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BERICHT/029: Inperspekt schafft durch visuelle Kunst neue Wahrnehmungschancen (SB)


Inperspekt schafft durch visuelle Kunst neue Wahrnehmungschancen

von Julia Barthel


Der Countdown zur Hamburger Theaternacht läuft und man kann die Tage bis zur Eröffnung der Spielzeit am 10. September nun wirklich schon zählen. Obwohl in diesen letzten sonnigen Tagen noch etwas Zeit für Erholung und kreatives Luftholen bleibt, kann von einem Sommerloch in der künstlerischen Szene keine Rede sein. Viele Schauspieler, Regisseure und Filmemacher stecken gerade jetzt mitten in schöpferischen Prozessen, bei denen Ideen und Impulse für die kommende Bühnensaison generiert werden. Wir haben diese heiße Phase zwischen Entwicklung und Präsentation genutzt, um eine Gruppe junger Menschen zu treffen, bei denen beide Elemente immer live und direkt ineinander fließen.

Unter dem vieldeutigen Namen 'Inperspekt' erschafft die hoch motivierte Medien-Jugendgruppe vom Ernst Deutsch Theater räumlich-musikalisch-visuelle Installationen, um damit ihre Wahrnehmung der Welt zu vermitteln. Sie erfassen Orte in bewegten Bildern und Klängen und bauen daraus 'Illusionsschutzräume' auf Leinwänden. Zu diesem Zweck brauchen sie allerdings jede Menge Material, das in stundenlanger Arbeit aus der Umgebung zusammengetragen werden muß. Anfang August hat das junge Team deshalb seine Basis am Ernst Deutsch Theater verlassen und einen Außenposten auf dem Gelände des Dockville Festivals in Wilhelmsburg errichtet. Im Rahmen eines Kunstcamps entstand dort die Freiluftinstallation 'Speicherland', die ständig mit neuen Eindrücken aus den riesigen Ausläufern des Hamburger Hafens gefüttert werden wollte. Unter der Leitung des Filmemachers Ulrich Raatz zogen die jugendlichen Forscher täglich mit Kamera und Aufnahmegeräten aus, die umliegenden Industrieanlagen, Speicher und Wasserstraßen zu erkunden. Die Ergebnisse sollten später, bei Dunkelheit, in einer begehbaren Installation aus vier weißen Wänden gebündelt werden.

Speicherland im Farbrausch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Speicherland im Farbrausch
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Schattenblick Redakteure kamen bei strahlendem Sonnenschein auf dem Gelände des Kunstcamps an, um das in Worten schwer zu erklärende Konzept einer dreidimensionalen Videoinstallation mit Tönen selbst zu erleben. Das Tageslicht nutzten wir für ein Gespräch mit den Mitgliedern der Inperspekt Gruppe und ließen uns genau erklären, was 'Illusionsschutzräume' sind oder wie man aus Bildern einen Live-Stream macht. Zuerst brannte uns aber die Frage unter den Nägeln: Was bedeutet eigentlich der Name 'Inperspekt'? Die Schülerin Lea hatte den Einfall zu dieser Wortschöpfung und erklärte: "Also erstmal gibt es dieses Wort eigentlich gar nicht und das war mir wichtig, weil es so etwas wie unser Projekt auch nicht oft gibt. Außerdem steckt in Inperspekt der Begriff 'Perspektive' mit drin und wir sind immer auf der Suche nach neuen Ansichten. Dann verbindet es die Gegensätze von perfekt und unperfekt miteinander. Wir arbeiten ja als Künstler frei und das Ergebnis mag von außen her nicht perfekt wirken, hat aber schon den Anspruch, eine gewisse Vollkommenheit zu erfüllen." Während wir in der kleinen Runde so zwanglos auf dem grasbedeckten Boden sitzen, weht uns ein trockener Wind um die Nase, um uns herum wird gewerkelt und gebaut. An einem Ort wie diesem ist Kunst eine flexible Materie und es entstehen keine Standard-Videoinstallationen, wie man sie von festen Ausstellungen her kennt.

