Schattenblick → INFOPOOL → THEATER UND TANZ → REPORT


BERICHT/062: Als mein Vater ... - selbstzufrieden (SB)


"Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor"

Premiere des Stückes nach dem gleichnamigen Buch von Joke van Leeuwen am 11. Oktober 2015 im Fundus-Kindertheater in Hamburg-Wandsbek


Treppenaufgang zur Eingangstür in herbstlicher Hinterhof-Atmosphäre mit Bäumen und Blumentöpfen - Foto: © 2015 by Schattenblick

Eingang zum Fundus-Kindertheater
Foto: © 2015 by Schattenblick

Im Mittelpunkt der aus der Sicht eines Kindes erzählten Geschichte steht das Mädchen Toda, das erlebt, wie der Krieg in seine Stadt kommt. Ihr Vater wird "ein Busch", denn als Soldat muß er sich tarnen. Zuhause ist Toda nicht mehr sicher und so schickt ihre Oma sie fort. Allein. Nach "woanders", in ein Land, das Frieden und Sicherheit verspricht und in dem ihre Mutter wohnt.

Das Kindertheater Kirschkern & COMPES, bestehend aus den Schauspielerinnen Sabine Dahlhaus und Judith Compes, initiierte dieses Stück. Das mobile Theaterduo, das seit 1998 mit seinem Tourneebus in Schulen, Kitas, Jugendhäusern etc. gastiert, stieß auf der Suche nach einem neuen Stoff, der es Kinder möglich machen könnte, sich mit Menschen zu identifizieren, die im Krieg und auf der Flucht sind, auf das Buch von Joke van Leeuwen. Für die Regiearbeit holten sie Luise Taraz ins Boot, die mit ihrem Team (Marie Stolze/Dramaturgie und Julia Berndt/Bühnenbild und Kostüme) die Hamburger Bühnenfassung des Stoffes erarbeitete.


Im Foyer des Fundus-Theaters angebrachte Schultafel mit der handgeschriebenen Aufschrift 'Als mein Vater ein Busch wurde' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Statt eines Plakats
Foto: © 2015 by Schattenblick

Vorhang auf ...

Premieren-Nachmittag im Fundus-Theater. Es wird viel umarmt und gestreichelt, Küßchen fliegen durch die Luft. Man kennt sich. Unter den schätzungsweise 75 Personen verlieren sich die knapp 15 anwesenden Kinder. Es sind hauptsächlich Freunde und Bekannte der Schauspielerinnen und des dreiköpfigen Regie-Teams, die heute gekommen sind. Im Fundus-Theater ist das häufig so. Die eigentliche Premiere, das sagte auch Schauspielerin Judith Compes nach der Aufführung, wird am Dienstag sein, wenn die ersten Schulklassen kommen, um sich das Stück anzusehen.

Es herrscht fröhliche Aufregung, dann, im Theatersaal, als alle ihren Platz gefunden haben, gespannte Erwartung. Auf der Bühne ist vor einem mit schwarzen Tüchern verhängten Hintergrund eine Art Haufen zu sehen. Er besteht aus zahlreichen Stoffen und Kleidungsstücken, die kreuz und quer auf einem Unterbau verteilt sind, welcher von den Sachen vollständig verdeckt wird. Es sind schöne Kleider darunter, manche davon glitzern, sie zeigen, daß sie dem Besitzer etwas wert sind. Das ist Todas Zuhause.


Foto: © by Nino Herrlich

Der 'Haufen' und die Schauspielerinnen Judith Compes (Toda, links) und Sabine Dahlhaus (wechselnde Rollen, hier als Wachmann, rechts)
Foto: © by Nino Herrlich

An das Publikum gewandt erzählt Toda, was sich verändert hat, seit der Krieg in ihr Land gekommen ist. Ihr Vater, der früher Feinbäcker war und jeden Tag zwanzig Sorten Kuchen und drei verschiedene Torten hergestellt hat, ist nun "ein Busch", denn er mußte Soldat werden und tarnt sich auf diese Weise. Ihre Oma ist jetzt häufig unterwegs, um "Besorgungen zu machen", aber es ist nicht die Art von Besorgungen, die sie früher machte, denn sie sei jetzt immer sehr aufgeregt und meint außerdem, daß Toda zuhause nicht mehr sicher ist, berichtet das Mädchen weiter.

