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KOMMENTAR/211: Sicherheitslabor WM, globale Blaupause? (SB)


Schock und Einschüchterung bei der FIFA-WM in Brasilien: Polizei und Militär halten Sozialproteste am Boden



Im Mai 2013 stellte Bundespräsident Joachim Gauck anläßlich der Deutsch-Brasilianischen Wirtschaftstage in São Paulo klar, daß der weitere Erfolg Brasiliens auch deswegen "für uns" eine Chance sei, "da Brasilien unsere Werte - Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit - teilt und seine wirtschaftliche Potenz in den Dienst auch dieser Werte stellt". [1]

Die berühmten Werte-Nebelkerzen des Bundespräsidenten - jüngst auch wegen seiner weltpolizeilichen Äußerung in die Kritik geraten, man dürfe "den Einsatz militärischer Mittel nicht von vornherein ... verwerfen", manchmal müsse im Kampf für die Menschenrechte auch zu den Waffen gegriffen werden [2] - vermochten die grausame Realität in dem durch tiefe soziale Gegensätze gespaltenen Land nicht zu verbergen. Fast zeitgleich zur gauckschen Predigt brach sich im fußballverrückten Brasilien eine Entwicklung Bahn, die die deutschen und brasilianischen Wirtschaftseliten vollkommen überraschte. Statt sich am Opium der für 2014 angekündigten Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele 2016 zu berauschen, begannen die Menschen, gegen die Kapitalmacht und ihre angeblich so segensreichen Dienste aufzubegehren. Im Sommer vergangenen Jahres erlebte Brasilien die größte Protestbewegung seit mehr als 20 Jahren. Landesweit gingen rund zwei Millionen Menschen auf die Straße, um gegen gestiegene Lebenshaltungskosten, mangelhaftes Gesundheits- und Bildungswesen, astronomische Ausgaben für die Fußball-WM und die militärpolizeilichen Schockoperationen zu protestieren. An vielen Orten kam es dabei auch zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Dabei machte insbesondere die Militärpolizei mit ausgiebigem Waffengebrauch ihrem zweifelhaften Ruf als brutale Schlägertruppe alle Ehre. Selbst ausländische Journalisten wurden Opfer gewaltsamer Übergriffe. Mindestens 13 Menschen sind einer Zählung des Unabhängigen Medienzentrums Rio zufolge während der Proteste an den Folgen von Tränengas oder auf der Flucht vor der Polizeigewalt gestorben, berichtete Amnesty International.

Trotz der Massenproteste gaben sich die FIFA-Bosse und ihre Wirtschafts- und Politikpartner sicher, daß der brasilianische Repressionsapparat mit seinem hochgradig militarisierten Sicherheitskonzept die "Irritationen" bis zur Sommer-WM in den Griff bekommen würde. Dafür wurden die Spielorte in Brasilien praktisch in den Ausnahmezustand versetzt, nachdem bereits seit 2007/2008 mit polizei-militärischen Pazifizierungsstrategien spiele- und tourismuswichtige Favelas erobert und besetzt worden waren. Dabei kamen die UPP genannten "Friedenseinheiten" der Polizei (Unidade de Polícia Pacificadora) und die berüchtigten BOPE-Spezialeinheiten der Militärpolizei (Batalhão de Operações Policiais Especiais, Bataillon für spezielle Polizeioperationen) zum Einsatz. Nicht nur das Wappen der "BOPE" (Totenkopf, in dessen Schädeldecke ein Messer steckt; im Hintergrund zwei gekreuzte Pistolen) läßt die Brutalität erahnen, mit der die paramilitärischen Einheiten ihren Dienst versahen. Auch die offiziellen Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Allein in Rio de Janeiro soll die Militärpolizei im Jahr 2007 1.330 Menschen erschossen haben. 2009, als in Rio damit begonnen wurde, eine drei Meter hohe Abschottungsmauer mit dem Öko-Argument zu bauen, die Ausdehnung der Favelas in die Natur zu verhindern, waren es 1049 getötete Favela-Bewohner. 2012 soll diese Zahl auf 414 gesunken sein, doch Aktivisten gehen davon aus, daß die Statistiken durch veränderte Zählkriterien geschönt wurden. [3]

