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BERICHT/060: "Kruso" oder die Streitgeburt ... - Uraufführung im Theater Magdeburg (SB)


"Kruso" - Uraufführung im Theater Magdeburg am 25.09.2015

Adaption des Romans Kruso von Dramaturgin Dagmar Borrmann unter der Regie von Cornelia Crombholz

Von Christiane Baumann


"Kruso" - die Adaption von Lutz Seilers Roman erlebte in der Bühnenbearbeitung von Dagmar Borrmann am Freitag (25.09.2015) im Theater Magdeburg ihre Uraufführung und wurde vom Publikum gefeiert. Christiane Baumann war dabei und kam auch mit Regisseurin Cornelia Crombholz ins Gespräch.

Lutz Seiler, der eigens nach Magdeburg gekommen war, zeigte sich sichtlich bewegt, als er dem Ensemble und Team um Regisseurin Cornelia Crombholz auf der Bühne für die Inszenierung dankte. Tatsächlich ist es der Magdeburger Schauspieldirektorin nach ihrer Adaption von Erik Neutschs "Spur der Steine" im vergangenen Jahr erneut gelungen, einen Roman auf der Bühne zum Leben zu erwecken und ihn mit einer eigenen, markanten Handschrift zu versehen. Für die gebürtige Hallenserin, die sich erst zum zweiten Mal an einen Roman heranwagte, liegt die Faszination gerade darin, einen noch völlig unerprobten Stoff zu erobern. Und als eine solche Eroberung kann die Magdeburger Uraufführung tatsächlich gelten.

Es ist eine gespenstische und bedrohliche Atmosphäre, in der Edgar Bendler im Sommer 1989 auf der Insel Hiddensee landet und von Alexander Krusowitsch, kurz Kruso, vor der Militär-Patrouille am Strand in Sicherheit gebracht wird. Er gelangt in den Klausner, die Arche, wo sich eine eingeschworene Gemeinschaft von Saisonkräften versammelt hat. Es sind Schiffbrüchige und Gescheiterte, die das Land verlassen haben, ohne die Grenze tatsächlich zu überschreiten. Edgar ist durch den Tod seiner Freundin G., die bei einem Straßenbahnunfall ums Leben kam, traumatisiert. Der Student der Literaturwissenschaft, der beinahe Selbstmord begangen hätte, möchte sein altes Leben hinter sich lassen. In dieser inneren Zerrissenheit trifft er auf Kruso, den Insel-Guru, der ihn in seine Gesetze und Rituale einführt. Für Kruso ist Flucht keine Lösung. Er möchte die Schiffbrüchigen in drei Tagen "läutern" und zur inneren Freiheit führen, einer Freiheit, die nicht auf den Täuschungen der Warenwelt beruht und die "unbezahlbar" ist. Ed findet im Klausner, durch die Arbeit im Abwasch, zu sich selbst. Doch die Ereignisse im Herbst '89 bringen die Parallelwelt im Klausner zum Einsturz. Kruso scheitert, denn nach und nach verlassen ihn seine Anhänger und neue Schiffbrüchige bleiben aus. Er selbst wird schwer verletzt von einem russischen Panzerkreuzer "heimgeholt", ein symbolträchtiger Vorgang, in dem sich letztlich die Idee gegenüber dem Scheitern von Kruso und Perestroika behauptet.


Foto: © 2015 by Andreas Lander

Raimund Widra (Ed), Raphael Kübler (Kruso) beim Abwasch
Foto: © 2015 by Andreas Lander

Cornelia Crombholz' Inszenierung erzählt diese Geschichte, aber sie lässt keine Wende-Geschichte entstehen. Die Insel Hiddensee erweist sich als Attrappe und als Modell, denn das Bühnenbild entwirft einen Hauch von Südsee-Atmosphäre. Es ist eine Insel unter Palmen, das Capri des Nordens und zugleich eine Insel der Seligen, ein Ort, wo sich eine eingeschworene Gemeinschaft traut, eine Gesellschaftsutopie, die auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruht, zu leben. Die Inszenierung lebt von und spielt mit solchen Brechungen und variiert dabei vor allem das Thema Freiheit, wobei hier das Ausbrechen aus Denkstrukturen und -mustern in den Mittelpunkt rückt. Wenn zwei Radiostimmen in Cheerleader-Manier die Freiheit von tausenden DDR-Bürgern verkünden, die über Ungarn das Land verlassen haben und ohne Echo verhallen, danach Marius Müller-Westernhagens Freiheits-Song, der wie kein anderer die Wende-Zeit begleitete, hinein knallt, dann provoziert das beim Publikum die Frage: Ist das die Freiheit, die wir meinten? Zugleich betont die Inszenierung das Lustvolle und Befreiende von Arbeit und zwar einer selbst bestimmten, nicht entfremdeten Arbeit. Wirkt Ed anfangs im Abwasch geradezu wie ein Fremdkörper, so wird er durch die gemeinsame Arbeit mit Kruso Teil der Gemeinschaft. Die Küchen- und Abwaschszenen, die in immer wiederkehrender Abfolge als "Stoßzeiten" die Bühnenhandlung, die analytisch die Geschichte Eds, aber auch Krusos aufrollt, unterbrechen, sind dramaturgische und schauspielerische Glanzpunkte der Inszenierung, die auf Sinnlichkeit und surreale Bilder setzt. Damit gelingt es, die Vielschichtigkeit des Romans, angefangen von intertextuellen Zusammenhängen - vor allem Rimbaud und Trakl - über mythische Bezüge bis hin zum Spiel mit Identitäten und Doppelgängern, zu transformieren und erlebbar zu machen. Nicht zuletzt ist es die Musik, die hier ganz eigene Akzente setzt. "People" - Barbra Streisands weltberühmter Song, vermittelt eine Ahnung von einer neuen Welt, einer neuen Gemeinschaft: "No more hunger and thirst. But first be a person who needs people"! Dabei kommt es angesichts der sich aktuell vollziehenden modernen Völkerwanderung zu merkwürdigen Überlagerungen und Verschiebungen, so dass man, wie Cornelia Crombholz einräumt, den Texten plötzlich "ganz anders zuhört", obwohl es einen völlig anderen politischen Hintergrund gibt.