Als die Oma heute fortging, schärfte sie Toda ein, daß sie niemanden hereinlassen dürfe. Doch nun pocht es an der Tür. Immer heftiger. Toda bekommt große Angst, denn sie vermutet dort den Feind, von dem sie zwar keine genaue Vorstellung hat, den sie aber als sehr bedrohlich empfindet. Dann hört sie ihren Namen. Wie kann der Feind ihren Namen wissen? Und sie erkennt die Stimme der Oma. Die ist ganz außer sich, als das Mädchen sie endlich hereinläßt, Toda müsse fort, jetzt gleich. Sie könne nur eine kleine Tasche mitnehmen, mit Keksen, einem Heft zum Schreiben, einem Stift. Zur Mutter würde sie fahren, die in einem Land wohne, wo es sicher sei. Schnell notiert sie Toda die Adresse in das Heft.

Zunächst fährt Toda mit vielen anderen Kindern zusammen in einem Bus, denn Leute, die dafür bezahlt werden, sollen sie über die Grenze bringen. Unterwegs übernachten sie in einem riesigen Saal mit sehr vielen Betten. In einem anderen Saal sind lauter alte Frauen, die sich so sehr nach ihren eigenen Enkelkindern sehnen, daß sie alle Toda auf den Schoß nehmen wollen und sich gegenseitig darin überflügeln, ihr die schönsten Dinge zu versprechen. Ein zweiter Busfahrer nimmt Toda ihr letztes Geld ab. Beim nächsten Halt lernt sie einen ehemaligen General kennen, der ihr zu essen gibt, dafür aber möchte, daß Toda bei ihm und seiner Frau wohnen bleibt. Toda läuft weg und versucht, mit einer Gruppe von Flüchtlingen zu Fuß über die Grenze zu kommen, verliert die anderen aber im Dunkeln. Sie versteckt sich in einer Hütte im Wald, wo sie auf einen Soldaten trifft, der desertiert ist.

Schließlich überquert sie die Grenze. Sie merkt es erst daran, daß die Menschen eine andere Sprache sprechen. Ihr eigentlicher Name hat in dieser Sprache eine komische Bedeutung, deshalb heißt sie jetzt Toda. Die Adresse ihrer Mutter hat sie unterwegs verloren und man glaubt ihr ihre Geschichte nicht. Als sie dem General eine Nachricht schrieb, riß sie aus Versehen gerade die Seite aus ihrem Heft, auf die die Oma die Adresse geschrieben hatte. Ärzte und Beamte stellen ihr unangenehme Fragen. Glücklicherweise bemerkt jemand, daß die Schrift der Großmutter sich auf die nächste Seite durchgedrückt hat, und so kann Toda zu ihrer Mutter gebracht werden, wo sie nun bleibt, bis ihr Vater kein Busch mehr zu sein braucht.

Hinter den Kulissen

Die Hamburger Inszenierung von "Als mein Vater ein Busch wurde" ist ein durchdachtes und sorgfältig geplantes Stück. So ist beispielsweise das Bühnenbild, der "Haufen" voller schöner Dinge, ein gelungener Kompromiß aus den Bedingungen - sämtliche Requisiten müssen in den Tourbus des mobilen Theaters Kirschkern & COMPES hineinpassen - und den Möglichkeiten des Theaters, einen abstrakten Bühnenraum zur Verfügung zu haben, der ganz bewußt nicht die Realität abbilden braucht und soll. Der Haufen als Rückzugsort, der im Verlauf der Handlung immer mehr demontiert wird, bis nur noch rohe Kisten übrig bleiben, macht als sichtbare Umsetzung von Todas Seelenzustand deutlich, daß sie sich am Ende ihrer Flucht zwar "in Sicherheit" befindet, damit aber noch lange nicht alles in Ordnung ist. Ein starkes Bild, das Kinder sicher gut verstehen.

