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BERICHT/001: Dokumentarfilm "Die Goldmacher - Sport in der DDR" (SB)



Dokumentarfilm "Die Goldmacher - Sport in der DDR"

Filmvorführung von ARTE am 17. September in Berlin

Knapp zwei Wochen vor seiner erstmaligen Ausstrahlung im deutsch- französischen Kulturkanal ARTE (30. September, um 21 Uhr) hatte der Schattenblick die Gelegenheit, an der Akademie der Künste in Berlin den Dokumentarfilm "Die Goldmacher - Sport in der DDR" zu sehen. Daß es sich bei dieser Thematik um ein sportpolitisches "Minenfeld" handelt, räumten die Filmemacher unumwunden ein. 40 Jahre DDR-Sport in 94 Minuten zu verpacken, dürfte kein leichtes Unterfangen sein, zumal, wie Regisseur Albert Knechtel und MDR-Chefredakteur Ulrich Brochhagen beim Preview und einem anschließenden Gespräch unterstrichen, die beeindruckende Bilanz von knapp 4.000 Medaillen, die die DDR bei Olympischen Spielen, Europa- und Weltmeisterschaften errang, nicht auf die übliche Klischeeformel von "Stasi und Doping" reduziert werden sollte.

Wenn nun ARTE, ZDF und MDR in einer Coproduktion den Versuch unternehmen, nach 20 Jahren mehr oder minder ausgeprägter DDR- Verteufelung, zweifelsohne auch in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, ein vorurteilsfreieres Bild über den DDR-Sport zu zeichnen, dann drängt sich die Frage geradezu auf, ob das vom DDR- Bashing gesättigte Publikum lediglich durch eine neue Variante verzehrender Darstellung, diesmal transportiert über den Anspruch einer möglichst wertfreien Filmdokumentation, hinter dem Ofen hervorgelockt werden soll. Sollte sich das Qualitätsmerkmal der Dokumentation am Ende etwa daraus ableiten, daß die DDR-Sportler und - Funktionäre einmal weniger heftig als Prügelknaben deutsch-deutscher Vergangenheitsbewältigung vorgeführt worden sind? Setzt damit das Weniger nicht dem Mehr die Krone auf?


Auf der Bühne stehend - Foto: © 2017 by Schattenblick

Filmgespräch nach dem Preview: Ulrich Brochhagen (MDR), Wolfgang Behrendt (Boxer), Jens Weinreich (Moderator), Albert Knechtel (Regisseur)
Foto: © 2017 by Schattenblick

Wendet man sich der Frage zu, ob der Film tatsächlich etwas Neues über das DDR-Sportsystem erzählt, was nicht schon längst bekannt und in ungezählten Publikationen sowie sport- und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen gesagt wäre, so kann dies getrost verneint werden. Die Dokumentation lebt davon, daß sie eine Auswahl ehemaliger Lichtgestalten der DDR sowohl über die Vorzüge, Errungenschaften und Erfolge des staatlich gelenkten Breiten- und Leistungssportsystems als auch über seine Unzulänglichkeiten, Verwerfungen und Niederlagen berichten läßt.

Vor dem Hintergrund, daß der Sport während der Ost-West- Blockkonfrontation beiderseits des eisernen Vorhangs für politische Zwecke instrumentalisiert wurde und sich speziell die deutsch-deutsche Sportgeschichte nur über den politischen Systemantagonismus aufschlüsseln läßt, erstaunt es allerdings sehr, daß der Film sich nahezu ausschließlich auf das DDR-Sportsystem konzentriert. So neigt sowohl die politische Bewertung als auch die Wahrnehmung der Zuschauer von vornherein zur Einseitigkeit, weil den Rezipienten schlichtweg die Möglichkeit fehlt, parallele und ähnlich verlaufende Entwicklungen im BRD-Sport, aber auch im internationalen oder im gesamtdeutschen Sport, insbesondere was die "Schattenseiten" des Leistungs- und Spitzensports betrifft, zu kontrastieren. Diese Schwäche des Films tritt um so deutlicher zutage, je mehr er sich in der historischen Rückschau dem Ende der DDR nähert und die sportwissenschaftlichen und staatspolitischen Mißbräuche des Leistungssports ins Blickfeld rückt, ohne dieser mitunter bizarren und befremdlichen Entwicklung die entsprechenden Regulations-, Manipulations- und Renommiersysteme des Westens gegenüberzustellen, wie sie noch heute im Hochleistungssport wirkmächtig sind.