Foto: © 2015 by Andreas Lander

Raimund Widra (Ed), Heide Kalisch (Cleo, Artistin), ein Hauch von Südsee-Atmosphäre
Foto: © 2015 by Andreas Lander

Raimund Widra gelingt es in überzeugender Weise, Eds Identitätsfindung, seinen Weg vom völlig in sich gekehrten Objekt der Geschichte, Kruso trägt ihn in den Klausner, zum handelnden Subjekt zu gestalten. Neuzugang Raphael Kübler verkörpert den charismatischen, selbstsicheren Kruso in packenden Szenen. Sebastian Reck als Rimbaud und Iris Albrecht als Karola geben ihren überaus dankbaren Rollen einen Charme und eine Note, die von besonderer Klasse zeugt, ob es das Rezitieren von Rimbaud-Texten oder die hingebungsvoll aufgezählten DDR-Gerichte und -Spezialitäten sind. Die Klausner-Besatzung entfaltet ein lustvolles Spiel in kräftigen Farben und Bildern, das einen Sog entwickelt, dem sich der Zuschauer vor allem im zweiten Teil kaum noch entziehen kann, wobei auch der Humor, das Spiel mit DDR-Nostalgie, nicht zu kurz kommt.

Was der Inszenierung fehlt, ist eine Art dramaturgische Klammer, die den Bogen vom Anfang zum Schluss schlägt und die das Trauma, das Ed und Kruso zu bewältigen haben, den Verlust der Freundin und den der Schwester, stärker fokussiert. Manches Bild, so die Heimholung durch den Panzerkreuzer, wirkt einerseits plakativ, andererseits weiß der Nichtleser des Romans nicht, dass hier der Panzerkreuzer Aurora assoziiert wird, mit dem nach dem Gregorianischen Kalender am 7. November 1918 die Oktoberrevolution in Russland begann und damit eine Epoche revolutionärer Veränderungen in Europa. Die russische Revolution wird, wie es Crombholz ausdrückt, buchstäblich "an die Infusion gelegt".


Foto: © 2015 by Andreas Lander

Konstantin Marsch (Der Mann mit der Heliomaticbrille), Ensemble
Heimholung durch den Panzerkreuzer
Foto: © 2015 by Andreas Lander

Wenn am Schluss der "Dichter aus Gera", der im Publikum saß, mit einem Gedicht zitiert wird, dann ist das der Hinweis auf die Geburt des Schriftstellers Edgar Bendler, die der Roman erzählt, aber vor allem war es eine gelungene Hommage an den Autor Lutz Seiler. Man merkte es Lutz Seiler an, dass er das, was auf der Magdeburger Bühne entstanden ist, als Bereicherung und gewissermaßen als Variation und Geschwisterkind seines Romans betrachtet. Die Magdeburger "Kruso"-Inszenierung hat Maßstäbe gesetzt, an denen sich die angekündigten Bühnenfassungen in Gera, Potsdam und Greifswald messen lassen müssen.

"Kruso"
Lutz Seiler
Stück von Dagmar Borrmann
Nach dem Roman von Lutz Seiler
Regie: Cornelia Crombholz
Bühne/Kostüm: Marion Hauer
Musik: Nina Wurmann
Dramaturgie: Oliver Lisewski

Die nächste Aufführung startet im Magdeburger Schauspielhaus am 3. Oktober um 19.30 Uhr.


Ein Interview mit der Dramaturgin Dagmar Borrmann über die Adaption des Romans "Kruso" am Theater Magdeburg von Christiane Baumann finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Theater und Tanz → Fakten
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27. September 2015


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