Die Kostüme hingegen sind gewöhnungsbedürftig. Ein Ex-General in schwarz-weißen Leggins, mit schwarzem Tutu, Pelzmütze und zu allem Überfluß auch noch einem knallorangenen Chiffonkragen um den Hals ist schon ein sehr abstraktes Wesen, auch wenn er eine Art Uniformjacke trägt. Die Oma kommt clownsmäßig daher mit einem übertrieben weiten Rock, dazu absolut nicht passender Oberbekleidung, merkwürdiger Perücke und einem Gang wie ein Seebär nach dem Genuß von zwei Flaschen Rum. Die Figur, die mit marktschreierischem Getue alle unangenehmen Personen dieses Stückes verkörpert wie den Schleuser, den Wachmann oder den geldgierigen Busfahrer, ist mit knallroter Jacke, Sonnenbrille, schwarzem Hut und ebenfalls schwarzweißen Leggins ausgestattet. Sabine Dahlhaus, die alle Rollen außer Toda verkörpert, hat alle Hände voll damit zu tun, die Kostüme zu wechseln, was sie zum Teil versteckt, zum Teil auch offen sichtbar auf der Bühne tut.


Sabine Dahlhaus in schriller Kostümierung als 'Schleuser', laut und unangenehm, wie es die Rolle vorschreibt - Foto: © by Nino Herrlich

Der Schleuser
Foto: © by Nino Herrlich

Bewußt wurden klamaukige Szenen eingebaut, denn Kindertheater soll natürlich auch Spaß machen. So wird zum Beispiel die bedrückende Furcht, die sich gleich zu Beginn aufbaut, als Toda das unheimliche Klopfen an der Tür hört, aufgelöst, indem die Oma mit dem Hinterteil voran durch die enge Türöffnung gezogen wird. Das scheint mit ziemlichen Mühen verbunden zu sein, weshalb alles herzlich lacht.

Was nicht so gut "funktioniert", ist das Hineinversetzen in die Identifikationsfigur Toda. Bei allem Verständnis dafür, daß man Toda als ernsthaftes Kind darstellen möchte, das im Verlauf der Geschichte erwachsen wird und lernt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, - die Schauspielerin kommt zu wenig kindlich über. Sie wendet sich zwar direkt an das Publikum, was sehr gut ist, da sich die Zuschauer dadurch unmittelbar angesprochen fühlen, wirkt dabei aber eher steif und wie eine Erzählerin, wodurch die einzelnen Stationen ihrer Reise unverbunden bleiben. Daß die Feder, die sie sich ziemlich am Anfang ihres Auftritts an ihr Stirnband steckt, ein Symbol dafür sein soll, daß es sich hier um ein Kind handelt, realisiert man erst sehr viel später. Überzeugender hätte vielleicht ein Kuscheltier gewirkt, das die Schauspielerin im Arm hat.


Judith Compes (Toda) sitzt auf dem 'Haufen' und blickt ins Publikum - Foto: by Nino Herrlich

Wenig kindlich - Toda
Foto: © by Nino Herrlich

Wenige Situationen sind es, in denen man Toda als Kind wahrnimmt. Am besten gelingt das der Schauspielerin in einer sehr anrührenden Episode, in der Toda auf den desertierten Soldaten trifft, der jeglichen Glauben an sich selbst verloren zu haben scheint. Sie befinden sich gemeinsam in einer der engen Kisten, die Beleuchtung ist abgedämmt und es entsteht eine vertrauliche Atmosphäre. Das Kind übernimmt die Rolle des Erwachsenen, tut dies aber auf eine sehr kindgemäße und direkte Art. "Ich kann nicht mehr kommandieren", stößt der Soldat hervor. Toda erkennt seine Not und will ihm helfen. Das tut sie, indem sie behauptet, daß er das sehr wohl könne. Er solle ihr befehlen, sich zu setzen. Der Soldat flüstert verzagt: "Setz dich", und Toda setzt sich hin. "Siehst du, ich sitze", sagt sie.

Manche Szenen setzen Theatererfahrenheit und Abstraktionsvermögen voraus. In der Szene mit den alten Frauen beispielsweise, auf die Toda zu Beginn ihrer Reise in einer Flüchtlingsunterkunft trifft, wird sie von einer Frau auf den Schoß genommen. Diese wendet sich ihr seitlich von hinten mal von links, mal von rechts zu und verspricht ihr die schönsten Dinge. Nicht jeder im Zuschauerraum versteht sofort, was das bedeuten soll, nämlich daß es sich um mehrere Frauen handelt, die alle Toda für sich vereinnahmen wollen. Sehr eindrücklich kommt hingegen das unangenehm Besitzergreifende dieser Szene an.

