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KOMMENTAR/265: Gefahr für die Freiheit - ist erst die Technik bereit ... (SB)



Den Vogel der Beschwichtigung schoß die Frankfurter Allgemeine Zeitung ab. Nachdem die Meldung die Runde gemacht hatte, bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio würden die Wettkampfstätten erstmals in der Olympia-Geschichte mit automatisierter Gesichtserkennungs-Technologie ausgestattet, kommentierte das Blatt: "Gut, dass die nächsten Spiele in Japan stattfinden. Und nicht etwa in einer Diktatur wie China, deren Ziel es ist, die Bevölkerung mit technologischer Überwachung in gläserne Menschen zu verwandeln." [1]

Gut, daß es die FAZ gibt, die eine konservativ-liberal gestimmte Leserschaft, alten politischen Kontrastbildern folgend, offenbar glauben machen kann, daß der gläserne Bürger in Diktaturen unterdrückt und in Demokratien - ja, was eigentlich - zur selbstevidenten Überwachung "befreit" wird? Wird dies die zukünftige Propagandalinie sein, daß westliche Staaten die Daten ihrer Bürger "gebrauchen" und zu ihrem Nutzen anwenden, während autoritäre Regime die Daten "mißbrauchen" und zum Nutzen des Staates zweckentfremden?

Wie die japanische Nachrichtenagentur Kyodo mit Verweis auf Sicherheitspläne des Organisationskomitees berichtete, werden Athleten sowie Offiziellen und Journalisten ("games staff") nach der Abgabe ihrer Fotos in eine Datenbank spezielle Ausweise mit IC-Chips ausgehändigt, mit denen die Gesichtserkennungstechnologie die Identität der Personen, die die Spielstätten betreten, automatisch überprüfen kann. Von der Gesichtserkennung sollen Zuschauer ausgenommen sein, die anstelle dessen mit Röntgen- und Metalldetektoren auf Waffen und Gefahrenstoffe untersucht werden sollen. Um die "fortschrittlichen technischen Maßnahmen" schmackhaft zu machen, wird die Gesichtserkennung für die Sportlerinnen und Sportler damit gerechtfertigt, daß durch die verkürzte Wartezeit an den Kontrollstellen der Streß für die Athleten verringert werde und mögliche Hitzeschläge während der feuchten Sommermonate vermieden würden. [2]

Wie sehr sich der japanische Staat doch um das gesundheitliche Wohl der Athletinnen und Athleten zu kümmern scheint. Daß diese Musterdemokratie gerade dabei ist, die eigene Bevölkerung, die aufgrund der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 aus den strahlenverseuchten Gebieten geflohen war, mit Drohungen, Täuschungen und Versprechungen wieder zurück in die nach wie vor kontaminierten Regionen zu verfrachten, muß wohl auf einem anderen Blatt stehen. Erst kürzlich hatte Greenpeace Japan vor einer Rückkehr nach Fukushima gewarnt, da die Strahlenbelastung dort zum Teil hundertfach über den internationalen Grenzwerten liege. [3]

Zweifellos liegt es im Bestreben der japanischen Regierung, als Gastgeber der Olympischen und Paralympischen Spiele 2020 in Tokio der Welt vorzugaukeln, man habe alle Probleme technisch im Griff. Das gilt auch für die ausländischen Gäste. Seit November 2007 müssen sich alle Ausländer ab einem Alter von 16 Jahren bei der Einreise fotografieren und ihre Fingerabdrücke abnehmen lassen. Ende 2016 sind dann auf 156 Flughäfen und Häfen im gesamten Inselreich Gesichtserkennungssysteme installiert worden, die das Gesicht von Ausländern bei der Einreise automatisch mit denen von international registrierten Terrorverdächtigen abgleichen. Bislang hatten Beamte der Einreisebehörde die Bilder noch manuell mit denen von Terrorverdächtigen abgeglichen.

Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro war die Identifizierung der Personen, die die Veranstaltungsorte betraten, an dafür vorgesehenen Kontrollanlagen durchgeführt worden, die die Ausweise mit ihren Gesichtsfotos auf einem Bildschirm zeigten, während das Sicherheitspersonal und andere Beamte jede einzelne Person in Augenschein nahmen. Das habe zu Verzögerungen geführt, was einige der Beteiligten frustriert haben soll - heißt es nun in der japanischen Hofpresse, so als ob "Frust" oder "Streß" der entscheidende Grund für die Etablierung der biometrischen Gesichtserkennung wäre. Tatsächlich stellen sportliche Großveranstaltungen ideale Testfelder für Technologiekonzerne und staatliche Forschungsinitiativen dar, um neueste Sicherheits- und Überwachungstechnologien erproben und weiterentwickeln zu können, so daß sie später massentauglich für alle möglichen Anlässe eingesetzt werden können.

Daß nun auch Reporter und Journalisten in den zweifelhaften Genuß der automatisierten Gesichtskontrolle kommen werden, dürfte der weltweiten Entwicklung zur flächendeckenden Biometrie einen weiteren Schub verleihen, denn gerade im professionellen Leistungs- und Wettkampfsport hat sich die Sportjournaille bislang noch immer als verläßlicher Partner des Überwachungsstaates erwiesen. So halten nahezu alle MedienvertreterInnen die grundrechtsabschneidenden Kontroll-, Überwachungs- und Meldeauflagen von Athleten im Anti-Doping-Kampf für alternativlos, weil sonst der moderne Schneller-Höher-Weiter-Sport, an dem sie berufsständisch partizipieren, in seiner jetzigen Form nicht aufrechtzuerhalten wäre. Konnten die Journalistinnen und Journalisten bislang immer noch so tun, als seien sie nicht betroffen, geraten sie nun selbst ins elektronische Visier des automatisierten Generalverdachts. Und sie werden vermutlich auch das schlucken.

Mag ja sein, daß chinesische Polizisten bereits Brillenkameras zur Gesichtererkennung und zu blitzschnellen Fahndungsabgleichen testen, während man in Deutschland noch "Bodycams" für Polizisten erprobt oder am Berliner Bahnhofseingang Gesichtserkennungssoftware auf ihre technologische Einsatzfähigkeit überprüft. Vordergründig geht es immer nur um technische Effizienzgewinne: Wartezeiten verkürzen, Treffergenauigkeiten erhöhen, Lücken im Überwachungsnetz stopfen, den Kontrolleuren oder der Polizei die Arbeit erleichtern. Mannheim hat als erste Stadt in Deutschland sogar damit begonnen, "intelligente Kamerasysteme" zu installieren, die das Bewegungsverhalten der Bürger nach verdächtigen, sprich potentiell kriminellen Verhaltensweisen sondieren sollen. Sobald der Algorithmus "untypische" Bewegungen registriert, geht bei der Polizei eine Lampe an. Im Bedarfsfall soll dann eine Streife losgeschickt werden. Als "Vorteil des Systems" wird gepriesen, daß die Polizei jetzt nicht mehr nonstop auf die Bildschirme blicken muß. [4] Die affirmative Kritik daran lautet, daß die Technik noch viel zu unausgereift sei, als daß sie treffsicher und lückenlos funktionieren würde.

Wer weiter als die Law-and-order-Politiker und Vertreter der Sicherheitsunternehmen denkt, dem wird auffallen, daß sich die panoptischen Überwachungssysteme nicht nur in China, sondern auch in Deutschland oder Japan gegen alles richten, was die reibungslosen Abläufe der von Staat und Kapital repräsentierten Verwertungsordnung stören könnte und dementsprechend markiert, indexiert, illegalisiert oder kriminalisiert wird.