"Für den Westen ist die DDR eine kommunistische Diktatur, für den Osten die Bundesrepublik ein Hort von Imperialisten und Altnazis", heißt es zu Beginn der Dokumentation. Heinz-Florian Oertel, die prägende Reporterstimme des Ostens, bringt es auf den Punkt: "Die Bundesrepublik wuchs mit dem Marshallplan auf, und die westamerikanische Politik hatte größtes Interesse, ein neues starkes Bollwerk gegen den Osten zu haben. Und wir in der DDR waren die ersten Vasallen der sowjetischen Politik."

Während etwa im BRD-Sport ein altgedienter Nazi-Reichssportführer wie Karl Ritter von Halt als westdeutscher NOK-Chef (1951 bis 1961) wieder in Amt und Würden kam, wurde der Sport in der DDR personell, organisatorisch und gesellschaftspolitisch einem radikalen Wandel unterzogen.

"Sport wurde unheimlich gefördert, mehr als alles andere", erzählt der Boxer Wolfgang Behrendt, der 1956 bei den Olympischen Spielen in Melbourne, damals noch in einer gesamtdeutschen Mannschaft, die erste Goldmedaille für den DDR-Sport errang. Auf Initiative von Walter Ulbricht, dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, wurde in den frühen 60er Jahren zunächst der Breitensport sehr stark gefördert. Zum Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Grundordnung nutzte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) auch den Sport, denn "ohne Sport wird der Staat die Jugendlichen nicht erreichen und für den Sozialismus gewinnen", wie Zeitzeuge Hans Modrow, letzter Ministerpräsident der DDR, das Kalkül der Verantwortungsträger beschreibt. Die Sportförderung wurde sogar gesetzlich verankert.

In Leipzig entstand 1950 die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK), an der bis zur Wende 14.000 Sportlerinnen und Sportler studierten. "Eine solche Hochschule hat Deutschland bis heute nicht", schwärmt Radsportlegende Gustav-Adolf "Täve" Schur, zweimaliger Gewinner der prestigeträchtigen Friedensfahrt in der DDR. Leipzig war auch Veranstaltungsort grandioser Massensportspektakel wie des Deutschen Turn- und Sportfestes. 1952 wurde die erste Kinder- und Jugendsportschule (KJS) nach sowjetischem Vorbild gegründet. Kaum anders als heutige "Eliteschulen des Sports", nur weitaus systematischer und umfänglicher, wurden Sport und schulischer Unterricht koordiniert und die Athleten auf eine Karriere im medaillenträchtigen Hochleistungssport vorbereitet. Wer in eine KJS aufgenommen werden wollte, hatte zuvor einen Sichtungs- und Eignungstest des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) zu bestehen, der 1957 gegründeten und vom ZK der SED angeleiteten Massenorganisation des DDR-Sports. Kinder wurden schon sehr frühzeitig unter Eignungsaspekten für den Leistungssport vermessen und begutachtet. Ebenso wie die KJS dienten die 1965 eingeführten Kinder- und Jugendspartakiaden - vergleichbar mit Bundesjugendspielen in Westdeutschland - dazu, Breiten- mit Leistungssport zu verbinden, das Leistungsstreben zu fördern und Hochtalente aller Altersklassen zu entdecken. Erstaunlicherweise spart die Dokumentation den Hinweis aus, daß 21 KJS in der Sport- und Schullandschaft der Nachwendezeit als "Eliteschulen des Sports" aufgegangen sind.


