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BERICHT/010: Hamburg - Spielzeit 2009/2010 auf Kampnagel (SB)


Spielzeit 2009/2010 auf Kampnagel

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge gab das Kampnagel-Team am Mittwoch, dem 24.06.09, das neue, alle Bereiche der darstellenden Künste abdeckende und darüber hinaus Theorie und Praxis verbindende Programm der Spielzeit 2009/10 bekannt. In den Ankündigungen von Intendantin Amelie Deuflhard, den Dramaturgen Andras Siebold und Nadine Jessen sowie den Tanz-Dramaturgen Anne Kersting und Jochen Roller, die ob der Fülle des Spielplans nur wenige ausgesuchte Punkte im Detail besprechen konnten, schwang unterschwellig mit, wie sehr das als "Förderung" ausgegebene wirtschaftspolitische Gängelband die Planung eines freien Theaters bestimmt.

Frei nach dem Motto "Jetzt erst recht" und als Trittbrettfahrerprinzip lässt sich deshalb auch eine Sparte der kampnageleigenen Ordnungskategorie "Spuren", die sich auf mehrere Stücke gleichzeitig bezieht, verstehen. "Kunst als Tarnung" meint dreierlei. Landläufig eher als Praxis von Wirtschaftsunternehmen bekannt, die, so Andras Siebold, versuchen, ihre schwierigen Programme mit edlen Kulturveranstaltungen durchzudrücken, kommt diese Art der Verführung umgekehrt auch auf Kampnagel zum Einsatz. Natürlich nur im Bemühen um ein nicht selbst künstlerisch tätiges Publikum, bei dem die Bereiche Theater und darstellende Kunst durch seichtere und leichter zugängliche Arten der Unterhaltung im Abseits steht - und nur mit dem hehren Ziel, einen Dialog zu beginnen, der die Bezeichnung "lebendig" auch verdient. Theater schleicht sich ein: Die "Universität der Nachbarschaften", das im leerstehenden Gebäude des ehemaligen Gesundheitsamtes angesiedelte Gemeinschaftsprojekt von Kampnagel, der HafenCity Universität und der Internationalen Bauausstellung Hamburg sei, so Deuflhard, Jessen und Siebold, ein gutes Beispiel dafür gewesen, dass sich allein dadurch, dass Kunst an kunstfernen Orten gemacht wird, völlig unerwartete Effekte einstellen. An der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und nachbarschaftlicher Kommunikation, die besonders im städtischen Raum von enormer Bedeutung sei, würden Kontakte zu Communities geschaffen, die sonst kaum oder gar nicht berührt werden. Die Methode, Theater und Kunst über das Hamburger Prestigeprojekt Hafen City oder eine institutionell verankerte Großveranstaltung wie z.B. das "Young Star Festival" - auf dem Künstler und Literaten sich mit großem Erfolg der Hamburger Schülerschaft angenommen haben - transportieren zu müssen, zeigt, dass der Kontakt zwischen potentiellem Publikum und freiem Theater allein längst abgebrochen und ein selbständiges Interesse in der Bevölkerung kaum mehr vorhanden ist.

Der Deckmantel Kunst kann aber auch in einer ganz anderen, weniger ökonomisch motivierten Richtung Schutz für investigative "Realitätsforschung" bieten. Begeistert kündigten die Dramaturgen Jessen und Siebold den schwedischen Künstler Claus Beck-Nielsen an, der in Dänemark zum Politikum geworden ist, als er versuchte, sich seiner amtlichen und eigenen Identität zu entledigen. Kampnagel gibt Beck-Nielsen und seinem dänischen Künstlerkollektiv "Das Beckwerk" im Februar vier Abende Platz für ein "Beckwerk Special" mit Performance-Einheiten, Ausstellung und Lesungen.

Der Eindruck, dass die EU-Kulturmacher mit ihren Fördermitteln sowohl bei Künstlern als auch Bürgern europäische Projekte, die sich im Idealfall auch noch um den scheinästhetischen Möchtegern-Komplex "Europa" drehen, zum klebrigen Dauerlutscher machen wollen, trügt ganz sicher nicht. Dennoch stellten Amelie Deuflhard und Kollegen klar, dass Kampnagel für die kommende Spielzeit wieder kleinere und größere internationale Projekte für die Spur "Weltbühnen" gewinnen wollte. "Klassisch", so die Intendantin stolz, werde die Spielzeit dieses Jahr im Saal K6 eröffnet, mit dem großen internationalen Gastspiel "Sutra" des flämisch-marokkanischen Tanzvisionärs und Toepfer-Preisträgers Sidi Larbi Cherkaoui. Der Choreograph, der sich selbst als "europamüde" bezeichnet, ist für sein Projekt nach Asien gereist, um dort seine eigene westlich geprägte Bewegungskultur auf die von kampferprobten Shaolinmönchen prallen zu lassen. Kampnagel präsentiert zusammen mit der Alfred Toepfer-Stiftung, die sich u.a. Völkerverständigung und die Unterstützung europäischer Künstler auf die Fahnen geschrieben hat, Cherkaouis weltberühmte Arbeit.