Alles in allem sind die Kinder bei dieser Premiere sehr aufmerksam und am Ende gibt es stürmischen Applaus, den vor allem die Erwachsenen reichlich spenden. Daß sich die, wie schon erwähnt, sehr wenigen Kinder nach der Vorführung nicht so recht zu dem eben Gesehenen äußern mochten, ist eher normal, zumal die Mehrzahl der Kinder wohl auch das Buch von Joke van Leeuwen nicht kannte. Die meisten Kinder lassen so ein Erlebnis lieber erst einmal etwas sacken und sprechen später mit ihren Eltern oder anderen Vertrauten darüber und so war außer einem "ganz gut" auf die Frage, wie es ihnen denn gefallen habe, nicht viel zu hören.

Nur eines der Kinder äußerte sich etwas differenzierter zu dem Stück. Es fand nicht gut, daß man häufig sah, wie die Schauspielerin sich umzog. Wenn sie hingegen verschwand und als andere Person wieder auftauchte, war das für das Kind in Ordnung. Ihm gefiel auch nicht, daß es nur zwei Schauspielerinnen waren, die das Stück aufführten, außerdem hatte es das Wortspiel um Todas Namen nicht verstanden (was im übrigen nicht nur dem Kind so ging) und deshalb auch nicht begriffen, warum an dieser Stelle gelacht wurde. Am Ende vermißte es die Mutter, bei der Toda nun lebt. Die hätte das Kind gerne auf der Bühne gesehen.

Den Erwachsenen hingegen gefiel "Als mein Vater ein Busch wurde" durch die Bank sehr gut. Lob gab es auch für die Umsetzung des Stoffes. "Es wurde nichts weggelassen", war der Eindruck einer Frau, die das Buch gelesen hatte. Da kann sich das Regieteam auf die Schultern klopfen, zumal man dort von einer "radikalen Strichfassung" sprach und daß man die Geschichte sehr verknappt habe. Wo ein Buch viele Worte braucht, um die Vorstellungskraft anzuregen, ist es hier also gelungen, mit den Mitteln des Theaters, mit Bühnenbild, Kostümen und Spielern, eine angemessene Adaption herzustellen. Die Gradwanderung, so das Regieteam, bestand für sie vor allem darin, die Geschichte kindgerecht zu gestalten, ohne sie zu verharmlosen, um auf diese Weise zu erreichen, daß Kinder sich zu diesem Thema eine eigene Meinung bilden und Empathie entwickeln können.

Gespräche anstoßen, Fragen entwickeln

Die Ereignisse haben Dahlhaus und Compes eingeholt, ja fast überholt. Als man das Stück plante und Förderungsanträge schrieb, waren Flüchtlinge noch kein Mainstream-Thema. Die Aktualität hatte sich dennoch schon im Vorfeld bemerkbar gemacht, denn von gleich drei Stellen fließen Fördergelder in das Projekt (Kulturbehörde Hamburg, Hamburgische Kulturstiftung und Rudolf Augstein Stiftung), so daß die Finanzierung, sehr zur Freude aller Beteiligten, dieses Mal gut gesichert war, was beileibe nicht die Regel ist.

Es müsse gesprochen werden, sagt die Dramaturgin Marie Stolze, das Stück sei ein erster Versuch, Gespräche anzustoßen, eine weitere Ebene zu erreichen. Man sei in der letzten Zeit so sehr mit der reinen Versorgung der Flüchtlinge beschäftigt gewesen, daß man jetzt erst merke, daß es am Dialog fehlt. Das junge Regie-Team hat es an Mühe und gedanklicher Auseinandersetzung nicht fehlen lassen, das Buch nach seinem Verständnis adäquat umzusetzen. Man hat sich natürlich mit der Flüchtlingsproblematik auseinandergesetzt, doch die Theateradaption habe bewußt kein reales Flüchtlingskind und damit ein Einzelschicksal abbilden wollen.

Ein Interview mit dem Regieteam Luisa Taraz, Marie Stolze und Julia Berndt finden Sie in Kürze im Schattenblick unter dem Index:

TANZ UND THEATER → REPORT → INTERVIEW

20. Oktober 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang