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BERICHT/036: "ÜBER-GEBEN" - Premiere der neuen Tanztheaterproduktion des K3 Jugendklubs auf Kampnagel (SB)


"ÜBER-GEBEN" - Der K3 Jugendklub in bewusstseinserweiternder Partylaune

Don't fucking tell me what to do, do! (Robyn)[1]

Zu aktuellem Clubsound heizte eine discofiebrig glitzernde und sich explosiv bewegende Clique chaotische Partyatmosphäre ein und hielt die 60 bis 70 Besucher des Tanztheaterstücks "ÜBER-GEBEN" im ausverkauften P1 auf Kampnagel von Anfang bis Ende in Atem. Für ihr neuestes Projekt, das am 24. und 25. Mai 2012 uraufgeführt wurde, begaben sich die Kreativen des K3 Jugendklubs, 13 Jugendliche ab 15 Jahren, mit einer zum ersten Mal in Konzeption, Stückentwicklung und Choreographie vollständig selbst verantworteten Produktion "auf die Suche nach der großen Party, die gerade nicht ist" (Die goldenen Zitronen).[2]

Die Tänzer des K3 Jugendklubs auf der Bühne des P1 - Foto: © 2012 by Thies Rätzke

'You gotta fight for your right, to party!' (Beastie Boys)[3]
K3 - Zentrum für Choreographie - Tanzplan Hamburg
Foto: © 2012 by Thies Rätzke

Freak out! Das K3-Jugendklub-Partyvolk feierte, tanzte, jubelte - und kritisierte die Discokultur mit witzigen und hintergründigen Anspielungen, die jedem Partyschmeißer und Clubgänger so bekannt vorkommen dürften wie Konfetti oder Lightshow. Bisweilen demonstrativ kotzend, mit feucht fröhlich entgleisten Gesichtszügen oder kiff-labernd, wurde jenes Feiern ohne Sinn und Verstand auf die Schippe genommen, das scheinbar nur bei völlig fehlendem Bewusstsein für den eigenen von Discoumgebung, Partyanstrengung und Alkohol erschöpften Körper zelebriert werden kann. Scheinbar, denn an Momenten der Unsicherheit und des Hinterfragens eigener Identität, die das ausgelassene Feiern an sich immer wieder hemmen, seine problematische Seite in unser Bewusstsein rufen und zur Disposition stellen, kommt keiner so leicht vorbei. So unterbrachen die Tänzer dieses abgedrehte und fremdbestimmt anmutende Austicken immer wieder mit der nachdenklichen Unbehaglichkeit ernster und beinahe mahnender Spielszenen, die "die (Denk- und Gefühls-)Räume daneben" bzw. "den Tag danach" in den Mittelpunkt stellten.

Das "denn sie wissen nicht, was sie tun" der besserwisserischen Moralapostel, die mit Party nichts am Hut haben, kann aus gutem Grund geleugnet werden, weil doch gerade das eingegangene Risiko des Kontrollverlusts durch Rauschmittel, Stimmung und Tanz ein bewusstes ist und den Zweck verfolgt, sich möglichst sorgenfrei amüsieren und begegnen zu können. Das Feiern lässt sich so auch als Zeichen eines mit voller Absicht betriebenen Eskapismus sehen, der weniger über die Menschen aussagt, die ihn für sich reklamieren, als viel mehr über die Beschaffenheit einer Gesellschaft, in der die Hoffnung, dem grau-strukturierten Alltag zu entkommen, für das Individuum einzig in dem Wunsch mündet, sich völlig zu "ÜBER-GEBEN", sich dem rauschenden Fest und damit einer, so die Hoffnung, pflichtlosen Freiheit zu überantworten. Aber Achtung! - Dein so gewonnener Fluchtraum könnte im schlimmsten Falle auch mit perfidem Kalkül installiert und gepflegt werden, um Dich besoffenen und verkifften Freizeitaufständigen sanft zu halten und deinen jung aufkeimenden Widerstandsgeist in Party, Rausch und Verpeiltheit zu ersticken...

Mit einfachen, aber effektvollen technischen Mitteln wie einer bekritzelten Klowand mit obligatorischem Edding-Pimmel als Hintergrund, einer kleinen Filmkamera und einem Beamer am linken Bühnenrand, der das Gefilmte auf die große, weiße Leinwand auf der rechten Seite brachte, wurde die Bühne, die je nach "Partyphase" den Discoraum oder Discovorplatz darstellte, räumlich erweitert: Das Publikum schaute mit in den Spiegel der Discotoiletten - und spätestens bei diesem heimlichen Blick in die verschwitzten Gesichter der Feiernden, die sich gegenseitig ihre blauen Flecke vom Tanzen und Torkeln zeigten, allerspätestens beim Belauschen einer jungen Frau, die ihre zu schüchterne Freundin aufforderte, mutiger zu werden, weil sie sich doch nicht die ganze Zeit um sie kümmern könne, und die ihre Freundin dann schließlich, zur winzigen Barbiepuppe geschrumpft, in der Kloecke entdeckte, wussten wir: "Party" ist ein Risiko, Risiko ist Wildnis, Wildnis ist Freiheit - und diese Art von Freiheit wohl nicht jedermanns Sache.

Zwei Discobesucherinnen in der Spiegelperspektive - Foto: © 2012 by Thies Rätzke

'Boah und dieser eine Typ ey...'
K3 - Zentrum für Choreographie - Tanzplan Hamburg
Foto: © 2012 by Thies Rätzke

"ÜBER-GEBEN" - und das ist es, was das aufmüpfige Stück der K3 Jugendclub-Mitglieder Muriel Bielenberg, Ricarda Bistram, Leon Daniel, Canay Dörtyol, Sina Ellmer, Gina Enslin, Tim Gruner, Linda Hafeneger, Franziska Niedlich, Brit Purwin, Samira Rohde, Marie Seiffert und Pia Zabel, zu einem mehr als unterhaltsamen, tiefgründigen Vergnügen machte - warf Fragen auf:

Ist das Überantworten, das sich selbst "ÜBER-GEBEN" in die Partywelt vielleicht ein Schritt, der noch tiefer in die Unfreiheit hineinführt, weil wir uns im Wechsel zwischen Alltag und Disco eigentlich nur auf der Flucht befinden und unseren ersehnten Wunsch, zu jeder Tages- und Nachtzeit so leben zu dürfen, wie es uns gefällt, noch weiter aus dem Blick verlieren? Kann ich meine Entscheidungen auch im Partyrausch selbst in die Hand nehmen, ohne mich letztlich dem Diktat der feiernden Masse fügen zu müssen? Und wäre das dann nicht schon eine Mühe, die mit dem, was ich bisher unter Freiheit verstanden habe, nichts mehr gemein hätte, aber mir selbst und allen anderen auf der Party vielleicht einen neuen spannenden, weil gemeinsamen Impuls geben würde?


Der K3 Jugendklub am K3 - Zentrum für Choreographie in Hamburg

Seit fünf Jahren bildet der K3 Jugendklub eine der Hauptsäulen des K3 im Tanzplan Hamburg. Unter der künstlerischen Leitung von Dr. Friederike Lampert wird Jugendlichen die Möglichkeit geboten, mit erfahrenen Choreographen und Choregraphinnen zweimal im Jahr ein selbst erarbeitetes Stück auf die Bühne zu bringen. Dieses Mal standen Antje Pfundtner und Lucia Glass als Beraterinnen zur Seite.

Das Projekt ist kostenfrei und allen offen, die Interesse haben, erklärte Matthias Quabbe, Dramaturg und Projektkoordinator am K3, das Konzept nach der Premiere von "ÜBER-GEBEN": "Es sind ganz klar künstlerische, ästhetische, inhaltliche Ideen, die uns da leiten, aber letztlich geht es um die Rahmenbedingungen, den Altersrahmen, der sehr breit ist, aber auch um Vorkenntnisse oder zum Beispiel die Frage, zahlen oder nicht, darum, dass das alles aus dem Weg geräumt ist, dass tendenziell jeder teilnehmen kann. Auch wenn wir uns jetzt nicht explizit um benachteiligte Stadtteile kümmern, gilt es zumindest erstmal, keine Schwellen einzubauen, und entsprechend kann eben auch jeder ohne Vorkenntnisse mitmachen, es fliegt auch keiner raus, wenn man merkt, jemand kann sich nicht so gut bewegen, sondern alle machen mit, und das hängt auch damit zusammen, dass es nicht darum geht, Jugendliche zu Tänzern zu machen, sondern, darum, dass sie etwas mitnehmen."

Ein Ansatz, der überzeugt, denn zeitgenössischer Tanz kann hier von innen heraus kennengelernt werden und nicht im Sinne einer Vermittlung, bei der "ich gucke und darüber spreche", so Quabbe weiter, "sondern in der Praxis, in der Ausübung". Da beinahe ein Drittel der K3-Jugendklub-Teilnehmer schon von Anfang an dabei sind, sei es eine ganz logische Folgerung gewesen, dass die Leiter des Projekts bei dieser Produktion auch die technischen Aspekte der Bühnengestaltung in die Hände der Jugendlichen legten. Man dürfe nicht vergessen, so Quabbe, dass so eine Arbeit nicht nur aus Ideen und künstlerischem Schaffen bestehe, sondern auch die Kommunikation mit Technikern und Fragen wie "wie soll das Licht sein, ist der Sound so gut oder muss der anders sein" geklärt und zeitliche Abläufe bewerkstelligt werden müssten. Es gehe in dieser Arbeit nicht allein um ästhetisch künstlerische Fragestellungen, sondern um eine Art umfassender Selbstermächtigung, "also darum, selber in der Lage zu sein, Dinge zu tun".