Inhaltlich kommt Tanz in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen und Lebensumständen nicht hinaus über eine solche virtuose, kunstfertige und technisch ausgefeilte Darstellung kultureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die leider - so scheint es - oft in versöhnlichen Folklorismus münden. Um so spannender ist der Ansatz des diesjährigen dreitägigen Tanzkongresses (5. - 8.11.), der im Rahmen des Tanzplans Deutschland "nach politischen und gesellschaftlichen Potentialen des Tanzes" fragen will. "Politischer Tanz" arbeite mit Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, so die Tanz-Dramaturgen Jochen Roller und Anne Kersting, und beziehe sich dabei besonders auf deren Interaktionen. Ansonsten funktionieren Tanzproduktionen mit politischen Inhalten über Sprache, denn nur so könne bis ins Detail deutlich gemacht werden, was gemeint ist. Ob die Kampnagel-Darbietungen in ihrem Streben, sozialkritische Ansätze performativ zu vermitteln, erfolgreich sind, kann in der Spielzeit 2009/10 festgestellt werden. Im Stück "Très Très Fort" von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen zum Beispiel reinszenieren migrantische Tänzer von der Elfenbeinküste Politikerdarstellungen von Gewalt und kommentieren so Gesten der Macht auf der Bühne.

Um die "Vattenfall-Lesetage" (April 2010) in den Hallen des Solarzellen tragenden "Öko-Profit-Betriebes" Kampnagel ungetrübt genießen zu können, lässt der verständige Zuschauer sein wirtschaftspolitisches Umweltbewusstsein - wir erinnern uns: Andras Siebold hatte es ja selbst im Zusammenhang mit der Programm-Spur "Kunst als Tarnung" angesprochen - jedoch besser zu Hause. "Das Konzept von anspruchsvoller Literatur und genreüberschreitenden Formaten zu moderaten Preisen" hat der Pressemappe zufolge jedenfalls "in den vergangenen zwei Jahren enormen Publikumszuspruch gefunden".

Wer im reichen Angebot der neuesten, zeitgenössischen und internationalen Errungenschaften auf musikalischem Gebiet den Überblick verloren hat, bekommt von Kampnagel zwei Festivals zur Orientierung an die Hand: "Neue Musik hat es schwer. Deshalb ist die Popularisierung neuer Musik kein Widerspruch", meint Andras Siebold und kündigt mit György Kurtág einen Ausnahmemusiker an, der zusammen mit seiner Frau, neben vielen weiteren Interpreten und Ensembles, die "Klangwerktage" vom 22. bis 27.11. musikalisch begleiten wird. Jan Dvorak und Jan Feddersen setzen sich mit ihrem Klub Katarakt-Festival im Januar "für neuste zeitgenössische Musik" und "innovative Formate" ein. Experimentierfreudig geben sich darüber hinaus Deichkind und scheuen sich nicht, ihre musikgeschichtliche und öffentlichkeitswirksame Band-Rolle in einem interaktiven Theaterstück zu durchdenken.

Last but not least will sich das Life Art Festival im Mai 2010 dem Wert des menschlichen Körpers und "seiner Instrumentalisierung sowie verschiedenen Formen von 'Verkörperung'" widmen. Amelie Deuflhard wünscht sich hier die bereits angefragte Installation "City of Abstracts" der Forsythe Company als absolutes Festival-Highlight. Deren Sinn erschließt sich wohl erst vollständig, wenn man selbst als interaktiver Städter von Forsythe's Kamera eingefangen wird und sich auf dem an einem öffentlichen Ort angebrachten großen Screen, der wiedergibt, was die Kamera gerade aufnimmt, "neu" entdeckt, als "Tänzer" in einem unmittelbar stattfindenden und nie endenden Stück.

Kampnagel hat sich das Aufbrechen der althergebrachten Genregrenzen auf die Fahnen geschrieben und will, in ständiger Kooperation mit engagierten Künstlern aller Bereiche, kräftig die Farben mischen. Dabei scheint es erstmal darum zu gehen, Kontakte zu knüpfen und gemeinsame Projekte auf die Beine zu stellen, deren Mixstil aber das, was an den Künsten noch authentisch ist, eher aufzuweichen droht. Eine Überforderung der Zuschauer fürchtet Nadine Jessen, die selbst "krachlaute" Performances, wie z.B. die "Chicks on Speed", favorisiert, dennoch nicht. Auch hinter den Theater-Kulissen wird der Hamburger Künstlerszene eine Plattform geboten, was auf fruchtbaren Boden fällt, wenn zum Beispiel junge Comic- und Straßenkünstler wie Moki und ihre Crew sich für ein im Fabrikgebäude zur Verfügung gestelltes Atelier mit einem pink-schwarzen Wandbild auf der Kampnagelfront bedanken.

    

Das hauseigene Studio werde darüber hinaus gern von bekannten Stars wie Jan Delay genutzt, was sich herumspreche und allein deshalb schon Kampnagel in die Köpfe hole, so Jessen, die sich im Gespräch mit dem Schattenblick darüber freute, dass es im Rückblick auf die vergangene Zeit verhältnismäßig schnell gegangen sei, die Hamburger (Musik-)Szene auch mal ans Theater zu holen. Denn, und das ist ein Credo des Kampnagelteams, "was ist Musik anderes als eine darstellende Kunst?" Mit deutlicher Verhaltenheit meldete sich dazu Andras Siebold zu Wort und betonte die aus seiner Perspektive lange Arbeit und Mühe, die es koste, Musikern überhaupt nur die Idee nahezubringen, ihren Auftritt zur Performance zu machen.

Gerade hier, wo die vielleicht als Trägheit missverstandene Bedachtsamkeit der künstlerisch Schaffenden mit dem offenen Engagement der Theaterzunft auf ernüchternde Weise kollidiert, liegt doch möglicherweise das Feld, auf dem langsam aber sicher das Angewiesensein auf meinungsbestimmende ökonomische Hilfen und institutionelle Installationen durch eine unabhängige Zusammenarbeit angekratzt werden kann. In der Zwischenzeit, Leute, befreit die freien Theater mit euren Besuchen, um Platz für Gedanken zu schaffen, die keiner "Förderung" mehr bedürfen.

30. Juni 2009