Ein großes Portrait und viele weitere Materialien - Foto: © 2017 by Schattenblick

ARTE-Pressestand
Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Film dokumentiert die Bemühungen der Staatsführung, auf allen gesellschaftlichen Ebenen für eine Förderung des Sports zu sorgen, da er nicht nur zur Identifikation nach innen, sondern auch und in zunehmendem Maße für die Außendarstellung und staatspolitische Anerkennung der DDR während des Kalten Krieges dienen sollte. Um der westdeutschen Hallstein-Doktrin (1955-1969), die den Abbruch diplomatischer Beziehungen zu Ländern erzwingen wollte, die nämliche mit der DDR aufnahmen, und zum Ziel hatte, die als brutale "Diktatur" beschimpfte DDR außenpolitisch zu isolieren, den Wind aus den Segeln zu nehmen, wurden die DDR-Athleten zunehmend als Gallionsfiguren des sozialistischen Systems und zum Beweis seiner Überlegenheit ins Spiel gebracht. Die sportlichen Erfolge und Medaillen brachten der DDR soviel internationale Anerkennung, daß "eben dieser Staat, der in unseren Augen ein Unrechtsstaat war", wie Walther Tröger, letzter deutscher NOK-Präsident resümiert, 1955 gegen den Willen der Bundesrepublik in das Internationale Olympische Komitee (IOC) aufgenommen wurde. 1964 nahm die DDR letztmals in einer gemeinsamen deutschen Mannschaft an den Olympischen Spielen teil. Vier Jahre später in Melbourne wurde nicht mehr Beethoven, sondern die Becher- Hymne zur Hanns-Eisler-Melodie "Auferstanden aus Ruinen..." bei den Siegerehrungen gespielt.

nicht darauf verzichtet, auch westliche Anfeindungen, denen die "Diplomaten im Trainingsanzug", wie die DDR-Sportler auch genannt wurden, ausgesetzt waren, aufs Tapet zu bringen. Die DDR-Fahne mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, im Westen als "Spalterflagge" verschrien, galt in der Bundesrepublik noch bis Ende der 60er Jahre als verfassungsfeindlich und war verboten. Als sieben Spitzenturnerinnen der DDR 1969 in Mainz ihr Können demonstrierten, marschierte ein Trupp von Verfassungsschützern in den Saal, riß die DDR-Fahne von der Wand und ließ das Schauturnen platzen. Die damals anwesende Doppelweltmeisterin Erika Zuchold berichtete auch von Eierwürfen aus dem Publikum während internationaler Turnwettbewerbe. Dem auch heute noch oft zu hörenden Vorwurf, die DDR-Athleten seien allesamt staatspolitisch vereinnahmt gewesen, hält sie ein anderes Selbstverständnis entgegen: "Wir haben eben für unsere Anerkennung als Land, als DDR gekämpft damals und waren Diplomaten im Trainingsanzug. Und ich fand das gut, ich fand das richtig. Das ist mein Land, ich habe die Ausbildung bekommen, ich bin da aufgewachsen."

"In den 70er und 80er Jahren wird die Betreuung der Sportler immer perfekter. Nationalkaderbetreuung rund um die Uhr", heißt es im Film. In einer Presseinfo von ARTE liest man, die privilegierten DDR- Athleten hätten für ihre idealen Trainingsbedingungen einen Preis zu zahlen gehabt: "Die Sportler waren kontinuierlicher Bespitzelung ausgesetzt und gezwungen, sich einem militärisch organisierten Trainingssystem unterzuordnen. In solch einem System von Befehl und Gehorsam wurde die Einnahme von Dopingmitteln von den zumeist noch sehr jungen Athleten kaum kritisch hinterfragt."