Lea - Foto: © 2011 by Schattenblick

Lea
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Gruppenleiter Ulrich Raatz schwärmte von der großen Flexibilität der Arbeit: "Wir erleben das hier beim Dockville Festival auch so, dass wir hier ein Geflecht vorfinden, das nicht so fest ist und wo sehr viel improvisiert wird. Das ist genau das Richtige für uns. Wir sammeln wie die Heuschrecken Bilder und Töne ein und versuchen das dann zu fokussieren und in einer Performance auch zu choreographieren. Das macht unser Projekt schon speziell." Im weiteren Verlauf der Unterhaltung stellt sich heraus, dass jeden Tag neue Aufnahmen an die Leinwände projiziert werden. Dabei fügen die jungen Medienkünstler die Ergebnisse immer wieder neu zusammen und es bilden sich live gemischte Videoströme. Die Atmosphäre vor Ort und die Zuschauer beeinflussen das lebendige Werk dabei natürlich maßgeblich. Schon beim Sammeln des Materials liefern neue Räumlichkeiten wie der 'Rethe Speicher' neben dem Festivalgelände und Begegnungen mit Menschen immer neue Impulse.

Gruppenleiter und Filmemacher Ulrich Raatz - Foto: © 2011 by Schattenblick

Gruppenleiter und Filmemacher Ulrich Raatz
Foto: © 2011 by Schattenblick

Immer mehr verdichtet sich hier der Eindruck von einem Forschercamp, in dem die Mitglieder von Inperspekt sich auch mal gegen widrige Umstände wie Regen oder technische Ausfälle durchsetzen müssen. Wie das in der Praxis aussieht, haben die Schattenblick Redakteure im Laufe des Tages gleich miterlebt. So ungewöhnlich wie die Arbeitsumstände erscheint uns auch die Idee, 'Illusionsschutzräume' zu schaffen. Welche einleuchtende Erklärung es für diesen rätselhaften Begriff gibt, haben wir von Lea gehört: "Wenn man innerhalb der vier Leinwände steht, entsteht ein anderes Sehen und eine andere Betrachtung der projizierten Umgebung. Diese Sichtweise kann sich im Schutzraum anders entfalten und wird nicht vom gewöhnlichen Blick unterbrochen." Jack wirft ein: "Im Kino ist man ja auch ein bißchen in einer anderen Welt und das hier ist jetzt so wie ein Kino, nur mit vier Leinwänden." Dieses plastische Bild leuchtete den Schattenblick Redakteuren total ein.

Nachdem uns in Worten so gut wie möglich erklärt wurde, auf welch fließende, improvisierte und doch sehr handfeste Weise eine Inperspekt-Installation funktioniert, fehlte uns nur noch die Live-Erfahrung. Wir beschlossen, bei Dunkelheit noch einmal zurückzukehren, um zu erleben, ob sich die vier kahlen Leinwände neben uns nachts tatsächlich in den Illusionsraum 'Speicherland' verwandeln.

Industrie trifft Kunst - Foto: © 2011 by Schattenblick

Industrie trifft Kunst
Foto: © 2011 by Schattenblick

Szenenwechsel. Wenige Stunden später hatte sich der Mantel der Dämmerung über alles gelegt. Bei der Anfahrt auf das Festivalgelände beherrschten Kräne, Container und Speicheranlagen das Bild und uns wurde noch einmal bewußt, welche starken Kontraste hier auf engem Raum nebeneinander liegen. Für Filmemacher und Künstler ist dieses Gebiet ein höchst reizvolles Arbeitsumfeld, in dem bei unserer Ankunft gerade die ersten Lichter angingen. Während wir die Grenze zwischen Industrieanlagen und Naturidylle überschritten, fragten wir uns, wie es den jungen Medienkünstlern gelungen sein mochte, all diese Gegensätze auf kleinster Fläche zusammen zu bringen. Die aufziehende Dunkelheit hatte alle Geräusche gedämpft, in der staubigen Luft duftete es stark nach Heu und wir schlenderten über eine leicht unebene Wiese an illuminierten Skulpturen vorbei.