In Japan haben Staat und Wirtschaft zum Beispiel das Interesse, daß die Bevölkerung nach dem anhaltenden Fukushima-Gau die Kerntechnologie wie auch das anschließende "Katastrophenmanagement" nicht grundsätzlich in Frage stellt. Noch bevor eine Reihe von Atomkraftwerken wieder hochgefahren wurde, verabschiedete die rechtskonservative Regierung um Premierminister Shinzo Abe Ende 2013 ein "Gesetz zum Schutz bestimmter Geheimnisse", das Beamte, Abgeordnete oder Journalisten im Namen der "nationalen Sicherheit" mit Gefängnisstafen von bis zu zehn Jahren bedroht, wenn sie Informationen mit Bezug auf Verteidigung, Diplomatie, Spionageabwehr und Terrorismusbekämpfung weitergeben. Das Geheimhaltungsgesetz ist so vage formuliert, daß es einem gezielten Einschüchterungsversuch gegenüber kritischen Medien und Whistleblowern gleichkommt. Journalisten laufen sogar Gefahr, inhaftiert zu werden, wenn sie Informationen suchen, von denen sie noch nicht einmal wissen, daß sie als "geheim" eingestuft werden.

In Zusammenhang mit den Olympischen Spielen könnten Informationen, die die Atomtechnologie und die vielen Vertuschungsmanöver der Regierung und des privaten Atomkraftwerkbetreibers Tepco betreffen, schnell als außen- oder sicherheitspolitisch relevant eingestuft werden - was dann auf eine vorauseilende oder staatlich angeordnete Zensur der heiklen Informationen hinausliefe.

Durch die automatisierte Gesichtserkennung könnten unliebsame Journalisten oder Informationsträger brisanter Informationen schneller und effektiver als bisher mit zentralen Verdachts-, Täter- oder Fahndungsdateien abgeglichen und aus dem Verkehr gezogen werden. In Deutschland sollen beispielsweise nicht nur die Polizeien, sondern ab Mitte 2018 auch die Zoll- und Steuerfahndungsdienste sowie Ordnungsämter Zugriff auf die biometrischen Personalausweisdaten erhalten, etwa um leichter Verkehrsordnungswidrigkeiten verfolgen zu können. Fahndungsaufrufe über das Internet und soziale Netzwerke, wie sie von Polizei und Ermittlungsbehörden bereits heute lanciert und von den Medien bereitwillig aufgenommen werden (u.a. infolge der G20-Proteste), sind die weiteren Vorboten einer Entwicklung, die demokratische Errungenschaften wie "Privatsphäre", "Unschuldsvermutung" oder "Meinungsfreiheit" zu Gunsten entgrenzter Formen elektronischer Öffentlichkeitsfahndung für immer ins Reich der Geschichte verweisen.

Noch sind einige technisch-technologische sowie rechtliche Hemmschwellen zu überwinden, doch wie die rasche Umsetzung neuer Geheimdienstbefugnisse nach dem NSA-Skandal gezeigt hat, können bürgerliche Grund- und Freiheitsrechte auch in Deutschland jederzeit durch übergeordnete "Sicherheitsinteressen" eingeschränkt werden. Das bayerische Polizeigesetz, das wahrscheinlich im Sommer in Kraft tritt und als Vorbild für ein bundesweites Musterpolizeigesetz gilt, ist so extrem, daß Juristen vom härtesten Polizeigesetz in Deutschland seit Ende des Nationalsozialismus sprechen. Ohne eine konkrete Gefahr nachweisen zu müssen, kann die Polizei beispielsweise das Post- und Telekommunikationsgeheimnis aller Bürger außer Kraft setzen. Zudem ist für friedliche Demonstrationen die automatisierte Gesichtserkennung geplant. Wer mit dem Finger auf Japan zeigt, um über China zu reden, der sollte erst einmal von Deutschland sprechen!

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/olympia-2020-automatisierte-gesichtserkennung-in-tokio-15515537.html. 29.03.2018.

[2] https://english.kyodonews.net/news/2018/03/442b47dc41b0-facial-recognition-to-make-olympic-debut-at-2020-tokyo-games.html. 27.03.2018.

[3] http://www.greenpeace.org/japan/ja/news/press/2018/pr201803011/

[4] https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.pilotprojekt-in-mannheim-intelligente-kameras-gegen-die-strassenkriminalitaet.f139ca5b-8eb2-4de0-86b8-3907618ad80a.html. 15.02.2018.

10. April 2018


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