Die militärpolizeilichen "Befriedungseinsätze" liefen Hand in Hand mit Vertreibungsaktionen, die sich nicht nur gegen die Drogenbanden in den Slums richteten, sondern auch gegen die Armutsbevölkerung, deren karge und oft illegal errichtete Hütten den Gentrifizierungsprogrammen der Stadtplaner zum Opfer fielen. Schätzungen zufolge werden im Zuge der Megaevents über 200.000 Menschen in Brasilien zwangsumgesiedelt oder in die urbanen Außenbereiche verdrängt. Gleichzeitig wurde der Belagerungs- und Ausnahmezustand stetig konsolidiert. Sérgio Cabral, der Gouverneur von Rio de Janeiro, kündigte bereits an, spätestens zu den Olympischen Spielen 2016 die Zahl der Militärpolizisten von 39.000 auf 60.000 zu erhöhen.

Die Rechnung scheint in Brasilien aufzugehen. Zwar sind rund 70 Prozent der geplanten oder versprochenen Infrastrukturmaßnahmen bei der teuersten Fußball-WM aller Zeiten nicht umgesetzt worden, doch deutsche Industrieunternehmen haben beim Verkauf von Sicherheits-, Überwachungs- und Waffentechnik tüchtig Kasse gemacht. Brasilianische Spezialkräfte wurden nicht nur technisch auf Vordermann gebracht, sondern auch strategisch und taktisch. So wurden brasilianische Polizeibeamte durch die private US-Söldnerfirma Academi im städtischen "Anti-Terror-Kampf" unterwiesen. Das ehemalige Blackwater-Unternehmen richtete während des Irak-Krieges zahlreiche Massaker unter der Zivilbevölkerung an und soll auch am Regimewechsel in der Ukraine mitgewirkt haben. Deutsche Dienste gaben brasilianischen Beamten ebenfalls "Nachhilfestunden". Eine Anfrage Der Linken zu Ausbildungsinhalten deutscher Spezialkräfte für die brasilianischen Sondereinheiten BOPE und der DOE (Divisão de Operações Especiais) im Rahmen der Fußball-WM 2014 [4] bestätigte, daß im Herbst 2013 unter Federführung des BKA das Sondereinsatzkommando Hannover "polizeiliche Aufbauhilfe" zur "Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit" in Brasilien geleistet habe, so die Ausdrucksweise von Dr. Günter Krings (CDU), Parl. Staatssekretär beim Innenministerium, der im übrigen Kritik an der Fortbildung mit pauschalen Hinweisen auf die Sicherheit deutscher und ausländischer Fußballfans abwiegelte [5]. Ein Jahr zuvor hatte das Bundesinnenministerium bereits ein Symposium veranstaltet, um polizeiliche und geheimdienstliche Erfahrungen zur Sicherheitsarchitektur von Großveranstaltungen weiterzugeben.

Inwieweit "Deeskalationsstrategien" oder "Präventivzugriffe", wie sie anläßlich der Blockupy-Demonstration 2013 in Frankfurt/Main zur Anwendung kamen, als die Polizei unter dem Vorwurf der "passiven Bewaffnung" u.a. Sonnenbrillen, aufgespannte Regenschirme oder eine plastikverstärkte Baseballkappe zum Anlaß nahm, einen etwa 1000 Menschen zählenden Teil des Protestzuges einzukesseln und zu "separieren" (400 Verletzte in der Folge), nach deutschem Demokratiemuster auch in Brasilien vollzogen wurden, ist nicht bekannt. Fest steht jedoch, daß der größte Polizei- und Militäreinsatz, den das lateinamerikanische Land seit Ende der Militärdiktatur je erlebt hat, dazu führte, daß die Proteste von Umwelt- und Sozialbewegungen sowie FIFA-Kritikern weitgehend niedergehalten werden konnten. Medienberichte über die massiven Einschüchterungs- und Repressionsmaßnahmen von Polizei und Militär anläßlich der WM - nicht nur in den Favelas, sondern auch bei Protestveranstaltungen - legen den Schluß nahe, daß das "Sicherheitskonzept" der brasilianischen Regierung und der Bundesstaaten weitgehend aufgegangen ist. 2013 protestierten in Rio 300.000 Menschen, am Jahrestag der Demos kamen nur etwa 300, berichtete Neues Deutschland. "Viele haben schlicht Angst, hierherzukommen. Sieh Dir diese martialische Polizei an, das steht doch in keinem Verhältnis. Ist das Demokratie? Nein. Freunde haben mir geraten, nicht hierherzugehen, weil die Polizei ohne Vorwarnung Tränengas einsetzt", erklärte ein Demonstrationsteilnehmer [6].