Als wir am Inperspekt Camp ankamen, hatten Ulrich Raatz und sein Team gerade mit widrigen Umständen zu kämpfen. Technische Ausfälle und ein verschwundener Beamer verzögerten den Aufbau. Der Kubus aus weißen Leinwänden erwachte nur langsam zum Leben und es gab noch einige tote Flächen. Die Gruppe rotierte, um sich gegen die erschwerten Bedingungen durchzusetzen und an ein Gespräch war zunächst nicht zu denken. In den folgenden Minuten sahen wir nur vereinzelte Bilder in Blautönen und die schwarzen Schatten der Besucher über die Außenwände der Installation huschen. Weder Illusionen noch Raumtiefe waren zu erkennen und eine leichte Enttäuschung machte sich breit. Handelte es sich hier doch bloß um eine verkappte, ganz normale Videoprojektion? Doch dann sammelten sich allmählich andere Zuschauer um den Kubus, schlüpften durch die seitlichen Lücken ins Innere der Konstruktion und begannen, sich angeregt zu unterhalten. Langsam aber sicher ging eine Veränderung vonstatten.

Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

Offensichtlich konnte man von innen die Schatten der Personen sehen, die außen an den Leinwänden vorbei gingen. Diese halbseitige Transparenz belebte das ganze Konstrukt. Die Besucher warfen sich vor den Projektionen in Pose und machten Fotos. So nahm die viel beschriebene Interaktion mit dem Kunstwerk tatsächlich vor unseren Augen Gestalt an. Die Neugier zog die Schattenblick Redakteure immer wieder in den Würfel aus bewegten Bildern hinein, wo sich nach und nach wirklich eine hoch verdichtete Version der Umgebung aufbaute. Während man frontal mit den warmen Eindrücken einer Wiese im Spätsommerlicht geflutet wurde, in der sich die Umrisse einer jungen Frau bewegten, brach zur Rechten der Sonnenuntergang über eine bläuliche Wasserstraße hinein, bis eine schwarz, rote Struktur die Szene überlagerte, wie nach einem Brand. Gleichzeitig waren auf der linken Seite eher statische Innenansichten von Speichergebäuden und technische Prozesse in nüchternem Grau und kaltem Weiß zu sehen. Obwohl all diese extrem unterschiedlichen Elemente wirkten, als stammten sie von verschiedenen Planeten, waren sie doch alle Perspektiven von ein und demselben Ort. Normalerweise sieht man diese Aspekte nur nie in dieser gebündelten Form, obwohl ihre parallele Existenz erst den Charakter einer Umgebung ausmacht.

work in progress - Foto: © 2011 by Schattenblick

work in progress
Foto: © 2011 by Schattenblick

Allerdings brauchte es auch viel Geduld und einen festen Willen, um den Illusionsschutzraum 'Speicherland' auf diese Weise wahrzunehmen. Der Zugang vom oberflächlichen Vorüberziehen der Videoströme zum vollständigen Einlassen auf die Frequenz der Bilder war sperrig und schwer zu finden. Wer sich jedoch zehn Minuten Zeit nahm, im Inneren der Freiluftinstallation zu verweilen, hatte gute Chancen, alles andere auszublenden. Umgeben von den hypnotischen Klängen elektronischer Musik und dem Zirpen der Grillen, war zu spüren, wie das Speicherland einem von allen Seiten in die Poren drang. Auf vier Leinwänden wuchs der Ort förmlich aus dem Boden heraus und nahm den geneigten Betrachter ganz für sich ein.

Eine perfekte Illusion haben wir an diesem Abend nicht erlebt, aber darum geht es bei der Mediengruppe Inperspekt auch nicht. Die Lust am kreativen Umgang mit Kamera, Laptop und Beamern und der Spaß an der bewußten Wahrnehmung von Orten stehen eindeutig im Vordergrund. Die Ergebnisse dieser engagierten Arbeit sind keine makellosen Kunstwerke, sondern ein Geschenk an alle Zuschauer, die selbst keine Zeit haben, ihr Umfeld so intensiv zu erkunden. Die jungen Menschen in diesem Projekt entwickeln sich an den Herausforderungen und produzieren dabei manchmal etwas Perfektes im Unperfekten.

Welche multimediale Schnittstelle zur Realität sie in der Theaternacht am 10. September aufmachen werden, wissen wir noch nicht. Man kann aber davon ausgehen, im Ernst Deutsch Theater auf anregende Impulse für die eigene Wahrnehmung zu stoßen.

Kreativität in jeder Richtung - Foto: © 2011 by Schattenblick

Kreativität in jeder Richtung
Foto: © 2011 by Schattenblick

12. August 2011