Hier übernehmen die Filmemacher in der Tat immer stärker eine Sichtweise, wie sie sich mit einseitiger Betonung von "Doping und Stasi" erst nach Ende der Blockkonfrontation im Zuge der "Abwicklung der DDR" sowie ihrer Delegitimierung durch den Siegerstaat entwickeln konnte. "Unterordnung, Einordnung - schon von kleinauf militärische Führung", sagt Hans-Georg Aschenbach, erfolgreicher DDR-Skispringer der 70er Jahre. Den DDR-Sport als Gehorsamssystem darzustellen, unterschlägt, was dem Leistungs- und Hochleistungssport seit jeher wesenseigen ist, nämlich knallharter Leistungsvergleich, der ohne eine repressive Struktur nicht denkbar wäre. Hans-Georg Aschenbach selbst hatte den Leistungssport einmal als das einzige System in der DDR bezeichnet, das kapitalistisch regiert werde, weil es gnadenloser Leistungsdruck nach dem Motto "friß oder stirb, wer verliert, der verschwindet, wer siegt, ist ganz oben" sei.

Der im Film ausführlich zu Wort kommende Handball- Nationalmannschaftskapitän Wolfgang Böhme, der sich heute damit rühmt, bei der WM 1978 in der "Nacht der Bierdosen" die Taktik der Russen an den Klassenfeind BRD verraten zu haben, was einer kürzlichen Buchveröffentlichung mit ihm im Mittelpunkt sicherlich nicht abträglich ist, war nach einer angekündigten Republikflucht, die die Staatssicherheit ausspioniert hatte, aus dem Spitzensportsystem der DDR ausdelegiert worden. Die BRD-Auswahl mit Heiner Brand, Kurt Klühspieß und anderen wurde damals Weltmeister. Welches Zuchtregiment bei den im Film als "Feierabendhandballer" bezeichneten Eleven des damaligen Bundestrainers Vlado Stenzel herrschte, beschrieb der heute ebenfalls als Bundestrainer arbeitende Heiner Brand in einem Spiegel- Interview wie folgt: "Wir hatten fast Angst vor ihm." Stenzel hätte auch sagen können, "rennt gegen die Wand - und wir wären gegen die Wand gerannt. Niemand wagte, gegen ihn aufzumucken". Der Chefarzt des Deutschen Handballbundes, Dr. Berthold Hallmaier, meinte einmal bei einer Ärztetagung: "Unter Vlado Stenzel war Training auch ein Stü ck Körperverletzung." Heiner Brand führt sein schweres Rückenleiden übrigens auch auf den Trainingsdrill von "Magier" Stenzel zurück.

So wenig, wie staatliche Medaillenvorgaben, Gehorsamseinschulungen und die vielen Formen und Ausprägungen der Körperausbeutung im Hochleistungssport Erfindungen der DDR darstellen, so wenig gilt dies auch für die Entwicklung erlaubter oder unerlaubter Mittel der Leistungssteigerung im Bereich der Pharmazie und Technik. Das sportliche Wettrüsten wurde und wird überall auf der Welt mit Hochdruck betrieben. Zu Recht weist Hans Modrow darauf hin: "Wer über Doping diskutiert in der Vergangenheit, soll ihn international diskutieren und nicht auf ein Land. Und wer heute über Doping diskutieren will, soll es genauso international tun. Es ist ein Problem des internationalen Sportes und zu keiner Zeit des Sportes eines Landes gewesen."

Als das mit Oral-Turninabol - ein DDR-eigenes Anabolikum, das im Rahmen des unter der Bezeichnung Staatsplanthema 14.25 organisierten Dopingprogramms von Trainern und Sportärzten den Athleten, teilweise ohne ihr Wissen, verabreicht wurde - anfing, hätten das andere längst gehabt, berichtet Täve Schur. "Die Amerikaner hatten das, auch im Westen der Republik, heute Deutschland, war das schon gang und gäbe."

Auch der heutige Bundesinnen- und -sportminister Wolfgang Schäuble (CDU) unterstützte die medikamentöse Leistungsmanipulation laut einem Protokoll von 1977 aus dem Bundestagssportausschuß: "Wir wollen diese Mittel nur sehr eingeschränkt und nur unter der absolut verantwortlichen Kontrolle der Sportmediziner einsetzen, weil es offenbar Disziplinen gibt, in denen ohne den Einsatz dieser Mittel in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann."