Meldungen über Demonstrationen in verschiedenen Städten Brasiliens zum Auftakt der WM verweisen darauf, daß die Polizei immer wieder geringste oder sogar selbst provozierte Gewaltanlässe ("Gefahrenlagen") nutzte, um mit Tränengas, Schockgranaten und Gummigeschossen auf die Protestierenden loszugehen. Auch mehrere Journalistinnen und Journalisten wurden Opfer von Polizeiübergriffen. Platzverweise, Festnahmen, Razzien, Räumungsaktionen, Internetüberwachung und mit demokratischen Mitteln nicht zu kontrollierende Geheimdienstaktivitäten taten und tun ein übriges, um Brasilien fest im Würgegriff eines Sicherheitsapparates zu halten, der längst Modellcharakter für die Bekämpfung von Protestbewegungen und sozialen Unruhen hat. Was in einem sozialdemokratisch regierten Land wie Brasilien möglich ist, wo die Ordnung von Reichtum und Armut sowie ihre zivil-militärische Sicherung so kraß ins Auge sticht, daß sie selbst von ihren Profiteuren nicht geleugnet werden kann, sollte eigentlich auch in europäischen Metropolengesellschaften möglich sein.

Die nördlich von Magdeburg gelegene Musterstadt "Schnöggersburg", wo Bundeswehr- und NATO-Soldaten inmitten künstlicher Kulissen aus Diplomaten- oder Elendsvierteln, Industriegebiet, Sportplatz, Autobahn, Bahnhof oder Moschee/Kirche auf die Niederschlagung von Aufständen in Städten vorbereitet werden sollen, wie Friedensinitiativen lautstark kritisieren, gibt zu denken. Jüngste Berichte [7] über zivil-militärische "Dual Use"-Strategien im Rahmen von EU-Förderprogrammen, sprich die gezielte Verschmelzung von Polizei- und Militäraufgaben bei der Entwicklung entsprechender Überwachungs- und Repressionstechnik, werfen ein Schlaglicht darauf, daß auch bei der Militarisierung der inneren Sicherheit "FIFA-Standard" herrscht.

Daß die Kritik des Bundestagsabgeordneten der Linkspartei, Andrej Hunko, am zivil-militärischen Expertenaustausch zwischen SEK Niedersachsen und BOPE Brasilien sowie an Bestrebungen der EU, nach dem Strickmuster Brasiliens ähnliche Sicherheitsinitiativen bei Gipfeltreffen oder Sportereignissen zu starten, fast ohne öffentliche Resonanz blieb, zeigt allerdings, daß der an emotionalen und patriotischen Emphasen reiche Sportkonsumentenschlaf immer noch tief und fest ist. Die FIFA und ihre PartnerInnen aus Politik, Wirtschaft und Medien werden es zu nutzen wissen.

Fußnoten:

[1] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/05/130513-Brasilien-Wirtschaftstage.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/aussenpolitik-gauck-auch-zu-waffen-greifen.694.de.html?dram:article_id=289120.
Nach einem Staatsbesuch in Norwegen forderte Bundespräsident Gauck in einem Interview des Deutschlandfunks (14.06.2014) eine größere Bereitschaft zu Militäreinsätzen: Deutschland "steht an der Seite der Unterdrückten. Es kämpft für Menschenrechte. Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen".

[3] http://www.amnesty.ch/de/aktuell/magazin/2014-2/brasilien-die-stunde-der-unzufriedenen. Juni 2014.

[4] http://www.andrej-hunko.de/start/download/doc_download/462-beihilfe-des-bundesministeriums-des-innern-bundeskriminalamt-bundespolizei-inspekteur-der-bereitschaftspolizeien-der-laender-und-bundesamt-fuer-verfassungsschutz-in-die-ausgestaltung-der-sicherheitsarchitektur-der-fussballweltmeisterschaft-der-maenner-2014-in-brasilien

[5] http://www.andrej-hunko.de/bt/fragen/2034-weitere-muendliche-frage-zu-ausbildungsinhalten-deutscher-spezialkraefte-fuer-brasilianische-terrorpolizei-bope-im-rahmen-der-fussball-wm-2014. 05.06.2014.

[6] http://www.neues-deutschland.de/artikel/936793.bilder-einer-ausschreitung.html. 23.06.2014.

[7] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58892. 17.06.2014.

2. Juli 2014