz des Projektes "Free Port Baakenhöft" von Geheimagentur/Hamburg Port Hydrarchy meinte der Festivalleiter:

"Das ist eine ganz wichtige Gruppe, die zwischen Theorie und Aktion oder Performance arbeitet und die eine mehrjährige Recherche rund um den Hamburger Hafen betreibt. Die Mitglieder haben mit vielen Wissenschaftlern, Theoretikern und Aktivisten Informationen über alternative Seefahrt ausgetauscht. Sie unterstützen die Bewegung Radical Seafaring, bei der eine alternative Hafenbenutzung bis hin zu einer anderen Art des Seehandels angestrebt wird. Da spielen viele Fragen eine Rolle wie zum Beispiel die Elbvertiefung in Hamburg, die stetig steigende Größe von Container- und Kreuzfahrtschiffen bei entsprechender Belastung für die Weltmeere und die Hafenstädte, Export von Elektromüll in die dritte Welt, der Migrationsstrom von dort in die Industriestaaten et cetera. Mit all diesen Fragen sowie auch mit der Geschichte der westlichen Seefahrt am Beispiel Hamburg hat sich Geheimagentur kritisch auseinandergesetzt. Ich glaube, ihre Aktion am ehemaligen 'Afrika-Terminal' wird total super."


Große Halle auf Kampnagel samt Festivaltransparent und -plakaten - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kampnagel lädt ein
Foto: © 2017 by Schattenblick


20. Juni 2017


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