Foto: © 2012 by Schattenblick

Ricarda Bistram und Matthias Quabbe im Gespräch mit dem Schattenblick
Foto: © 2012 by Schattenblick

So naheliegend und entfesselnd sich dieser Begriff der "Selbstermächtigung" aus pädagogischer Perspektive auch darstellen mag, so kritisch sollte man ihn zunächst auf den kräftezehrenden und einengenden Leistungsdruck prüfen, auf den junge Erwachsene tagtäglich bereits im schulischen oder universitären Umfeld geeicht werden. Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen sollte die Komponente des ökonomischen Abschöpfens kreativen "Mehrwerts", das zwar kaum mehr ins Auge fällt, weil es zu einer längst totdiskutierten Selbstverständlichkeit geworden ist, ausdrücklich angesprochen werden. Die Initiation in künstlerische und kreative Zusammenhänge wie zeitgenössischen Tanz, Film oder Produktionstechnik geht nämlich fast immer mit dem oft indirekten und von niemandem bestimmten, fast konsensartig nahe gelegten Appell und Erfahrungswert einher, dass, wer in diesen Bereichen arbeiten möchte, ob erfolgreich oder nicht, zunächst einmal absolute Aufopferungsbereitschaft und völlige Hingabe beweisen muss - und das unabhängig von der Höhe der, oft nichtexistenten, Vergütung.

Es ist zu hoffen, dass sich die Mitglieder des K3 Jugendklubs im Schulterschluss mit allen erfahrenen Mitstreitern gegen das "bück dich hoch" oder "leider geil" (Deichkind)[3] derjenigen erfolgreich zur Wehr setzen werden, die unter dem Vorwand, dass kreativ arbeiten zu dürfen an sich schon Lohn genug sei, immer neue Praktikanten suchen. Matthias Quabbe betont: "Um das noch mal ganz klar zu sagen, man sieht ihre Entwicklung nicht an besseren Schulnoten, sondern an der Art und Weise, wie die Leute sich auseinandersetzen. Sie gehen hier in Produktionen, sehen sich Premieren an und mittlerweile stehen wir mit ihnen hier auf den Premierenpartys wie mit allen anderen auch, mit den Profis, mit dem anderen Publikum und man merkt, wie sie sich über künstlerische Arbeit unterhalten und da sieht man, was das macht." Häufig werde darauf verwiesen, so Quabbe, "dass solche Projekte auch dazu da sind, damit die Jugendlichen bessere Schüler werden oder im weitesten Sinne bessere Menschen und das ist aber etwas, was an der Stelle überhaupt nicht im Vordergrund steht, sondern das, wenn überhaupt, einfach so mit kommt, da muss man sich gar nicht drum kümmern, das passiert von alleine. Was man sieht ist, gerade auch an dieser Auseinandersetzung, die man mit ihnen führen kann, dass sich da unheimlich viel getan hat und da mag sich darüber auch noch ganz viel anderes verändern. Aber das steht nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit."

Dass sie den Mut haben, künstlerisch zu arbeiten und im körperlichen wie intellektuellen tänzerischen Ausdruck einen, wenn auch vorsichtigen, Angriff auf das, was ihnen nicht gefällt, zu führen wissen, haben die Allroundtalente des K3 Jugendklubs mit ihrer neuen Produktion bewiesen. Dem Publikum auf Kampnagel und in der ganzen Welt ist zu wünschen, dass sie sich diese aus sich heraus entwickelte Fähigkeit bewahren und dort, wo sie wirken, weiterführen. - Und dass sich für niemanden herausstellt, "dass sich nichts herausstellt" (Die goldenen Zitronen)![2]

Foto: © 2012 by Schattenblick

Der K3 Jugendklub mit den Choreographinnen (von rechts) Friederike Lampert, Antje Pfundtner und Lucia Glass nach der gelungen Premiere von "ÜBER-GEBEN"
Foto: © 2012 by Schattenblick

Anmerkungen:

[1] Aus: "Don't Fucking Tell Me What To Do" von dem Album "Body Talk Pt. 1" (2010) von Robyn.

[2] Aus: "Auf Dem Platz Der Leeren Versprechungen" von dem Album "Schafott zum Fahrstuhl" (2001) von den Goldenen Zitronen.

[3] Aus: "(You Gotta) Fight For Your Right (to Party!)" von dem Album "Licensed to Ill" (1986) von den Beastie Boys.

[4] Aus: "Bück dich hoch" und "Leider geil" von dem Album "Befehl Von Ganz Unten" (2012) von Deichkind.

28. Mai 2012