Statt den breiten Spuren nach Bonn oder Freiburg nachzugehen, was dem Zuschauer die Augen öffnen könnte, wie haltlos die einseitige und pauschale Verurteilung des DDR-Systems ist, das mit preußischer Gründlichkeit die Vergabe "unterstützender Mittel" notiert hat, so daß sich daraus nun Historiker und Journalisten mit starrem Westblick berufliche Existenzen als "Aufklärer" aufbauen können, führt der Film ins Abseits jener DDR-Dopingopfer-Fraktion, die sich aufgrund des 2002 vom Deutschen Bundestag in Windeseile verabschiedeten "Dopingopfer- Hilfegesetzes" als staatlich anerkannt ausweisen dürfen. Antragsteller aus den alten Bundesländern waren damals unberücksichtigt geblieben. Um die monokausale Formel 'Unterstützende Mittel = Doping = Körperschaden' zu Lasten der DDR nicht in Frage stellen zu müssen, ließ der Gesetzgeber gegenüber den Antragstellern verblüffende Großzügigkeit walten. "Zur Anerkennung eines erheblichen Gesundheitsschadens genügt die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges mit der Verabreichung von Dopingsubstanzen", heißt es im Gesetz.


Besucher stehen in Gruppen zusammen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Kleiner Umtrunk nach dem Film im Foyer
Foto: © 2017 by Schattenblick

Wie Filmautor Albert Knechtel beim Preview in Berlin bestätigte, wollte er DDR-Dopingopfer Ines Geipel unbedingt dabeihaben. Anders als ihre Staffelkolleginnen hatte die ehemalige Vereinsweltrekordlerin die 1984 mit der Staffel des SC Motor Jena aufgestellte Bestmarke später zurückgegeben. Sie wurde laut sportal.de [1] vom Bundesverwaltungsamt als Doping-Opfer des DDR-Sports anerkannt und bat laut wdr.de [2] am 28. Juli 2005 den Deutschen Leichtathletik-Verband um Streichung ihres Namens aus der Rekordliste, da sie ihren Rekord nur durch unfreiwillige Einbindung in das ostdeutsche Zwangsdopingsystem erreicht habe und er das Resultat einer Körperverletzung sei. Der Verband stand diesem Ansinnen anfangs ablehnend gegenüber. Nach Androhung von juristischen Schritten durch Geipel wurde im Mai 2006 ihr Name durch ein Sternchen ersetzt.

Wie der Schattenblick erfuhr, soll sich Mitautorin Dr. Christine Schönfeld vom MDR Leipzig heftig gegen die Mitwirkung von Ines Geipel im Film gewehrt haben. Weil Schönfeld nicht stattgegeben wurde, stieg sie kurz vor Fertigstellung der Dokumentation aus. Da auch andere ranghohe Sportfunktionäre der DDR ihre Mitarbeit bei der Dokumentation trotz vorheriger Gespräche mit der Filmleitung abgelehnt hatten, liegt die Vermutung nahe, daß sie den Komplex DDR-Sport durch Filminhalt und -konzeption nicht angemessen repräsentiert sahen.

Auch Ines Geipel räumt ein, daß überall auf der Welt gedopt wurde, aber nirgends sei dies so systematisch und ausgeklügelt wie in der DDR erfolgt. Bei allen Anwürfen gegen das kollektiv in Haftung genommene DDR-System, das bestimmt nicht frei von Fehlern war, wird jedoch stets verhohlen, daß in der kapitalistischen Staatenwelt der sich als Freiheit tarnende Zwang, sich zwecks Überlebenssicherung den Bedingungen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion unterwerfen zu müssen, in Form von Eigenverantwortung und individualisierter Schuld in Erscheinung tritt. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich nicht die sportpolitischen Funktionsträger des kapitalistischen BRD- Sports gerade deshalb wie die Unschuld vom Lande gerieren und von systemischer Schuld freisprechen können, weil sie es den Individuen überlassen, sich in privaten Zirkeln und über verdeckte Kanäle mit Dopingmitteln zu versorgen. Wenn die Athleten dann erwischt werden, war das "ihre" persönliche Wahl - der Staat und seine sportpolitischen Verantwortungsträger, die das kommerziell forcierte sowie soziale und materielle Reize wie Abhängigkeiten schaffende Leistungsregime im Spitzensport in keiner Weise in Frage stellen, sind indessen fein raus und können noch dazu mit dem Finger auf die "Sünder" und "Betrüger" zeigen.

Mehr noch, mit dem Ende der Blockkonfrontation haben sich auch die politischen und ideologischen Feindbilder gewandelt. Die Gleichsetzung von Außen- und Innenpolitik treibt den herrschaftlichen Keil nach innen und produziert soziale Feindbilder, die im zunehmenden Maße dem Abbau von Bürgerrechten dienen. Im Kielwasser der repressiven Weltinnenpolitik treibt auch der globalisierte Anti-Doping-Kampf, der in massiver Weise die Grundrechte der Athleten einschränkt und ein flächendeckendes Kontroll- und Überwachungsregime etabliert, das in dieser Form dem DDR-System vollkommen fremd war.

Von diesem Schikanesystem erzählt der Film ebensowenig wie er unterschlägt, daß die sportmedizinische und -wissenschaftliche Forschung der DDR in vielerlei Hinsicht die Entwicklung der Sportwissenschaft in Deutschland, insbesondere im Bereich der Trainings- und Bewegungswissenschaften, beflügelt und in Teilbereichen sogar vorweggenommen hat. Das vielfach auch als geheime Dopingschmiede abqualifizierte Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) in Leipzig wurde nach der Wende in das Institut für angewandte Trainingswissenschaft (IAT) umgewandelt und war neben dem Doping- Untersuchungslabor in Kreischa und dem Institut für Sportgeräte und Sportstättenbau in Berlin Teil der im Einigungsvertrag festgeschriebenen Erbmasse, aus der sich bundesdeutsche Politiker und Funktionäre nach Kräften bedienten, um ebenfalls Gold zu schmieden, während sie gleichzeitig den Stasi- und Dopingstab über die Goldmacher der DDR brachen. Auch diese zum Himmel stinkende Verlogenheit erzählt der Film nicht.

Das nach 1990 gern als "DDR-Kaderschmiede" verspottete, dann für ein Heidengeld zu einer der modernsten Trainingsstätten des deutschen Spitzensports umgebaute Sportzentrum Kienbaum nahe Berlin wird heute als internationales Referenzzentrum gepriesen. "Ich muss jetzt eine Dankesrede an das ZK der SED halten, dass man dieses Trainingszentrum hier gebaut hat", ließ Jürgen Mallow, Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), unlängst wissen. In Kienbaum wurde ab 1979 in den geheimen Unterdruckkammern auch Höhentraining simuliert. Seit diesem Jahr steht dort eine Kältekammer, die ebenfalls zur Leistungssteigerung der Athleten dient. "Kryotherapie" nennt sich diese Form des Gefrierschock-Dopings, die nicht auf der Dopingliste steht - wie gut, daß Doping ein interessensgeleitetes Definitionsprodukt darstellt.

Die Goldmacher der kleinen DDR haben sich in den Augen des Westens nicht deshalb schuldig gemacht, weil sie auch mit unterstützenden oder staatsautoritären Mitteln den sportlichen Erfolg suchten, sondern weil es ihnen tatsächlich gelungen war, den Systemwettstreit auf dem Gebiet des Sports gegen die Großmächte zu gewinnen. Das ist den Funktionseliten und größten Nutznießern des Kapitalismus, der von einer Systemkrise in die andere stürzt und dabei viele Menschen mit in den Abgrund von Kriegen und sozialer Deklassierung reißt, bis heute ein Dorn im Auge.


Eingang zum Veranstaltungsort - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Geipel verlangt Rente für DDR-Doping-Opfer (Memento vom 20. Februar 2009 im Webarchiv archive.is). In: www.sportal.de, abgerufen am 11. Februar 2016.

[2] Ines Geipel erzwingt Streichung aus Rekord-Liste. In: www1.wdr.de, 5. Mai 2011, abgerufen am 11. März 2016.


25. September 2009


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